Immersion ist auch nicht mehr, was sie mal war. Die Soloausstellung von WangShui im Münchener Haus der Kunst ergänzt die dortige Gruppenschau "In anderen Räumen" mit zwölf historischen Environments. Eine erhellende Kombination, die zeigt, wie radikal sich die Konzepte von Raum und Körper mit der digitalen Revolution verändert haben. Der Wandel sollte uns aber keine Angst machen, zeigt WangShui in "Toleranzfenster".
"Werden Sie zur Katze", schlägt die Anleitung im Vorraum der Ausstellung "In anderen Räumen" vor. An dieser Stelle muss man auch seine Schuhe ausziehen, der empfindlichen Werke wegen. Auf Strumpfsocken, oft geduckt, häufig wirklich katzenhaft schleichend bewegt man sich durch die Inszenierungen im Erdgeschoss des Münchner Hauses der Kunst, die zwischen 1956 und 1976 von Künstlerinnen geschaffen wurden. Die großartige Schau macht vergessene Raumkunstwerke wieder zugänglich, die teils aufwendig rekonstruiert werden mussten.
Die große Zeit des Environments ist vorbei, der Begriff wird zudem kaum noch benutzt. Seit Beuys spricht man von "Installationen", und das ist nicht bloß ein anderer Begriff, sondern eine andere, eher vergeistigte Welt. Die Enviroments von Lygia Clark, Aleksandra Kasuba, Lea Lublin oder Nanda Vigo sprechen dagegen vor allem die Sinne an.
Die Fühler austrecken
Das Publikum wird weniger zu Reflexions- und Interpretationsleistungen angehalten als dazu, die Fühler auszustrecken, Farben auf sich wirken zu lassen oder auch im Schneetreiben von Federn herumzutollen wie in Judy Chicagos "Feather Room". Manchmal muss man was aushalten: In Laura Grisis Raum "Vento di Sud Est" wird man von Windmaschinen angeblasen. Wer Tania Mourauds Kammer "We used to know" betreten will, sollte sich auf grelles Scheinwerferlicht und starke Hitze gefasst machen.
Man flaniert mit nostalgischen Gefühlen durch die Ausstellung. Wir bewegen uns ja gar nicht mehr so viel, hocken oft vor Bildschirmen. Informationen für Auge und Ohr dominieren, die anderen Sinnesorgane sind unterfordert. "In anderen Räumen" kitzelt es an den Fußsohlen, die Haut fühlt sich Temperaturunterschieden und Wind ausgesetzt, manche Werke riecht man, andere beanspruchen den Gleichgewichtssinn.
Erstaunt reibt sich das Kind der digitalen Revolution die Augen. Man bemerkt plötzlich, wie selbstverständlich die "anderen" anderen Räume geworden sind: Computerspiele, soziale Netzwerke, das World Wide Web, kurzum: das Paralleluniversum des Digitalen.
Virtuelle Räume aufschließen
Insofern lässt sich die Soloschau im Obergeschoss des Museums als Fortsetzung der Environment-Ausstellung beschreiben. Die Schuhe bleiben an den Füßen, denn WangShui, 1986 in Texas geboren, schließt uns virtuelle Räume auf. Neben einer Videoinstallation präsentiert die non-binäre Künstler:in auch eine Reihe von Bildwerken.
Virtualität und auch Immersion sind nichts unbedingt Neues. Kraft unserer Imagination können wir uns schon längst in die künstliche Welt eines Romans, eines Spielfilms oder eines Gemäldes versenken. Im Digitalzeitalter hat sich der Möglichkeitsraum allerdings enorm ausgedehnt. Die Künstlerinnen der "anderen Räume" hatten noch keinen Schimmer von den Algorithmen, die uns Menschen zunehmend die Herrschaft über einen Teil der Realität streitig machen.
Ob wir das nun begrüßenswert oder bedenklich finden: Wir Smartphone-Nutzer und Nutzerinnen leben längst ein second life im Digitalen. WangShui scheint darin weniger ein Problem denn eine Chance zu sehen: Die ausgestellten Werke sind als Kooperation von Mensch und KI entstanden. Genderfluidität ist nur der Anfang. Cyborgisierung ist der nächste Schritt.
