Es kommt nicht oft vor, dass man bei einem Filmfestival noch am Nachmittag der Preisverleihung von der Protagonistin eines Wettbewerbsfilms kontaktiert wird. Nan Goldin habe sich über meine Besprechung von "The Beauty and the Bloodshed" in der "Frankfurter Rundschau" gefreut, die sie selbst gelesen habe, ließ sie über einen Pressesprecher mitteilen, bitte jedoch um eine Korrektur. Sie sei bereits seit 2017 "clean", nicht erst seit 2018, wie ich fälschlich geschrieben hatte.
Gemeint ist der erfolgreiche Entzug von Oxycodon, dem enorm suchtgefährdenden Schmerzmittel, das ihr nach einer Operation verschrieben worden war und dem sie den Tod von 300.000 Menschen zuschreibt. Der erwähnte Dokumentarfilm von Laura Poitras ist eine mitreißende Chronik von Goldins Aktivismus gegen die Pharmaproduzenten-Familie Sackler, die er mit einem Porträt der Künstlerin, ihrer Jugend in einer dysfunktionalen Familie und ihrem Werk seit den siebziger Jahren verwebt.
Wie die von Goldin kontinuierlich neu arrangierte Diaserie "Die Ballade der sexuellen Abhängigkeit" ist es ein Wunderwerk der Montage, und wie Goldins Fotografie ist er intim und diskret zugleich. Dabei nimmt ein Kindheitstrauma, der Selbstmord ihrer Schwester Barbara mit 18, besonderen Raum ein.
Schönheit und Tod gehen Hand in Hand
Es ist (nach Gianfranco Rosis "Sacro Gra") erst der zweite Dokumentarfilm, der den Goldenen Löwen bei den Filmfestspielen von Venedig gewinnt. Der lyrische Titel "All the Beauty and the Bloodshed" meint damit keineswegs den Stoff, aus dem üblicherweise großes Kino gemacht wird. Schönheit und Tod gehen Hand in Hand im Wirken der Familie Sackler. Seit Generationen unterstützt sie große Kunstmuseen, ganze Gebäudeflügel tragen ihren Namen. Hinter dem Mäzenatentum stehen freilich beschämende Geschäftspraktiken: Durch die aggressive Vermarktung ihrer Produkte nahm ihr Purdue-Konzern den Tod hunderttausender Konsumenten in Kauf.
Die vielfach ausgezeichnete Recherche-Journalistin und Oscar-Preisträgerin Poitras untermauert die Argumente der von Goldin mitgegründeten Opferorganisation P.A.I.N. mit eigenen Sackler-Fundstücken. Ein verrauschtes Werbevideo aus den 90er-Jahren lässt einen angeblichen Experten im Anzug schamlos Lügen über die Ungefährlichkeit von Oxycodon verbreiten. Dann sieht man Goldin und ihre Mitstreiter über ein firmeninternes Memo diskutieren, das Vertreter seinerzeit darauf einschwor, einen „Wirbelsturm von Rezepten“ über Amerika loszutreten.
Goldins aktivistische Antwort von Januar 2019 ist ein Meisterstück des künstlerischen Agitprop. Von der obersten Etage des Guggenheim Museums in New York entfachen sie und ihre Mitstreiter während einer Eröffnung selbst diesen Tornado von Rezepten.
Politik und Ethik sind nicht zu trennen
Die Kunstwelt ist das Terrain, auf dem Goldin die Sippe von Mäzenen in der Folge jagen wird: Dort, wo sie ihre schmutzigen Hände mit Millionenspenden waschen, arbeitet die Künstlerin konsequent an ihrer Vertreibung. Tatsächlich sieht man Museen wie die Londoner National Portrait Gallery unter dem Druck einknicken und auf Millionenspenden verzichten.
Anders als die Protagonisten von Poitras früheren politischen Dokumentarfilmen "Citizen Four" und "Risk", Edward Snowden und Julian Assange, muss Goldin dabei wenigstens nicht fürchten, für ihren Heldinnenmut bestraft zu werden. Ihr politischer Erfolg überträgt sich – trotz allen Leids, von dem dieser Film erzählt – in motivierender Weise auf das Publikum. Seine künstlerische Qualität offenbart der formal unauffällige Dokumentarfilm dabei auf den zweiten Blick; in einer visuellen Erzählung, die Kunst und Politik bruchlos in einem erzählt. Politische und künstlerische Ethik sind für Poitras nicht zu trennen – was die Doppelmoral der Sacklers im Gegensatz dazu noch gespenstischer erscheinen lässt.
Schon 1998, auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs im Kunstbetrieb, erklärte mir Goldin in einem Interview: "Ich glaubte wirklich, bis zum Jahr 1989, dass es in der Kunstwelt um Kunst gehe. Dann erst erkannte ich, dass es nur um Geld geht. Das war wie ein Höllentrip für mich. Dieser Augenblick war ganz furchtbar. Heute noch verkaufe ich bei jeder Ausstellung ein Bild ganz billig, damit die Differenz an eine Aids-Klinik gehen kann oder eine New Yorker High School für schwule und lesbische Jugendliche, wo ich manchmal unterrichte. 500 Bilder im Jahr lasse ich für die Aids-Stiftung versteigern. Nein, ich glaube nicht, dass ich mich an den Kunstmarkt verkauft habe."
Der Kampf ist nur mit Ausdauer zu gewinnen
Im Film sind die Parallelen zu Goldins langjährigem humanitären Einsatz gegen die Marginalisierung der Aids-Opfer offensichtlich. Zugleich betont Poitras die Aktualität von Goldins früh artikulierter Kritik an der Doppelmoral des Kunstmarkts. Es ist ein Kampf David gegen Goliath, der nur mit Ausdauer zu gewinnen ist. Nach dem Einknicken der National Portrait Gallery folgten die Tate und der Louvre und schließlich auch das New Yorker Metropolitan Museum, wo der Film mit wackeligen Bildern einer P.A.I.N.-Aktion begonnen hat: Im vergangenen Dezember verlor der Sackler Wing seinen Namen.
Kaum bemerkt vom Filmvolk am Lido ist in Venedig auch eine bemerkenswerte neue Arbeit von Goldin selbst zu entdecken: Im zentralen Pavillon der Giardini zeigt die Kunstbiennale ihre 16-minütige Videoarbeit "Sirens". Der Found-Footage-Film kreist um Aufnahmen des ersten afroamerikanischen "Supermodels" Donyale Luna, das 1979 an einer Überdosis Heroin starb.
Goldin nimmt vor allem einen Andy-Warhol-Screentest Lunas zum Anlass einer delirierenden Collage surreal-assoziierten Materials von rauschhaft-irrealer Schönheit. Vermutlich wurde Goldin zur Filmemacherin, als sie ihre Dias zu musikalisch begleiteten Tonbildschauen montierte. Der damit verbundene Effekt der Emotionalisierung machte ihr bei einem Filmavantgarde-Publikum einen Namen, noch bevor sie der Kunstmarkt akzeptierte. Mit Poitras trifft sie auf eine kongeniale Partnerin, die eine immense Materialfülle wie einen einzigen Gedanken vorträgt.