Sieht man Matthieu Blazys gefeierte Kollektionen für Bottega Veneta oder Demnas gehypte Balenciaga-Exzesse, scheint es kaum vorstellbar, dass diese Genies der Modewelt noch nicht immer ein Teil von ihr waren. Doch irgendwann müssen auch sie einmal ihre Abschlusskollektionen designt haben, als zwei unter vielen tausenden Modestudenten. Inspiration finden, ein Konzept entwickeln, zeichnen, Schnittmuster anfertigen, nähen und präsentieren. In der Hoffnung, von den richtigen Personen wahrgenommen zu werden. Eine dieser Personen war im Fall von Blazy und Demna Barbara Franchin.
In Triest geboren, entdeckte Franchin ihre Liebe für Mode und ihre Kreativität zufällig bei dem Kauf eines Kleides zur Feier ihres Schulabschlusses. Seitdem ging sie ihrem Wunsch nach, über die Welt verteilte Modetalente zusammenzubringen und zu unterstützen. Sie gründete mit ITS (International Talent Support) eine Scouting- und Wettbewerbs Plattform und Anlaufstelle für aufstrebende Designerinnen und Designer. Im Jahr 2002 erreichten sie und ihr damals kleines Team die ersten Portfolios junger Absolventen.
Der ITS Contest war geboren, ein globaler Wettbewerb, dessen Finalisten und Gewinnerinnen nicht nur finanzielles Sponsoring bekommen, sondern auch von beruflichen Möglichkeiten und professionellem Mentoring profitieren. Ehemalige Teilnehmerinnen kehren später oft als Jury-Mitglied zurück, unterstützen das Projekt weiter, teilen ihre Erfahrungen mit der nächsten Generation. Der familiäre Gedanke, eine Gemeinschaft mit den gleichen Ideen und Werten zu schaffen, war von Beginn an Franchins Ziel: demokratisch und einladend, so ungewöhnlich für die Welt der Mode wie der Standort Triest.
"Ein Museum, Archiv und Akademie zugleich"
Nach wenigen Jahren fragte ITS neben den Portfolios auch jeweils ein Kollektions-Stück der Finalistinnen an, die Teil des Archivs wurden. Mittlerweile umfasst dieses erste seiner Art 1089 Kleidungsstücke, 163 Accessoires, 118 Schmuckstücke und mehr als 700 Fotoprojekte. Es speist nun auch Franchins neuestes Projekt: Die ITS Arcademy - Museum of Art in Fashion. Ein Museum, ein Archiv und eine Akademie zugleich, das sich nicht in Retrospektiven den Hochzeiten der großen Modedesigner widmet, sondern ihre radikalen und freien Anfänge dokumentiert und feiert.
"Save Creativity!" ist der Leitspruch der ersten Ausstellung "20 Years of Contemporary Fashion Evolution", die vom Gastkurator und früheren Direktor des Palais Galliera, Olivier Saillard, kuratiert wurde. "Die Arcademy gibt die Momente wieder, als Designer ihre puristischsten Kreationen ausdrückten, ungestört von der Modewelt. Das ist der reinste und kreativste Schaffungszustand", erklärt es Saillard. Für ihn ist die Kunst in der Mode gerade in diesem Anfangsstadium zu finden. Noch kümmerten sich die jungen Talente nicht um den Beschaffungsaufwand des Materials, die kommerziellen Meinungen mächtiger Luxuskonzerne und die Tragbarkeit ihrer Entwürfe. Sie gingen einzig und allein ihrer Inspiration nach.
Zu neuer Kreativität anregen soll auch die Ausstellung selbst. Im vierten Stock eines renovierten historischen Gebäudes in Triests Zentrum leiten die Ausstellungsräume die Besuchenden durch den Prozess, den die Werke der Absolventen durchlaufen haben. Das Herzstück bildet die unfassbar reiche Bibliothek, ein Raum gefüllt mit 9000 der 14.759 eingereichten Portfolios der letzten 20 Jahre, die das Konzept hinter den Kollektionen der Teilnehmenden beschreiben. "Die letzten zwei Dekaden waren prägend. Sozial, politisch und ökonomisch ist extrem viel passiert, es begann mit dem Fall der Twintowers, und gerade haben wir eine Pandemie hinter uns gebracht. Es ist wichtig und spannend zu sehen, wie die Designer darauf in ihren Arbeiten reagiert haben, wie sie das Trauma, das um sie herum passiert ist, analysiert und in ihren Projekten ausgedrückt haben", erklärt Barbara Franchin.
Erinnert sich Demna noch an diesen Gürtel?