Hybride Nachkommen als Tentakelwesen
WangShui malt Bilder. Die Malereien bilden einen Datensatz, den eine KI zu neuen Kompositionen weiterentwickelt. WangShui realisiert die Gemeinschaftswerke dann auf großen Aluminiumtafeln mithilfe von Sandpapier und Ölfarben. Fast unnötig zu erwähnen: Figuration und Abstraktion verschwimmen auf den Bildern, die im Haus der Kunst zu sehen sind. Menschen kommen dort nicht vor.
Ein Champagnerglas oder eine schwarze Limousine mag an die Reality-TV-Shows wie "The Bachelor" erinnern, eine für WangShui wichtige Quelle. Hin und wieder ragen aus den Alu-Bildern skulpturale Tintenfischarme. Sie erinnern an die Aliens in Octavia Butlers literarischer Science-Fiction-Trilogie "Xenogenesis": Tentakelwesen, mit denen Menschen in dieser Zukunftsvision hybride Nachkommen zeugen.
"Certainty of the Flesh" heißt die nach einem Zitat aus Butlers Romantrilogie benannte Videoinstallation. Die mehr oder weniger humanoiden Gestalten, die im digitalen Bildraum auftauchen, interagieren miteinander wie Akteure und Akteurinnen einer außerirdischen Hyperreality-Show. Zugleich handelt es sich um eine Art algorithmischer Allegorie, in der die verschiedene Wesen, die jeweils einem der vier Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft zugeordnet sind, miteinander auskommen müssen – was ihnen, anders als der zurzeit real existierenden Menschheit, auch glänzend gelingt.
Von Algorithmen lernen?
Produziert wurde die digitale Utopie mithilfe von Akteuren und Akteurinnen, deren Bewegungen mit der Motion-Capture-Technik aufgezeichnet wurden. Die Gesamtchoreografie wurde einem Programm namens "Deep Reinforcement Learning" überlassen.
Wer nicht zur Generation der "Digital Natives" zählt, zuckt vielleicht jetzt zusammen. Schulterschluss mit der KI? Ist das noch Kooperation oder schon Kapitulation? Letzteres doch nur, wenn man die Algorithmen als Feind betrachtet. Oder als Atombombe, vor der ausgerechnet die Chefs von OpenAI, dem Unternehmen hinter KI-Programmen wie ChatGPT, vor einigen Wochen gewarnt haben.
WangShui sieht es anders. In der Sendung "Kulturzeit" wurde der Ausstellungstitel "Toleranzfenster" erläutert. Wobei man bei dem, was WangShui sagt, auch immer den Transgender-Hintergrund mitdenkt und den nachvollziehbaren Wunsch, akzeptiert zu werden.
Mit allen Sinnen durch die Welt gehen
Die Menschen müssten den beständigen kulturellen und technologischen Wandel hin- und annehmen, sagt WangShui, schließlich befänden wir "uns auf die eine oder andere Weise immer in einem Zustand des Übergangs". Und weiter: "Je mehr man versucht, das zu kontrollieren, desto mehr Leid und Gewalt entstehen (…) Alles Zwischenmenschliche spielt sich immer um ein Toleranzfenster herum ab. Und spätestens, wenn ein Streit zu einer körperlichen Auseinandersetzung eskaliert, hat man dieses Toleranzfenster verlassen.".
Die Installation "Certainty of the Flesh" lässt sich als Feldversuch lesen, das Toleranzfenster zu erweitern. Von Bewusstseinserweiterung spricht WangShui selbst – im genannten TV-Interview, dabei sei "gleichgültig, ob die Umwelt oder eine Maschine den Anstoß dazu gibt". Aus dieser Perspektive ist es dann auch unerheblich, ob das Spielfeld eines Kunstwerks ein virtuelles oder ein gebautes ist.
Es gibt wohl wirklich kein Zurück zu den Räumen von Lygia Clark, Judy Chicago und Co. (es sei denn, als großartige Rekonstruktion wie in München), aber es wäre schade, wenn mit Gewalt und Krieg in einer zukünftigen Welt auch das Körperliche abgeschafft würde. Angesichts der Geschehnisse in der Ukraine und im Nahen Osten ist der Weltfrieden zwar schwer vorstellbar. Von den Algorithmen lernen, ein Mensch zu sein, kann aber doch nur bedeuten, mit vollem Körperbewusstsein und allen Sinnen durch die Welt zu gehen. Oder zu schleichen und springen. Wenn man gerade eine Katze ist.