"All work and no play makes Gucci a Gucci Gucci" steht sieben Mal auf dem in eine Schreibmaschine gespannten Blatt Papier. Dieses teilte das italienische Modehaus Gucci vor einer Woche auf seinem Instagram-Kanal. Die entscheidenden Zeilen aus der Schlüsselszene des Films "The Shining", in denen die Worte "Jack" und "dull boy" durch den Markennamen ersetzt wurden, rufen sofort eine verstörte Shelley Duvall hervor, die entgeistert feststellt, dass ihr Mann wahnsinnig geworden ist. Und sie kündigen Guccis neuste Kampagne "Exquisite Gucci" an, eine aufwendige Hommage an das Werk des Regisseurs Stanley Kubrick. "Kubrick war im Grunde ein echter Skulpteur der Genres: der 'genreübergreifende' Regisseur, der seiner Zeit voraus war", erklärte Guccis Creative Director Alessandro Michele. Man könnte meinen, dass er selbst somit der Kubrick der Modewelt ist.
War Gucci einmal bekannt für Sättel und Familienstreit, steht das Haus seit der Übernahme durch Michele als Creative Director im Jahr 2015 für unerwartete, branchenübergreifende Kollaborationen mit Künstlern und Kreativen und unendliche Referenzen aus Geschichte und Popkultur - vor allem aus dem Film. Micheles Mutter arbeitete in Rom in einer Produktionsfirma, ihre Erzählungen darüber beeindruckten den Modedesigner schon als kleinen Jungen und schürten seine Leidenschaft für das glamouröse Hollywood.
Großes Kino hat es ihm seither angetan, seine märchenhaften Präsentationen für Gucci erinnern eher an Filmszenen als an klassische Modenschauen, und im November letzten Jahres ließ Michele die Looks seiner "Gucci Love Parade"- Show auf dem Hollywood Boulevard präsentieren, an Filmstar-Models wie Jared Leto, Macaulay Culkin, Miranda July, oder Jodie Turner-Smith.
Organisch, aber völlig fremd
In der "Exquisite"-Kampagne verbindet Michele nun überraschende Marken-Kreuzungen mit filmreifer Inszenierung. Guccis Herbst-Winter-2022-Kollektion enthält eine gehypt-geniale Zusammenarbeit mit der Sportmarke Adidas. "Die seltsame Verbindung zwischen den Codes von Adidas und Gucci war ein chemisches Experiment, und zwar auf höchst zweideutige Weise. So bin ich auch an die Kampagne herangegangen. Ich hatte die Absicht, die Kollektion in Kubricks ikonischen Szenen zu platzieren, wo meine Kleidung organisch in seiner Welt existiert, sich aber gleichzeitig völlig fremd anfühlt - es ist mein Tribut an das Kino und an einen seiner brillantesten Meister", sagte Alessandro Michele über die Doppel-Kollaboration und kreierte so seinen eigenen nostalgisch-brillanten Remix.
Von "2001: A Space Odyssey" (1968) über "A Clockwork Orange" (1971) bis hin zu "Barry Lyndon" (1975), "The Shining" (1980) und "Eyes Wide Shut" (1999) – Szenen aus Kubricks bekanntesten Filmen wurden präzise nachgestellt – perfektioniertes Casting, Original-Kostüm, detailgetreues Bühnenbild. So schlendern Models in Gucci-Adidas-Anzügen in Karo-Muster und Kobaltblau, mit Bamboo-Bag geschmückt, durch eine Szene von "Clockwork Orange". Danny Torrance, das Kettcar fahrende Kind mit Pilz-Frisur aus "The Shining" erblickt die Grusel-Zwillinge, schon schwenkt die Kamera weiter zu einem Model im Hotelflur, gekleidet in schwarzem Spitzen-Top, knielangem Rock, Gucci-Tasche und lila Mütze mit den drei weißen Streifen. Ein rothaariges Model steht im grünen Tüllkleid im Space-Tunnel, hinter ihr eine David-Bowman-Imitation, die in entgegengesetzter Richtung verschwindet.
Micheles langjähriger Mitarbeiter Christopher Simmonds übernahm die künstlerische Leitung, Regie führte das Fotografen-Duo Mert Alas und Marcus Piggott, Gideon Ponte entwarf die Bühnenbilder. Nicht alle originalen Kleidungsstücke waren für den kurzen Clip zu bekommen, und so kuratierten Milena Canonero und Charlotte Walter die Repliken.
Hommage als "Akt der Liebe"
In einer Instagram-Caption beschreibt Michele die kreative Fusion als einen Versuch, Kurzschlüsse zu schaffen "bei denen das Adidas-Kleid, das bereits seinen Status als Sportbekleidung verloren hat und zu einem viktorianischen Kostüm geworden ist, als neuer Charakter im Drehbuch von 'Barry Lyndon' erscheint." Er habe versucht, Kubricks Filme in einem "Akt der Liebe" neu zu besetzen und mit seinen Kleidern bevölkert: "Die Vergangenheit explodiert in der Gegenwart."
Und das tut sie bei Gucci schon seit Alessandro Micheles Anfängen. In seiner ersten Kollektion für das Luxushaus, Herbst-Winter 2015, schienen sich die Models bei einer Haushaltsauflösung oder im Vintage-Geschäft eingekleidet zu haben: Schlaghosen, Schluppen-Blusen, lange Pelzmäntel, Faltenröcke und riesige Hornbrillen wurden präsentiert. Ein ausschweifender, geblümt-gefiederter Mix, der die 70er- und 80er-Jahre aufleben und schließlich zu einem maßgeblichen Bestandteil von Micheles Kollektionen werden ließen.
