Der Baum des Lebens stellt in der in der Mythologie, Religion und Philosophie ein Symbol dar, das alle Enden der Schöpfung miteinander verbindet – den Himmel, die Erde, die Unterwelt. Und die Mode mit der Kunst, wenn man die jüngste Haute-Couture-Schau von Christian Dior betrachtet. Für die Herbst-Winter-Kollektion 2022/23 arbeitete Creative Director Maria Grazia Chiuri mit der ukrainischen Künstlerin Olesia Trofymenko als Set-Designerin zusammen, deren Arbeiten sie diesen Frühling kennen gelernt hatte.
"Ich habe dieses Werk von ihr im Maxxi, dem Museum für zeitgenössische Kunst in Rom, gesehen, in dem sie auf eine gemalte Landschaft gestickt hat", so die Designerin. Das nur 10 mal 15 Zentimeter große Werk mit dem Titel "Red Mirror", das im Rahmen einer Ausstellung von zeitgenössischen ukrainischen Künstlern gezeigt worden war, faszinierte Chiuri so sehr, dass sie die Kunst Trofymenkos eine Hauptrolle spielen ließ.
Der Baum des Lebens ist eine Art Leitmotiv in der Arbeit der Künstlerin, die 1982 in der Stadt Vilcha geboren wurde. In der ukrainischen Folklore stellt er die Verbindung zwischen den Vorfahren, der Gegenwart und den künftigen Generationen her und steht für "die Frau, die Fortdauer des Lebens und eine strahlende Zukunft", wie es in einem Ausstellungshinweis des Projekts heißt, das den Titel "The Flow" trägt.
Dialog zwischen Kunst und Kunsthandwerk
Der Baum prangte nun als riesiges Stickmuster an den Wänden des Musée Rodin in Paris. Die Ukrainerin bedeckte den Raum für die Show des französischen Modehauses mit ihren bodenlangen Kunstwerken: Leinwände, in feinster Handarbeit verziert. Normalerweise bestickt Trofymenko ihre eigenen Malereien, doch dafür blieb bei dieser Kollaboration keine Zeit. Und so bildeten Fotos von verschiedenen Regionen der Ukraine, Familien und Frauen in der ukrainischen Tracht so manchen Untergrund. Daneben hingen weitläufige Blumenstickereien, gefertigt von den Näherinnen der Chankya School of Craft in Indien, die für die kommende Saison eine Partnerschaft mit Dior eingegangen ist.
"Für mich ist sehr wichtig, das Set einer Haute Couture Show für den Dialog zwischen Künstlern und Kunsthandwerkern zu nutzen," erklärt Chiuri. Für sie gäbe es keine bedeutenden und unbedeutenden Künste. Kunst sei Kunst, und dieser Austausch solle genutzt werden, um etwas Wunderschönes zu erschaffen. Auch der Dialog zwischen der Kunst an der Wand und der Mode, die an Models mit strengem Mittelscheitel und teilweise hüftlangen Zöpfen präsentiert wurde, war unübersehbar.
Die 68 Looks mit Inspirationsquelle Lebensbaum schritten an den schillernden Wandwerken vorüber, hier spiegelte sich das Grün eines Kleides, dort ein Blumendetail. Die ersten hellen, reich verzierten Looks umgab eine Art strenge Romantik. Elegant-gemütliche Mäntel wechselten sich ab mit schwerverzierten Capes in Elfenbein, großflächige Stickereien zogen sich über einen Hauptteil der Kleidungsstücke, Trompetenärmel griffen den ukrainischen Trachten-Charakter auf, genau wie angedeutete Westen.
Die Zyklen des Lebens
Die Riege der schwarzen Gewänder kam mit hauchdünnen Stoffen, Spitze, Perlenstickerei und transparenten Puff-Ärmeln daher. Volkstümliche Details wie handgewebte Stoffe und gesmokte Partien tauchten immer wieder auf. Alle Kleider reichten bis an den Schaft der feinen Schnürstiefel oder gar bis zu den Schuhspitzen, Tartan wurde mit weißer Stickerei veredelt. Krägen, die aus der Sammlung der verstorbenen Supreme Court-Richterin Ruth Bader Ginsburg hätten stammen können, wechselten sich mit dem Mao-Kragen ab.
"Ich mag die Symbolik des Lebensbaums sehr", sagte Maria Grazia Chiuri. “Es steht für die Idee des Lebenskreislaufs." Auch gilt er als eine Verbindung zwischen vielen unterschiedlichen Kulturen, was Maria Grazia Chiuri dazu inspirierte, durch ihn eine Stoff gewordene und Hoffnung spendende Hommage an das Zusammengehören zu kreieren. Jeder Kultur ein Ast und ein folkloristisches Kleid.
Und dort trifft die Mode auch wieder die Idee der Kunst im Raum, deren Aussage Olesia Trofymenkos ähnlich erklärte: "Es geht um die Kontinuität des Lebens, der Tradition und der Kultur, trotz aller Widrigkeiten. Die Bilder sind nicht sonnig und hell, und ich habe versucht, durch sie einen Strom von Gemeinschaftsgefühlen zu vermitteln. Und auch, wenn nur für die zwölf Minuten der Modenschau, vielleicht hat diese besonders aufbereitete Umarmung zwischen Mode und Kunst einen kurzen Moment der Verbundenheit geschaffen. Wunderschön war sie allemal.