Um die 100 Kleidungsstücke, Accessoires und Schmucktücke sind in sechs Kapiteln, die bestimmte Strömungen oder künstlerische Themen behandeln, in den angrenzenden Räumen ausgestellt. In dem der "Expressionisten" findet sich etwa ein als "Cracked Couture" beschriebenes, Collagen-ähnlich zusammen gesetztes und später bemaltes Abendkleid von Richard Quinn aus dem Jahr 2015. Der Londoner Mode-und Printdesigner kann inzwischen sogar die 2022 verstorbene Queen Elizabeth II zu den Gästen seiner Modenschauen zählen, die er seit fünf Jahren während der Londoner Modewoche zeigt. "Wandering Spirits" heißt die Kollektion der japanischen Designerin Seiran Tsuno, die sie mit dem Einsatz eines 3D-Stiftes kreierte, und die dadurch wie schwebend um den Körper absteht. Ihre Idee war es Kleidung zu schaffen, die mit der unsichtbaren Welt kommunizieren kann
In den "Art Brut"-Räumlichkeiten stehen die Besucherinnen einem Outfit aus khakifarbener Jacke und weißer Federhose von Nicolas Di Felice gegenüber. Der belgische Modedesigner arbeitet seit zwei Jahren als kreative Leitung des französischen Modehauses Courrèges. Wenige Meter weiter wartet ein bunt-gemustertes Kleid, kombiniert mit passender Strumpfhose und einer enormen Fellmütze von erwähntem Bottega Veneta-Liebling Matthieu Blazy. Aus seiner Abschlusskollektion "Made in Antwerp" spendete Demna Gvasalia 2004 einen vierfachen Ledergürtel. Liest man den Namen auf dem beschreibenden Etikett bleibt man fast andächtig stehen: So also begann Demnas Reise. Erinnert er sich noch an den Gürtel? Hat wohl auch er übermüdet am Vorabend seiner Bachelorpräsentation letzte Säume umgenäht und Leder geklebt?
In der Kategorie "Selbstporträt" dreht sich alles um Alltagsuniformen und unterschiedliche Interpretationen des klassischen Anzugs. Unter "Lyrische Abstraktion" finden durch geometrische Formen entstandene Silhouetten zueinander. Die Looks der "Neo-Futuristen" verbinden architektonische Elemente und ausladende Schnitte. In der Sektion "Freie Darstellung" dreht sich alles um Foto- und Muster-Prints. Hier ist unter anderem ein mit dem lebensgroßen Kopf einer Bulldogge bedruckter Tracksuit der Designerin Courtney McWilliams ausgestellt. Das Hunde-Element nutzte ihr späterer Arbeitgeber Givenchy unter Ricardo Tisci für seinen berühmten Rottweiler-Print.
Mode als Kunst verstehen
Das Museum fokussiert sich auf das Erzählen von Geschichten und demonstriert den Aufwand, dem es bedarf, um eine Idee auf den Laufsteg zu bringen. Gerade Menschen, die hinter Mode wenig vermuten, fällt es meist schwer zu verstehen, dass es sich nicht um aus der Luft gegriffene Kleidungsstücke handelt, sondern sie aus einem oft emotionalen, persönlichen Prozess entstanden sind. Ähnlich ist es bei zeitgenössischer Kunst. Betrachtet man diese ohne das nötige Hintergrundwissen, fehlt oft der Zugang, und erst wenn der Kontext erklärt wird, ist es möglich, die Kunst als solche wahrzunehmen. Das ist auch die Idee hinter der Arcademy: Mode und ihre Prozesse begreifen, sie als die Kunst erfassen, die sie ist. Modestudenten wird immer wieder vermittelt, wie wichtig es ist, die Mode und Kostüm-Geschichte und damit verbundene Referenzen zu kennen, um sie richtig anwenden und zitieren zu können. Hier liegt diese Geschichte offen vor der Besucherin. Das Archiv des ersten zeitgenössischen Modemuseums Italiens kann laut Olivier Saillard mit den Sammlungen der wirklich großen Museen mithalten.
Das Archiv zu erhalten und zu befüllen ist ein niemals endender Prozess. Und auch die Arbeit des Arcademy ist hier nicht vorbei. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, nicht nur Mode- und Kunstinteressierte anzulocken, sondern auch jene, die sich den Themen noch fremd fühlen. Im Lernbereich des Museums werden Workshops und Lernlabore stattfinden. Altersunabhängig können sowohl Grundschulklassen als auch interessierte Touristen Handwerkstechniken erlernen, an Nähateliers teilnehmen und so ihre eigene Kreativität entdecken und fördern. Wie eine Pflanze, die man wässern muss, entsteht so ein weiterer Nährboden für neue Talente.
Wo Barbara Franchin sich die Arcademy in den nächsten 20 Jahre wünscht, kann sie ganz klar formulieren. "Ich hoffe, dass das Museum offen ist, voll mit Menschen, die aus der Stadt kommen und mit Touristen, die aus Interesse an Kreativität und Mode herreisen. Ich hoffe, dass wir dazu in der Lage sein werden, ein Geschäft, ein Hotel und ein Restaurant zu unterhalten, die mit dem Museum verbunden und in der gleichen Straße angesiedelt sind. Ich möchte eine echte Gemeinschaft bilden, einen Ort, an dem Trieste und die Welt sich treffen können." Noch fehle ihr ein großer Tisch, an dem sich die ganze Familie zusammensetzen können.