Die Ausstellungs-Inszenierung im Münchner Kunstverein direkt in den Arkaden im Hofgarten ist minimalistisch: In den hellen, hohen Räumlichkeiten im ersten Obergeschoss finden sich vier zweiseitige, hüttenartige Holzkonstruktionen mit jeweils einem wohnzimmergroßen Videobild. Und davon architektonisch abgetrennt, am Ende des weißen Kunstlofts, können die Besucherinnen und Besucher ihre Aufmerksamkeit einer meterhohen Beamer-Präsentation plus Installation widmen. Die sehr aufgeräumte Anordnung dieser fünf kurzen, jeweils zwischen sieben und 15 Minuten dauernden Videos der palästinensischen Künstlerin Noor Abuarafeh unter dem Titel "Resistive Narratives" korrespondiert mit deren konzentrierter, akribischer Arbeitsweise.
Nach dem Terroranschlag der Hamas in Israel am 7. Oktober mit über 1400 Toten, mehr als 5400 Verletzten und über 200 Entführten ist die sehenswerte Münchner Schau im Zentrum einer Kontroverse gelandet. Auf ihrem privaten Instagram-Account hatte die Künstlerin einen Link geteilt, den viele im Kulturbetrieb für nicht hinnehmbar halten. Selbst die Forderung, die Ausstellung zu schließen, wurde an den Kunstverein herangetragen, was dieser jedoch ablehnte. Aber dazu später mehr. Zuerst lohnt es sich, noch einmal zu beschreiben, was hier eigentlich zu sehen ist.
Abuarafeh, geboren 1986 in Jerusalem, dort und in Rotterdam lebend und arbeitend, ist eine Spurensucherin und Geschichtenerzählerin. Die meisten der hier präsentierten Werke zeigen sie als präzise, hartnäckige Rechercheurin an konkreten Objekten, die große Fragen verhandelt: Fragen nach dem Erinnern und Vergessen, nach der Konstruktion von Geschichte und von Geschichten. Nicht zuletzt hinterfragt sie den dynamischen Prozess der Produktion und Speicherung von individueller Erinnerung auf der einen und kollektivem Gedächtnis in Museen und Archiven auf der anderen Seite.
Wer spricht?
Die ersten beiden Arbeiten beziehen sich auf ein Foto von palästinensischen Künstlern, das 1985 anlässlich einer Gruppenausstellung im Al-Hakawati-Theatersaal in Ost-Jerusalem aufgenommen wurde. Doch wer sind die abgebildeten Personen? Was wissen wir von ihnen?
Abuarafeh macht sich in "Observational Desire on a Memory That Remains" (2014) auf die Suche nach den Splittern palästinensischer Kulturgeschichte und versucht, die Fotografie zu rekonstruieren. Indem sie – auf Basis ihrer Recherchen – die imaginäre Stimme eines dort abgebildeten und identifizierten Künstlers zu Wort kommen lässt, treibt sie das für ihre Arbeiten typische Spiel mit der Befragung von Geschichte voran: Wer spricht? Wer hat die Macht, Geschichten zu erzählen, vergessene Geschichten? Die Künstlerin?
Auch in der Arbeit "The Magic of the Photo That Remembers How to Forget" (2018), ein paar Schritte weiter, geht es darum, dasselbe fotografische Abbild wie in dem Werk zuvor auf seine historische Wirkmächtigkeit zu prüfen. "Could the photograph possibly fail to remember the event captured?!" raunt die Erzählerstimme aus dem Off. Können wir einem Lichtbild aus vergangenen Zeiten trauen vor dem Hintergrund der immer schon vorhanden Möglichkeit seiner Manipulation für politische Zwecke?
Ein reflexives, textgetriebenes, dokumentarisch orientiertes Durchleuchten
Ein Zeitzeuge wird befragt – seine Antwort ist nicht zu hören. Die Ich-Erzählerin zeichnet langsam ihre Vorstellungen auf Papier. Abuarafehs Videos sind kein visuelles Spektakel, kein experimentelles Vexierspiel. Ihr geht es um ein reflexives, textgetriebenes, dokumentarisch orientiertes Durchleuchten von Bildgeschichten.
