Gastbeitrag

Künstliche Intelligenz vs intelligente Kunst?

Viele verstehen KI als Angriff auf das aufklärerische Kunstverständnis. Tatsächlich aber fordern uns ChatGPT & Co. heraus, die Freiheit des eigenen Denkens zu verteidigen. Ein Gastkommentar von Datenwissenschaftler Wolfgang Reuter

Vom Denken zum Sein

Wer über das Verhältnis von Kunst und Künstlicher Intelligenz nachdenkt, muss erst einmal weit in die Vergangenheit gehen. Und sollte idealerweise mit René Descartes beginnen. 1641 formulierte der Philosoph einen der einflussreichsten Sätze der Menschheitsgeschichte: "Cogito ergo sum" – Ich denke, also bin ich. Dieser Satz prägte die Aufklärung und die bis heute im Westen vorherrschende Weltsicht: den Individualismus. In Folge dessen schuf Descartes auch die Grundlage für ein neues Verständnis von Kunst und Künstlertum: Künstler wurden als individuelle Schöpfer über eine Gesellschaft aus namenlosen Individuen gestellt. Es war der Beginn eines Personenkults, wie es ihn in der Kunst bis dato nicht gegeben hatte.

Wer hat die Höhlenzeichnungen der Steinzeit angefertigt? Wer hat die Bibel geschrieben? Wem kamen die Geschichten aus der Ilias und der Odyssee erstmals in den Sinn? Niemand weiß es und es spielte jahrhundertelang auch keine Rolle. Vor der Aufklärung war Kunst sehr viel mehr der kreative Ausdruck eines Kollektivs und nicht eines einzelnen. Mit der Aufklärung änderte sich das dramatisch. Rembrandt war schon im 17. Jahrhundert ein pinselnder Rockstar – und ist es bis heute. Für seine Werke zahlen Liebhaber gerne mehr als 100 Millionen Euro.

Mit der individuellen Wertschätzung des Künstlers ging auch die Sanktionierung jeder Form von Plagiat – auch im noch so banalen Ausmaß – einher. Denn seit der Aufklärung glauben wir tatsächlich daran, dass wir als Individuen ganz alleine und ohne fremdes Zutun etwas Wunderbares schaffen können.

Von der Aufklärung zur KI

Die Aufklärung bereitete aber auch der Künstlichen Intelligenz den Weg: Im Jahr 1750 wollte der Universalgelehrte Rudjer Josip Bošković zusammen mit dem englischen Jesuitenpater und Astronomen Christopher Maire beweisen, dass die Erde keine Kugel, sondern ein abgeplattetes Ellipsoid ist. Zu Recht, wie wir heute wissen. Für die Berechnung der Elliptizität der Erde anhand der Abstände zwischen unterschiedlichen Breitengraden wandten Bošković und Maire intuitiv ein Verfahren an, das wir heute als lineare Regression kennen und das auf der Minimierung einer Kosten- oder Fehlerfunktion basiert. Rund 30 Jahre später wurde die Methode von Carl Friedrich Gauß und Adrien-Marie Legendre mathematisch exakt formalisiert.

In den 1940ern erfanden Mathematiker beim Versuch, Erkenntnisse aus der Neurophysiologie zu modellieren, die neuronalen Netze. Diese bestehen aus einer Kombination sehr vieler linearer Regressionen, kombiniert mit nichtlinearen Aktivierungen. Die neuronalen Netze wurden seither noch an einigen Stellen verbessert, ihre Grundfunktion – die Minimierung einer Kostenfunktion – ist aber bis heute unverändert. Das ist, sehr verkürzt, die Geschichte der Künstlichen Intelligenz.

Von alten Ängsten zu vermeintlichen Revolutionen

Warum aber fürchten sich so viele Menschen vor dieser Technologie, die weder neu noch intelligent ist? Und warum erleben wir gerade jetzt so einen Hype darum?