Auch ist der Designer dafür bekannt, große Momente der Gucci-Geschichte in aktuellen Kollektionen zu feiern und mit seinen Kreationen glitzernde Zeitreisen zu erschaffen. Damit bedient er eine populäre, romantisierende Rückwärtsbewegung: Ob Mode oder Medien, Vergangenes ist so aktuell wie nie – die Nostalgie der Trend der 2020er Jahre.
Die Zukunft von damals
Dieser wird durch zwei wesentliche Faktoren befeuert: Dem Wunsch, der immer grausamer werdenden Gegenwart zu entfliehen – Stichwort Pandemie, Ukraine-Krieg, Klimakatastrophe – und der Möglichkeit, dies auf digitaler Ebene mit wenigen Klicks zu tun. Bei Facebook oder Instagram kann durch beharrliches Scrollen in der eigenen Historie zu überbelichteten Selfies oder Chronik-Einträgen zurückgereist werden, Spotify wartet mit Cher, The Kooks oder Britney Spears und hält mit der personalisierten "Repeat Rewind"-Playlist "deine Favoriten aus der Vergangenheit" stets bereit.
Online wie offline, alle wollen zurück in die Zukunft. Kult-Serien feiern Revivals, Science-Fiction-Klassiker wie "Dune" werden neu verfilmt, Kassetten gelten wieder als relevante Tonträger, der Wert von Pokémon-Karten geht durch die Decke, und die Stars der 2000er Serie "High School Musical" werden auf TikTok gefeiert. Zurück in die Jahrzehnte, in denen Zukunft noch mit "rosig" assoziiert wurde und die Welt uns vermeintlich offenstand – dahin streben auch Marketing-Kampagnen.
Die Fast-Food-Kette Burger King etwa nahm vor Kurzem ein rebranding vor, und adaptierte dafür ihr Emblem aus den 70er-Jahren. "Das neue Logo ist eine Hommage an das Erbe der Marke mit einem raffinierten Design, das selbstbewusst, einfach und lustig ist", erklärte Designerin Lisa Smith die Entscheidung.
Popkulturelles Ausweichmanöver
Einfach und lustig fühlt sich vieles schon lange nicht mehr an, tat es aber mal. Dua Lipa nannte ihr aktuelles Album "Future Nostalgia" und betitelte damit den aktuellen Trend einer Realitätsflucht – das Verlangen nach einer Zukunft, auf die man in der Vergangenheit hoffnungsvoll blickte. Der Rückzug in veraltete Zukunftsvisionen gleicht einem Ausweichmanöver, das hauptsächlich von jüngeren Generationen wie der Gen-Z gelenkt wird.
Denn "die Vergangenheit explodiert in der Gegenwart" – und vor allem auf TikTok. Mode bediente sich schon immer an dem, was mal war. In Zyklen von 20 bis 30 Jahren wurden Dekaden neu entdeckt und gefeiert, die 90er mit Matrix-Brillen, die 2000er mit Strass-Schmetterlingen. Doch seit Modeerscheinungen gerade auf den sozialen Medien wie Instagram und TikTok präsentiert und gelebt werden, ist Nostalgia ein ständig neu forcierter "State of Mind", wiederholen sich Dekaden und damit verbundene Phänomene immer schneller.
Die Generation Z lässt Trends aufleben, die sie selbst noch nicht durchlaufen hat, die etwas älteren Millenials aber schon – etwa den Indie Sleaze. Damit startet eine "Revival Spiral": Die Abstände zwischen Original-Phänomen und Wiederaufleben ist nur noch wenige Jahre lang.
Blick nach vorn als Trendwende
„Die nostalgische Stimmung hat sich für eine Generation, die turbulente Zeiten durchlebt hat, noch verstärkt und beschleunigt: Trump, Brexit und eine globale Pandemie. "Die Zeit vor 2016 mag zwar nur sieben Jahre zurückliegen, aber angesichts dieser globalen Krämpfe kommt sie einem wie eine Ewigkeit vor", erklärt "The Face". "Nostalgia-Core" fasst die Plattform "Hypebae" den Trend zusammen.
Wie Gucci mit seiner Hommage an Kubrick Szenen hervorruft, die heute Teil unserer kollektiven Vorstellungskraft sind, sehnt sich die Allgemeinheit in eine teils verklärte Zeit zurück, die in der universellen Erinnerung Trost und Wohlbefinden spendet - für manche ist das jeder kulturelle Einfluss vor dem Jahr 2020. "Wir werden definitiv mehr Nostalgie für das erleben, was uns wie gestern vorkommt“, erklärt "The Digital Fairy", eine Kreativagentur, die sich auf Jugendkultur spezialisiert hat.
Wer sich der Zukunft stellt, könnte die Trendwende einleiten. Hier knüpft der Designer Demna mit seiner Herbst-Winter-Kampgane 2022 für Balenciaga an. Internationale Stars wie Kim Kardashian und "Euphoria"-Darstellerin Alexa Demie posen in der aktuellen Kollektion des französischen Modehauses vor Wetterextremen und weichgezeichneten Naturaufnahmen: Schneesturm, Gletschersee, Tropenwald, Mohnwiese, zerklüfteter Wüstenboden. Kim Kardashian scheint im türkisen Kleid mit Schleppe sogar über Wasser zu laufen – dramatischer Gewitterhimmel im Hintergrund. Die Kampagne diskutiert die Klimaerscheinungen der Zukunft – sind sie simuliert, sind sie Wirklichkeit? Bedrohlich oder beruhigt? Die Interpretation überlässt Demna den Betrachtenden, doch motiviert zum Blick nach vorne - egal, was kommt.