So auch in ihrem Stück "The Moon is a Sun Returning as a Ghost" aus diesem Jahr. Abuarafeh macht sich in einem Langzeitprojekt als Kunstdetektivin auf die Suche nach verschollenen Werken palästinensischer Künstlerinnen und Künstlern, die in Ausstellungen zwischen den 1970er-Jahren und 2009 fernab ihrer Entstehungsorte zu sehen waren: Nach dem Ende der Ausstellungen scheiterten Versuche der Rückführung von Werken, unter anderem, weil sie bei der Ausfuhr von den israelischen Behörden nicht registriert worden waren.
In den zehn Minuten dieses Videos geht es nun um 40 Kunstwerke einer Ausstellung im schweizerischen Martigny, deren Aufenthaltsort zu Beginn der Recherchen unbekannt war. Die Kamera zeigt die heute leeren Räume des damaligen Ausstellungsortes. In einer Londoner Lagerhalle fährt die Kamera an Regalstraßen mit IKEA-Ausmaßen entlang, Regale mit verwaisten Kunstwerken. Wäre da nicht ein Gedicht über den Mond, das die Künstlerin zusammenschaltet mit ihrer Spurensuche, könnte man an einen dokumentarischen Kunstkrimi denken. Mit Hilfe des fiktionalen Kurztexts und von Aufnahmen der Mondoberfläche überhöht Abuarafeh das reale Geschehen. Wenn Dinge verschwinden, wie verändert sich dann unsere Erinnerung an sie?
Tiere als Objekte menschlicher Betrachtung
Zoos sammeln Tiere wie naturwissenschaftliche Museen dies auch tun – so die Ausgangsthese in Abuarafehs bekanntester Video-Arbeit, dem unter anderem auf der Venedig-Biennale 2022 ausgestellten Stück "Am I the Ageless Object at the Museum?" (2018). Immer wieder überlagern sich Bilder von Tieren aus Zoos und präparierten Tieren aus Ägypten, der Schweiz und Palästina, während ein Erzähler über Ähnlichkeiten zwischen Tieren und Menschen nachdenkt, darüber, wie die Tiere überhaupt an diese beiden letztlich grausamen Orte gekommen sind.
Krokodile, Nashörner, Insekten: abgewertet zu Objekten menschlicher Betrachtung, zu bloßen Dingen. Und so werden schließlich die klassischen Schausammlungen in Naturkundemuseen Friedhöfen gleichgesetzt, Friedhöfen unbekannter, vereinsamter Lebewesen. Doch wer spricht? Unklar bleibt, ob die Erzählstimme einem Besucher gehört, einem Wissenschaftler, einem Tierpfleger oder der Künstlerin.
Auf zwei Holztischen vor der meterhohen Beamer-Präsentation hat Abuarafeh Gegenstände platziert, die einem privaten Schaukasten entnommen sein könnten. Wertvolle und wertlose Steine, Tierfiguren aus verschiedensten Materialien und Einmachgläser mit geheimnisvoll schimmernden Substanzen, die chemisch interagieren und sich verändern. Bleibt am Ende vom Besuch im Tiergarten nur der Holzelefant aus dem Shop kurz vor dem Ausgang übrig? Als Andenken? Woran?
Künstlerische Grundlagenforschung
Bevor man diesen letzten Abschnitt der Ausstellung betreten hat, erwartet die Besucherinnen und Besucher die einzige Arbeit ohne Ton – ungewöhnlich für die Geschichtenerzählerin Abuarafeh. In "Directions for Intimate Solutions or Seemingly More Intimate" (2013) blicken die Betrachtenden wie durch eine Lochkamera mit starken Vignettierungen auf Schwarz-Weiß-Fotografien.