Eine Antwort könnte sein, dass wir Menschen angesichts großer Neuerungen traditionell zu Weltuntergangsängsten neigen. Von den gesundheitlichen Gefahren durch die Einführung der Dampflok im 19. Jahrhundert über das vermeintliche Ende der Ölvorräte bis zum Jahr 2000 und bis zur anlässlich des Einzugs von Robotern in die Fabrikhallen befürchteten Arbeitslosenquote von 50 Prozent – zum Glück hat sich keines dieser Szenarien bewahrheitet.

Eine andere mögliche Erklärung: Wir fühlen uns durch das Wort "Intelligenz" in Künstlicher Intelligenz in unserer Position als intelligenteste Spezies innerhalb des Ökosystems Erde fundamental bedroht. Meine These: Würde man statt von Künstlicher Intelligenz von optimierter Kostenfunktionsminimierung als einem Teilgebiet der angewandten Statistik sprechen (was ihren Kern viel eher trifft), wäre die Diskussion um diese Technologie sehr viel gelassener. 

Im aktuellen Hype um die KI-Revolution durch ChatGPT zeigt sich ein weiteres Missverständnis. Denn so beeindruckend die Fähigkeiten auch sein mögen – in ChatGPT steckt keine einzige technische Neuerung. ChatGPT steht vielmehr stellvertretend für eine Konsolidierungsphase in der Entwicklung Künstlicher Intelligenz. Die Erfolge von KI in den letzten Jahren basieren alle auf Ideen und Verfahren, automatisch sogenannte Labels zu erzeugen – ohne die keine Kostenfunktion berechnet werden kann. Und diese Verfahren ermöglichen es, die Modelle mit zig Milliarden Wörtern oder Sätzen zu trainieren – und dabei auf das gesamte digitalisierte Weltwissen zurückzugreifen.

Von der KI zum wahren Feind der Freiheit

Und damit zurück zur Kunst: Die generativen KI-Modelle, die eigenständig Kunstwerke schaffen, greifen auf Hunderte von Millionen Bilder und damit (auch) auf das künstlerische Erbe vieler Jahrhunderte zurück. Sie schöpfen aus der Kreativität bekannter wie auch längst vergessener Maler. Sie plagiieren deren Stile, mischen sie freimütig und kupfern so geschickt ab, dass man glaubt, sie hätten etwas Neues geschaffen. Meine blasphemische Frage hierzu: Tun wir Menschen das nicht auch? Raphael hat Leonardo da Vincis Mona Lisa studiert und gezeichnet. Rembrandt hat Raffaels Abendmahl studiert und kopiert. Francis Bacon hat Diego Velazquez imitiert und interpretiert, wie auch Vincent van Gogh. Und was wäre Picasso ohne Cezanne, Degas und Bonnard?

Sind wir also mit Blick auf Descartes und das Künstlerbild der Aufklärung doch nicht so individuell, wie wir glauben? Speisen sich unsere Werke nicht auch vor allem aus den Eindrücken unzähliger anderer Werke? Ist die in der Aufklärung postulierte Freiheit des Individuums am Ende nichts anderes als ein schöner Traum? Meine persönliche Antwort lautet: Nein. Die Freiheit des Individuums ist keine Utopie. Wir Menschen sind in der Lage, Neues zu denken und zu erschaffen – in welch geringem Ausmaß sei einmal dahingestellt.

Doch diese Freiheit ist keine Selbstverständlichkeit. Sie hat einen großen Feind: unsere Bequemlichkeit. Ich sehe keine Bedrohung in Künstlicher Intelligenz – jedenfalls nicht die, dass sie eines Tages intelligenter sein wird als wir selbst und uns beherrscht, versklavt oder vernichtet. Die große Gefahr von Künstlicher Intelligenz – auch in der Kunst – ist, dass wir aus purer Bequemlichkeit denken lassen. Oder auch Kunst erschaffen lassen – möglicherweise nur der Inspiration wegen.

Wir können Künstliche Intelligenz beherrschen. Aber nur wenn wir uns nicht dieser vermeintlichen Intelligenz ausliefern, weil sie uns das Leben scheinbar viel einfacher macht. Und wenn wir uns mit Descartes bewusst bleiben, dass das Denken die Basis unseres Seins ist.