Die Oma einer Bekannten war Galeristin. Irgendwann im Laufe ihrer Karriere lernte sie Roy Lichtenstein kennen, mit dem sie sich so gut verstand, dass er ihr ein Werk von sich schenkte. Es war nicht groß, aber groß genug, um nicht in den handelsüblichen Baumarkt-Bilderrahmen hineinzupassen, in dem sie das gute Stück in ihrem Wohnzimmer aufzuhängen gedachte.
Der Rahmen war also zu klein. Aber auf ein paar Zentimeter kam es bei einem Roy Lichtenstein doch eigentlich auch nicht an (alte Galeristinnen-Weisheit!) – war also vielleicht nicht einfach das Bild zu groß? Kurzerhand also die Nagelschere gezückt, die lag da gerade so praktisch – et voilà, schon passte alles. Das Malheur fiel erst Jahre später auf, als die Mutter meiner Bekannten das Werk mühsam aus dem Rahmen friemelte, um den billigen Baumarkt-Bilderrahmen gegen ein hochwertigeres Stück austauschen.
Die Geschichte kommt mir wieder in den Sinn, als ich durch die 16 Ausstellungsräume des Genfer Musée d'Art et d'Histoire laufe, die der belgische Konzeptkünstler Wim Delvoye aktuell für seine Ausstellung "The Order of Things" bespielt. "Eleganten Vandalismus" nennt er seine künstlerische Praxis – und die hat so gar nichts mit suppenwerfenden Klimaaktivistinnen und -aktivisten und zerbrochenem Sicherheitsglas gemein, wie man im ersten Moment vielleicht meinen könnte. Aber eben ein bisschen mit metallischen Gegenständen, die sich an Stellen von Kunstwerken wiederfinden, wo sie sich eigentlich nicht wiederfinden sollten.
Aneignung kunsthistorischer Stile und Motive
Wim Delvoye wurde 1965 im belgischen Wervik geboren. Er ist nach Ugo Rondinone, der im letzten Jahr das Musée d'Art et d'Histoire bespielte, der vierte Künstler, der für die mehreren tausend Quadratmeter Ausstellungsfläche eine Carte Blanche erhalten hat. Bekannt ist er vor allem für seine Aneignung kunsthistorischer Stile und Motive, um triviale, aber eher unkonventionelle Objekte zu sublimieren, und seine konzeptuell anmutende Ästhetik, die die Kommerzialisierung der Kunst in Frage stellt. Oder kurz gesagt: Er ist ein Provokateur, seine Werke oftmals darauf ausgerichtet, zu schockieren.
Im Jahr 2000 enthüllte er im Museum voor Hedendaagse Kunst in Antwerpen seine mechanische Nachbildung des Verdauungstraktes, die in den Ausstellungsräumen echte Fäkalien produzierte. Seit 1997 tätowiert er Schweine mit Louis-Vuitton-Monogrammen und Figuren aus Disney-Filmen, hat dafür sogar eine eigene "Art Farm" in der Nähe von Peking eröffnet, wo die Tierschutzorganisationen gerne mal eine Auge zudrücken.
Im Vergleich dazu mutet "The Order of Things" geradezu harmlos an. Nur drei Räume, die an ein neuartiges Kuriositätenkabinett erinnern und Juliette Récamier gewidmet sind, der berühmten Ikone der napoleonischen High Society, zeigen ein paar Fotografien von tätowierten Schweinen, dazu kuriose Objekte wie einfache Kisten, die zu Kunstwerken geworden sind, und altägyptische Särge.
Spaß macht es trotzdem, dem kreativen Geist Wim Delvoyes durch die verschiedenen Ausstellungsräume zu folgen: Der Belgier verdreht Nachbildungen antiker Skulpturen, verwandelt sie in Murmelbahnen, lässt faustgroße Metallkugeln eines an den Wänden angebrachten Systems unter metallischem Rattern durch durchlöcherte Werke der Kunstgeschichte schießen, sie fröhlich von Epoche zu Epoche hüpfen, von Rafael bis Warhol, von Cranach bis Picasso.
Fröhliche Pop-up-Ästhetik
Unter den durchlöcherten Werken ist auch ein sakrales Holzrelief aus dem 17. Jahrhundert, das aus Wim Delvoyes ziemlich beeindruckender Privatsammlung stammt. Dort, wo einst der Kopf des Christuskindes war, klafft jetzt ein Loch, durch das eine Kugel rast. Sie macht auch vor dem Leib des heiligen Sebastian nicht halt – obwohl man eigentlich hätte meinen können, das der schon genug zu kämpfen hatte mit den Pfeilen, mit denen ihn Künstlerinnen und Künstler über die Jahrhunderte hinweg immer wieder durchbohrten.
Ebenfalls aus Wim Delvoyes Privatsammlung stammen die 126 Tafeln mit "La Vache qui rit"-Aufklebern, die einem Saal, der den gleichen Titel wie die Ausstellung selbst trägt, eine fröhliche Pop-up-Ästhetik verleihen. Der Belgier ist ein enthusiastischer Sammler von Etiketten der französischen Schmelzkäsemarke mit der ikonischen, lachenden Kuh – und zeigt sie in Genf in Kombination mit vier Vitrinen, die die Münzsammlung des Künstlers mit der des Museums vereinen.
Ausstellungsraum Nummer 16 erforscht den "Horror Vacui", die "Scheu vor Leere". Es handelt sich um eine ornamentale Praxis, die darauf abzielt, die Gesamtheit einer Oberfläche oder eines Objekts vollständig mit Details zu füllen, um die Leere durch Fülle zu ersetzen. Herzstück des Saals bildet eine vollständig gravierte Autokarosserie, die an eine feine Radierung erinnert. Auch Schaufeln und Koffer, historische Helme und Feuerlöscher tauchen hier auf – und werden durch ihre Ornamentik von funktionalen Gegenständen zu museumswürdigen Einzelstücken.
Die Praxis ist typisch für Wim Delvoye – und ruft genau die Fragen hervor, die der Künstler wohl beabsichtigt: Was ist der Kunstgegenstand, was der Gebrauchsgegenstand? Gehört die Schaufel in die Sammlung des Museums – oder ist sie ein Werk des Künstlers? Täuschung liegt dem Künstler. Und deshalb kommt dann doch ein wenig Erleichterung auf, als ich nochmal kurz in die beiden Räume mit den Nummerierungen drei und vier zurückhaste und neben dem durchlöcherten Picasso das Etikett mit dem Wort "Faksimile" entdecke.