Die Künstlerin Helke Bayrle fing Anfang der 1990er-Jahre an, Künstlerinnen und Künstler in der Ausstellungshalle Portikus beim Aufbau zu filmen. Sie hatte dazu keinen Auftrag, sie brauchte keinen. Für die Städelschule in Frankfurt am Main, an die der Portikus angebunden war, für die Professoren und Studierenden war sie eine verlässliche, aufmerksame Begleiterin. Ihr erster Beitrag ist noch verhalten aus der Distanz gefilmt: Menschengedränge zwischen Skulpturen, Vernissage-Aufregung. Jemand hat ebenfalls eine Kamera. "Gerhard!", sagt sie, und der Mann setzt ab, erkennt sie und lacht sie an. Es ist Gerhard Richter, der wie sie die Ausstellung von Isa Genzken filmt.
Wenn Helke Bayrle in den Portikus oder zu jeder anderen Kunst-Veranstaltung in Frankfurt, Berlin oder weit darüber hinaus kam, strahlte meist etwas intensiv blau. Ihre Baskenmütze, ihr Schal, ihre Schuhe, auf jeden Fall aber ihre Augen, immer verschmitzt und freundlich, auch wenn sie etwas Ernstes sagte. Ihr Archiv (alle Filme sind online)umfasst seit 1992 mehr als 180 Ausstellungen, die sie dokumentiert hat. Ruhig, mit Zeit, obwohl kaum einer auf mehr als fünf Minuten zusammengeschnitten ist. Es wird sehr viel nachdenklich in die Höhe geschaut, lange Latten werden durchs Bild getragen, man raucht, man klebt, man schaut gemeinsam auf Zeichnungen, wenig auf Bildschirme.
Es sind aus heutiger Sicht fantastische zeitgenössische Dokumente, und wie immer bei Zeitzeugenschaft weiß man sie erst im Nachhinein in all ihren Dimensionen richtig zu schätzen, nicht während es passiert. Wer hätte 1993 schon gedacht, dass der junge Mann, der auf Knien sorgsam mit dem Daumen ein übergroßes Foto auf Papier an den Kanten zusammen montiert, dass dieser freundliche Typ im Karohemd, der Chansons und Choräle beim Arbeiten hört, genau 30 Jahre später Solo im MoMA zeigen wird. Wolfgang Tillmans fühlte sich wohl in Helke Bayrles Gegenwart.
"Sie hat aus ihrer Neugier etwas gemacht"
Sie wurde 1941 im polnischen Thorn geboren, seit 1969 arbeitete sie eng mit ihrem Mann, dem Künstler Thomas Bayrle, zusammen. Kasper König, Gründungsdirektor des Portikus, erinnert sich, dass er die ersten Male von ihren Videodrehs während des Aufbaus und auf den Eröffnungen überhaupt nichts mitbekommen hatte. Dennoch glaubt er, dass sie vom ersten Moment an wusste, dass eine bleibende, kontinuierliche Arbeit daraus würde. "Sie war immer neugierig, und sie hat aus ihrer Neugier etwas gemacht", sagt König.
Für ihren ruhigen und nicht auf Pointen fixierter Blick ist Kunst etwas absolut Selbstverständliches. Es ist fast ein bisschen atemberaubend, Gregor Schneider beim Aufbau seines beklemmenden "HAUS u r" zu sehen. Oder Elmgreen und Dragset, wie sie eine gerundete Rampe, eine ihrer frühen "Powerless Structures", einziehen lassen und lachend herunterrennen. Oder Sarah Lucas, wie sie auf einer fleckigen gebogenen Matratze sitzt und mit zwei Orangen zwischen ihren Beinen spielt. Diese Arbeit, 1996 im Portikus gezeigt, soll später ikonisch werden.
Helke Bayrles großes dokumentarisches Oeuvre "Portikus Under Construction" wurde 2017 selbst im Portikus gezeigt, der seit den Anfängen 1987 zwei Mal umgezogen war. Sie hat keine einzige Ausstellung verpasst, auch die aktuelle von Asad Raza nicht. Jetzt ist Helke Bayrle in Frankfurt am Main gestorben.