Die Pariser Modewoche bildet den Schluss des Modemonats und wird als das "Grande Finale" gefeiert, die ganz großen Namen Chanel, Louis Vuitton, Balenciaga und Dior stehen im Show-Kalender und alles sollte am besten die drei vorhergegangen Wochen in London, New York und Mailand noch einmal übertreffen. 64 Modenschauen und 42 Präsentationen wurden diese Saison in Paris gezeigt und trotzdem werden wohl zwei vergleichsweise simple Kleidungsstücke in besonderer Erinnerung bleiben – ein weißes Kleid und ein bedrucktes Sweatshirt.
Und vielleicht ein transparentes Paar Handschuhe bei Botter. "Caribbean Couture" nennt das Design-Duo aus Lisi Herrebrugh und Rushemy Botter die Identität seiner Mode, beeinflusst von Botters karibischer Herkunft, und verschreibt sich der nachhaltigen Arbeitsweise. "At Botter we care", heißt es im ersten Satz ihres Manifests, "for a Botter World" im letzten. Konsequent schlossen sich Botter für ihre Modenschau mit dem einzig glaubwürdigen Kollaborations-Partner zusammen: der Natur. "Unsere Überlegung war, wie können wir mit der Natur zusammenarbeiten und nicht mit einer anderen Modemarke? Das ist etwas, das wir jede Saison tiefer und tiefer erforschen", erklärte Rushemy Botter der "Vogue". Die Lösung? Das Element Wasser in seiner reinsten Form in die Kollektion integrieren. In XXL-Kondome gefüllt, wurde es den Models als Ballon-Handschuh übergestreift. Die einfach zu imitierenden (Der Winter kommt!) Kondom-Fäustlinge harmonierten erstaunlich gut mit den Looks in "Botter Blue", einem Farbton, der dem karibischen Ozean entspricht.
"Sehen wir gerade eine von Maria Grazia Chiuris besten Kollektionen?", postete etwas später Beka Gvishiani auf seinem Instagram-Kanal @stylenotcom – einer Art Liveticker der Modewelt. Und viele bejahten. Christian Dior zeigte als erstes Maison in Paris seine Frühling/Sommer-2023-Kollektion. Stets inspiriert von legendären weiblichen Musen, widmete Creative Direktorin Chiuri die 84 Looks Catherine de Medici, wie sie selbst eine Italienerin in Frankreich. Medicis Einfluss entstand nicht zuletzt durch ihre Kleiderwahl – sie etablierte das Korsett, Plattform-Highheels und italienische Spitze am französischen Hof, Elemente, die neben Reifröcken und vergoldeten Handschuhen auch durch Chiuris Kollektion führten. Die Eröffnung der Show begann mit einer Tanzperformance des niederländischen Choreografen-Duos Imre und Marne van Opstal, das, dem Thema der Renaissance entsprechend, die Idee der Wiedergeburt neu interpretierte.
Auch Saint Laurents Anthony Vaccarello schaute zurück in die Vergangenheit, genauer in die Archive des Modehauses, und wiederbelebte eine seidene, röhrenförmige Kapuze mit fast jedem seiner gezeigten Looks. Ein Detail, das in einer Kollaboration mit Claude Lalanne 1969, einer Haute Couture Kollektion 1985 und in Yves Saint Laurents finaler Modenschau 2002 vorkam. Kombiniert wurde die "La Capuche" mit der Erinnerung eines weiteren Laurent-Klassikers: "Le Smoking", dem ersten für Frauen designten Anzug-Ensemble seiner Art aus dem Jahr 1966, das endlich Kleider und Kostüme als Abendgarderobe ablöste.
Breitschultrige, bodenlange Leder-und Wollmäntel schützten den Körper umspielende, pyjama-artige, jedoch extrem elegante Loungewear und Kleider aus fließenden Stoffen. Die Looks in den 1980er-Jahre-Farben Safran, Burgunder, Aubergine oder Schokoladen-Braun wurden komplettiert mit spacigen Sonnenbrillen und schweren Statement-Ohrringen. All dies vor der Kulisse des Eiffelturms und mit Kate Moss in der ersten Reihe – voilà französischer Glamour.
An Chicness übertroffen wurde das 80er-Tribut höchstens von der The-Row-Show, einer der wenigen, die ohne Livestream auskam und so einen nostalgisch-exklusiven High-Fashion-Flair bewahrte. Dies mag auch an dem Veranstaltungsort gelegen haben, einem barocken Hotelzimmer nahe dem Place Vendome. Das Label der Olsen-Zwillinge, Mary-Kate und Ashley, präsentierte hochwertige, makellos geschneiderte Klassiker, die in ihrer Perfektion eine begehrenswerte Gelassenheit ausstrahlten. In einer minimalistischen Dekadenz schritten Blazer kombiniert mit Bermudashorts, Anzüge mit Flip-Flops und an umgeschlungene Federbetten erinnernde Wickelkleider über den glänzenden Parkettboden. An den richtigen Stellen wurde die Reinheit der Designs durch Falten in Hemden, rutschende Söckchen oder offene Säume unterbrochen, was sie umso anziehender machte. Beim Verlassen der Räumlichkeiten wurden frische Feigen auf Silbertabletten gereicht, was die Frage aufwarf: War das alles nur ein Traum?
