Auch nach der großen Max-Beckmann-Ausstellung bleibt München das Mekka für Malerei. Im Museum Brandhorst haut einen die US-Amerikanerin Nicole Eisenman mit einer solchen Exzellenz aus den Latschen, dass man schwindelig wird. Die Gegenwart schillert auf den bunten Großformaten grell und so auf den Punkt, leicht könnte man vergessen, dass man von dort nur fünf Minuten mit dem Fahrrad fahren muss, um noch etwas anderes, ganz Außergewöhnliches zu entdecken.
Denn im unterirdischen Kunstbau des Lenbachhauses gibt es das "Lebenswerk", so heißt es dort, der Künstlerin Charlotte Salomon zu sehen. Und dieses Lebenswerk blieb traurigerweise das einzige Werk Salomons, es umfasst 769 (!) Gouache-Blätter, die sie innerhalb von nur zwei Jahren in einem wohl rauschartigen Zustand im südfranzösischen Exil angefertigt hat. Sie war damals 23 Jahre alt.
Auf den Bildern erzählt Salomon ihre eigene Geschichte, aufgewachsen in einem großbürgerlichen, kunstinteressierten, jüdischen Elternhaus in Westberlin, es geht um die Liebe, ihre Träume, aber auch die Selbstmorde ihrer Mutter und ihrer Tante und letztlich um die Machtergreifung der Nazis, vor denen die Familie fliehen muss.
Gefangen von ihrer Geschichte und ihrer Ausgestaltung
Salomon erzählt die Geschichte allerdings an ihrem Alter Ego "Charlotte Kann" entlang, und führt so an der Wirklichkeit vorbei immer wieder über Nebenwege und Ausgedachtes. Das voluminöse und zugleich extrafeine Werk heißt allzu passend "Leben? oder Theater?", die Künstlerin nennt es auch "Singespiel".
Neben den getuschten Zeichnungen erwähnt sie öfters Musik, die im Ausstellungsraum auch über Kopfhörer an kurzen Kabeln zugänglich gemacht wird. Vor allem aber hat Salomon Dialoge geschrieben und eine Geschichte, jede Zeichnung begleiten ein paar Sätze. Kurz nachdem sie ihr Werk vollendete, wurde sie in ein Sammellager geschleppt und 1943 in Auschwitz ermordet.
Sobald man einen Schritt in die Ausstellung macht, ist man wie gefangen von der Geschichte, aber vor allem ihrer Ausgestaltung. Öfters wurde ihre Malweise mit dem Expressionismus vergleichen, aber etwas ganz Eigentümliches durchzieht diese lässig hingeworfenen wie unglaublich eleganten, wundersam offenen Blätter. Auf denen sie öfters gleich mehrere Geschichten zugleich unterbringt, die sich überlappen und ineinandermorphen, und doch von einer ganz außergewöhnlichen Klarheit getragen sind.
Die Künstlerin enttarnt sich als Mörderin
Die Wörter schrieb sie ursprünglich auf transparente Papierseiten, die sie mit schmalen Klebestreifen über den Gouache-Zeichnungen befestigte. So ergab sich ein interessanter erzählerischer Effekt zwischen Fabulier- und Bildender Kunst. Später begann sie, direkt in die Zeichnungen hineinzuschreiben. Das erinnert an Szenenbilder von Film- oder Theaterinszenierung, es nimmt nicht nur Graphic Novels vorweg, sie erschafft auch eine Art Memoir-Malerei, die ihrer Zeit voraus ist.
Fast würde man sich wünschen, die Wörter, die sie geschrieben hat, statt sie als Besucher in einem Handbuch zu verfolgen, womöglich über Stecker im Ohr zu hören, auch die Musik könnte so einfließen, während man an den Bildern vorbei und in ihrer Geschichte umherschreitet — um das Einreißen der Grenzen zwischen den Formaten, an dem Salomon ja gearbeitet hat, mit neuester Technik zu verdeutlichen.
Ihr Werk war zu Teilen schon einmal auf der Documenta zu sehen, über ihr Leben gibt es mittlerweile mehrere Spielfilme, in der Münchener Ausstellung wird nun zudem ein Brief Salomons gezeigt, der erst vor zehn Jahren öffentlich wurde, und die Rezeption ihres Werks und ihrer Person verändern könnte. Denn dort, so viel sei verraten, enttarnt sie sich selbst als Mörderin ihres Großvaters, mit einem in Gift getränkten Omelette.