Die Gruppenbilder, kontrastiert mit modellhaft aufgebauten privaten Gegenständen, zeigen Menschen am Strand, im Garten. Dann wieder im Bildschirm-Vollformat Soldaten, aufgestellt zum Gruppenfoto und Frauen, die auf etwas zu warten scheinen: Nach und nach klebt eine Hand, die ins Bild kommt, jedes einzelne Gesicht mit einem hellen Punkt ab. Um die Personen zu schützen? Um sich selbst zu distanzieren? Um auf Vergänglichkeit hinzuweisen? Oder das Vergessen? Oder die Austauschbarkeit und damit gar Überzeitlichkeit des Gezeigten?
Abuarafehs komplexe, widerständige Narrative gehen von vorgefundenem Material aus. Ausgangspunkt ist häufig ihre konkrete Umgebung, ihre Lebenswelt. Situationen werden analysiert, Fragen gestellt, Recherchen setzen ein. Sie dokumentiert. Dabei bleibt sie nicht stehen. Sie jongliert mit Sprecherpositionen, ihre poetischen Aufladungen überschreiben das Material und setzen es in existentielle Zusammenhänge: künstlerische Grundlagenforschung.
"Eine sehen eine Schließung nicht für eine angebrachte Reaktion für diesen Konflikt an"
Doch dann das: ein Instagram-Post der Künstlerin, veröffentlicht zwei Tage nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober. Wie der Kunstverein München in einem Statement mitteilt, hatte Abuarafeh auf ihrem privaten Instagram-Account einen Post des „Interim Revolutionary Feminist Committee (IRFC), Southern California Chapter“ weitergeleitet. Darin wurden die Hamas-Angreifer unter anderem als "Palestinian Freedom Fighters" bezeichnet – zudem wurde deren massenhafte sexuelle Gewalt gegen Frauen angezweifelt
Davon hat sich der Kunstverein "ausdrücklich und umfassend" Mitte Oktober distanziert. Weiter heißt es in der Mitteilung des Kunstvereins: "Wir sind erschüttert über die Ereignisse und eskalierende Gewalt im Nahen Osten und verurteilen den brutalen Angriff der Hamas-Terroristen aufs Schärfste. Wir verurteilen zudem, insbesondere vor dem Hintergrund unserer eigenen institutionellen Geschichte, entschieden jeglichen Antisemitismus. Unsere Gedanken und Solidarität gilt den Opfern und ihren Angehörigen. Es scheint uns jedoch wichtig zu betonen, dass Palästinenser*innen in Gaza nicht kollektiv für das menschenverachtende Massaker der Hamas verantwortlich gemacht werden dürfen. Unsere Gedanken und Solidarität gilt folglich auch ihren Opfern und Angehörigen."
Forderungen nach sofortiger Schließung der Ausstellung, die den Kunstverein wegen des Posts der Künstlerin auf verschiedenen Wegen erreicht haben, ist er bisher bewusst nicht nachgekommen. Denn der Kunstverein setzt auf ein dialogisches Miteinander auch mit Abuarafeh, das derzeit im Gang ist. "Wir haben uns entschlossen, die Ausstellung zum Zeitpunkt unseres Statements nicht zu schließen, da wir als Kunstinstitution eine Schließung nicht für eine angebrachte Reaktion für diesen Konflikt ansehen und einen differenzierten Dialog mit kritischen und politischen Themen für zentral halten."
"Diesen Dialog auch aushalten"
Und da ist der Kunstverein mittendrin, in einer Stadt mit der größten jüdischen Gemeinde in Deutschland und zivilgesellschaftlichen Gruppen wie beispielsweise der Jüdisch-Palästinensischen Dialoggruppe, in der der Nahostkonflikt seit vielen Jahren Gegenstand von Auseinandersetzungen ist. "Solange es geht im differenzierten Dialog bleiben, diesen auch auszuhalten", dafür setzen sich Maurin Dietrich, Direktorin des Kunstvereins, und Gloria Hasnay, Kuratorin, ein.
Gegenläufige Stimmen äußern zu dürfen, kritische Fragen zu stellen: Diese Freiheit gilt es zu verteidigen. Der zunehmenden Gefahr einer Spaltung auch unserer Gesellschaft etwas entgegensetzen – darum geht es hier. Im Nahen Osten geht es um Leben und Tod.
"When the dream dies, what happens to the dreamer?" fragt Abuarafeh in dieser Ausstellung.