Balmains Creative Director Olivier Rousteing holte zurück auf den Boden der Tatsachen. "Wir alle haben in diesem Sommer den Klimawandel gesehen. Wir alle haben die Brände auf der ganzen Welt gesehen. Und mit einer Show im September zurückzukommen und darüber nachzudenken, ob unsere Hosen hoch- oder niedrig tailliert sein werden, erscheint mir ein bisschen sinnlos", erklärte er die Gedanken hinter seiner 98 Looks umfassenden Kollektion – in vornehme Zurückhaltung mündeten diese jedoch nicht. Bei dem Balmain Festival V03, einem jährlichen, immer größer werdenden Event, das die Fusion von Mode, Musik und Essen zelebriert, waren neben der Modeelite auch 8000 Gäste anwesend, die sich den Zutritt durch gekaufte Tickets gesichert hatten. Ausladende Entwürfe aus Baumrinde, Papier, Bananenblättern, Holz, Bast und weiteren recycelten Materialien paradierten neben Outfits mit Flammenprint (Weltuntergang!) und Blumenprint (Hoffnung?) den bühnenähnlichen Laufsteg rauf und runter, während Acts wie Shygirl, CKay und The Blaze auftraten. Das eigentliche Highlight der Publikums-Bespaßung aber war die 76-jährige Legende Cher, die im glänzenden Bodysuit mit Marmor-Print die Show schloss.
Am 30. September wäre Virgil Abloh 32 Jahre alt geworden. Am Abend vorher präsentierte das von ihm gegründete Label Off-White die erste Modenschau seit dem Tod Ablohs im November letzten Jahres – unter der kreativen Leitung von Ib Kamara, der im April als neuer Art- und Image-Director ernannt worden war. Die Kollektion wurde in ihrem frühesten Stadium noch von Abloh selbst konzipiert und begonnen. Kamara sagte, das Team habe den ursprünglichen Auftrag - eine Erkundung des menschlichen Körpers - aufgegriffen und darauf aufgebaut.
Auf dem tiefblauen Teppichboden begleitete eine Gruppe von Tänzern in ebenso blauen Bodysuits die Präsentation der "Celebration"-Show, durch deren Looks sich die elektrisierende satte Farbe zog, während der Körper inspiziert wurde: Bauchnäbel wurden durch spezifische Cut-Outs entblößt, kurze Leder-Ensembles paarten sich mit transparenten Stoffen und überzeichneten Muskel-Partien, Blazern mit Röntgenbild-Print und bis zur Nase reichenden Rollkrägen. Besonders ins Auge stachen auch die der Silhouette nach empfundenen Ganzkörper-Stickereien. "Es geht darum, ihn und sein Vermächtnis zu feiern,“ zollte Kamara Abloh seinen Tribut nach - und mit - der Show.
Jonathan Andersons Kollektion für Loewe driftete ab in florale Gefilde – alles drehte sich um die Anthurie, auch Flamingoblume gennant. Eine gigantische rote Version aus Fieberglas wuchs aus dem Laufsteg, eine kleine blühte auf dem ersten Paar Schuhe, das den Runway betrat, das zweite Kleid bestand aus einer riesigen weißen Anthurien-Blüte: Anderson spielte mehr denn je mit dem Künstlichen und dem Hyperrealen und setzte die Blume dabei als "ein Naturprodukt, das wie ein Designobjekt aussieht und als solches behandelt wurde“, ein. Ausgestellte Minikleider mit Bubikragen wechselten sich ab mit knielangen Krinolinen-Röcken und überdimensionalen Ärmeln, die den Models wie Flügel von den Schultern hingen, an eine leere Baby-Trage erinnernde "Abschirm"-Tops verdeckten das halbe Gesicht. Zwei glitchig-verpixelte Looks, die einem Computerspiel hätten entsprungen sein könnten, unterbrachen das mondäne Blumenbeet, wie Anderson es nannte als "diese seltsame Illusion, die plötzlich das Muster durchbricht."
Auch das wohl meistgeteilte "Happening" der Woche glich einer Illusion, war aber Innovation. Das Pariser Label Coperni, von manchen abgetan als überbewertete Influencer-Brand, von anderen gefeiert, zeigte seine Kollektion "Coperni Femme": "Eine Ode an ein neu gestaltetes Paradigma der Weiblichkeit", wie es hieß. Nach sehr kurzen Kleidern, asymmetrischen Kleidern, Panty-Höschen und Hüfthosen kam plötzlich eine nur in Slip gekleidete Bella Hadid auf den Laufsteg. Dort wurde sie in mit einer Kunstschnee ähnlichen Textur eingesprüht, die sich als feinstes, feuchtes Netz um ihren Körper legte. Nach wenigen Sekunden getrocknet, formte eine Mitarbeiterin das frisch geschlüpfte Kleidungsstück in ein weit ausgeschnittenes, hochgeschlitztes Kleid zurecht, in dem Hadid majestätisch den Laufsteg verließ.
So rein und unschuldig die Geburt des Kleides, so düster und dreckig "The Mud Show" von Balenciaga. Aus Schnee wird Matsch und während in der letzten Saison ein Schneesturm gewütet hatte, fand sich hochkarätige Publikum dieses Mal in einer Schlamm-Landschaft wieder. Das Set stehe als "eine Metapher für die Suche nach der Wahrheit und die Bodenständigkeit", wie es die Shownotes erklärten. Wie so oft spiegelte Balenciagas Modenschau den ungeschönten Zustand des Hier und Jetzt wider. Es falle ihm schwer, in dieser Zeit optimistisch zu sein, sagte Creative Director Demna: "Ich denke, diese Show drückt das sehr gut aus - die Musik, das Bühnenbild, sie spricht über den Moment, in dem wir leben."
Die post-apokalyptische Show wurde eröffnet von Demna-Freund Kanye West, der in einer vollständigen Sicherheitsausrüstung inklusive Lederhose gegen die Schlammmassen anstapfte. Die darauffolgenden Models schienen einen rauen Kampf hinter sich zu haben: Ihre Gesichter waren lädiert, sie trugen Zahnschütze, schmutzige Oversize-Hoodies, Leder-Oufits, in den Händen zerschundene Plüschtiere als Taschen und kämpften sich durch den breiigen Untergrund, während ihnen der Matsch an die Waden spritze. Neongelbe und -pinke Trainingsanzüge reihten sich in die monochromen Looks, Lederärmel schienen in Taschen zu enden, Männer trugen Babyschalen vor der Brust, übergroße Anzüge wechselten sich ab mit Plissee-Kleidern, auf Baggy Pants und kurze Bomberjacken folgten Pailletten besetzte Abendroben. Den krönenden Abschluss machte das "Le Cagole"-Kleid, das aus den Schnittteilen der gleichnamigen Tasche zusammengesetzt schien. Eine "very me show", wie Demna sie für sich zusammenfasste.
Gerade noch die Balenciaga-Schau eröffnet, schon die letzten Tage der Pariser Fashion Week auf dem Gewissen: Kanye West (Ye) und sein trumpsches Gehabe um Aufmerksamkeit und Bedeutung nahmen das Finale der Modewoche ein. "Ich bin Ye und jeder weiß, dass ich hier der Anführer bin", ließ er schon in der Eröffnungsrede zu seiner spontan abgehaltenen YZY-Show verlauten. In seiner SZN09-Kollektion dann ging es hauptsächlich um Kleidungsstücke, bei denen auf Hardware wie Reißverschlüsse und Schnallen verzichtet wurde: Riesige Stepp-Sweater, Capes und Bomber-Jacken, Bodysuits und viele Kapuzen. Der eigentliche "Maincharacter" der Show, neben Ye natürlich, war jedoch ein Sweatshirt mit dem Slogan „White Lives Matter“ – ein Ausdruck der Anfang 2015 als rassistische Antwort auf die "Black Lives Matter"-Bewegung entstanden ist. Dies trug nicht nur ein Schwarzes Model, sondern auch Ye selbst. Eine völlig unangebrachte Provokation, die eher als rassistischer Angriff und plumpe Respektlosigkeit verstanden werden kann, ihm jedoch vermutlich viel zu schnell verziehen wird. Auf negative Kritik reagierte Ye in kindlich-trotziger Manier beleidigend – dafür ist im Ye-siverse offensichtlich kein Platz. "Vogue"-Redakteurin Gabriella Karefa-Johnson schrieb "Es gibt keine Entschuldigung dafür, das ist keine Kunst.“ Und Mode ist auch etwas anderes.
Die sah man wieder in gewohnter Manier bei Chanel und Louis Vuitton. Und, wie Miuccia Prada es nach ihrer nuancierten und von braunem Leder gespickten Miu-Miu-Show sagte, "Lasst uns die Mode genießen." Solange wir können.
Monopol-Chefredakteurin Elke Buhr spricht auf Detektor.FM über die Pariser Modewoche, hier zum Nachhören: