Die Zeit der Modetrends, die sich an einem bestimmten "It-Piece" festmachen, scheint vorbei zu sein. Der Rhythmus der Modeindustrie ist unberechenbar schnell geworden, ihr Kalender außer Kontrolle. Bevor Zeitschriften vorschlagen können, welche Jeanswaschung die angesagteste ist, wurde sie auf den sozialen Medien schon zu Tode getragen. Mode, wie sie in "Der Teufel trägt Prada" präsentiert wurde, ist altmodisch. Niemand wird wegen der falschen Stiefel ausgegrenzt oder für einen blauen Strickpullover belächelt. Alles ist fluide, individuell, zu jeder Zeit tragbar und wird unentwegt angeboten. In dem Wust von Möglichkeiten schaffen es konkrete "Trendstücke" kaum mehr an die Oberfläche.
Was aber bleibt, sind die regelmäßigen Bewegungen, in denen vergangene Mode-Ären wieder auftauchen. Der Prada tragende Teufel erklärte es in dem Film von 2005 so: Die großen Designer entscheiden sich für eine bestimmte Farbe oder Form, die sie bei ihren Schauen als Kleidungsstück präsentieren und die von dort langsam bis auf den Grabbeltisch herunterwandert. In der heutigen Realität beginnen Trends immer öfter im Internet, angestoßen von Generationen, die die Original-Ära nur aus digitaler Dokumentation kennen. So wiederholen sich ungefähr alle 20 Jahre Phänomene, von denen man fest ausging, sie nie mehr wieder zu sehen.
In den letzten Jahren haben wir uns von den 80ern und gefütterten Jeansjacken, zu den 90ern und dem Rachel-Green-Gedächtnislook und schließlich zu den 2000ern vorgearbeitet, in denen sich die Modebegeisterten seitdem suhlen. Mitte 2020 begann Gen-Z auf TikTok Bootcut-Jeans und Schal-Tops zu tragen. Ihnen fehlte die düstere Erinnerung an über Schlaghosen getragene Slipkleider mit Spaghettiträgern. Für die Spring/Summer-21-Shows inszenierte Balenciagas In-House-Stylistin Lotta Volkova die unter Nicola Brognano entstandene Blumarine-Kollektion, für die er sich von seinen Kindheitsheldinnen Britney Spears und Paris Hilton hatte inspirieren lassen. "Mein Blumarine ist schmutziger, bitchier, sexier."
Das I-Tüpfelchen des 2000er-Looks ist wieder da
Die Nostalgie für eine gefühlt eben erste verebbte Ära begann - für Klapp-Handys, "Mean Girls" und alles Strass-Besetzte. Langsam schlichen sich Truckercaps, Boleros und Ed-Hardy-Shirts in den Instagram-Feed. Yves Saint Laurent verteilte goldene Gliederketten-Gürtel mit Buchstaben-Anhängern und nach allem, was Cristina Aguilera 2002 bei den VMAs getragen hatte, wurde gelechzt. Dank Gen-Z war es plötzliche wieder okay, glitzernde Schmetterlinge und Bleichjeans zu tragen, hüftlange Tops und Plateau-Fliflops. Und jetzt haben die ersten zehn Jahre des 21. Jahrhunderts - Y2K, noughties oder aughts genannt - vermutlich ihren Peak erreicht, denn auch das I-Tüpfelchen des 2000er-Looks ist wieder da, einer der meist diskutierten Schuhe der letzten Jahrzehnte: der Ugg-Boot.
Ende der 1970er-Jahre brachte der Australier Brain Smith einen isolierenden Schaffell-Stiefel aus seiner Heimat in den Süden Kaliforniens, ohne zu ahnen, welche erstaunliche Mode-Geschichte der Schuh schreiben würde. Designt für Surfer und andere Wassersportler stand der Ugg-Boot jahrelang für relaxte Gemütlichkeit, ein Nischenprodukt, das nach dem Wasserbad die Füße wärmen sollte. Mitte der 80er wurde der Stiefel zu einem Symbol der südkalifornischen Strandkultur und erlangte in Surfshops entlang der Küste immer mehr Popularität.
1994 überwand der klobige Boot die Grenzen der Surfbubble, als einige Mitglieder des US-Teams ihn während der Winterolympiade in Norwegen trugen. Im gleichen Jahr wurde Pamela Anderson in einer "Baywatch"-Badeanzug-Ugg-Boot-Kombination gesichtet. Doch es brauchte die Absolution Oprah Winfreys, die Uggs mit der Aussage "sie gehören zu ihren Lieblingsstücken" Anfang der 2000er zum Schuh des Jahrzehnts adelte. Und so wurde fast niemand nicht in Ugg-Boots gesichtet. "Uggs werden mich immer und ewig an meine Kindheit in den frühen 2000ern erinnern, als ich sie an Berühmtheiten wie Jessica Simpson in 'Newlyweds' oder Paris Hilton beim Einkaufen bei Kitson sah", sagt Tyler McCall, Chefredakteur der "Fashionista"-Website.
Der Schuh für unprätentiösen, zwanglosen Luxus
Leonardo di Caprio trug sie zum Einkaufen, Kate Moss zur Fellweste beim Spaziergang durch London, und von jedem Hollywood-Celebrity entstand mindestens ein Paparazzi-Foto mit Ugg-Boots an Los Angeles’ Flughafen LAX. It-Girls wie Nicole Richie und Lindsay Lohan stylten sie zu Miniröcken und Hotpants, Jennifer Aniston liebte sie am Filmset wie auf dem Hollywood Boulevard.
Der Schuh stand für unprätentiösen, zwanglosen Luxus. Er war der Juicy-Couture-Jogger für den Fuß, wurde auch gern mit dem rosa Samtanzug kombiniert. Wer sich Uggs überzog, war zu wichtig, um Schnürsenkel zu binden und hatte definitiv Besseres zu tun, als sich um sein Schuhwerk zu kümmern. Ugg hieß Understatement. Seine Fans waren so schön, dass selbst ein die Hässlichkeit im Namen tragender Stiefel ihrer Anmut nichts anhaben konnte und so reich, dass sie mit abgewetzten Fell-Tretern noch high class versprühten.
Doch, wie es heute mit dem weißen Sneaker passiert, rutschte der flauschige Boot ab ins Gewöhnliche, sobald er der Nachfrage gerecht wurde. Plötzlich musste er als Standard-Symbol für das "basic white girl" herhalten, das stereotype weiße Mädchen in Ugg-Boots, Yoga-Leggings und Starbucks-To-Go-Becher in der Hand . Normaler und langweiliger geht es kaum. Niemand wollte diesen Schuh mehr sehen, jahrelang.
Ugg-Boots sind perfekte Corona-Schuhe
Ugg rettete sich mit ungewöhnlich edgy Kollaborationen wie mit Glenn Martens von Y/Project, Designerin Molly Godard, die sie in ihre Modenschau einbaute, Philipp Lim und sogar dem artsy Duo Eckhaus Latta. Das angesagte Streetwear-Label Stampd kreierte ein veränderbares Paar, das sich von Hausschuhen zu Stiefeln umwandeln lässt, was die Website "Highsnobiety" als "Spitzenschuhwerk für die Arbeit zu Hause" bezeichnete. Denn neben dem Y2K-Flashback ist die durch Corona verursachte Home-Office-Situation ein weiterer Faktor, der das Comeback des Ugg-Boots heraufbeschwor.
2020 und 2021 war kleidungstechnisch nichts gefragter als bedingungslose Gemütlichkeit. Das sagt auch Lucila Saldana, Strategin für Schuhe und Accessoires beim Trendforschungsunternehmen WGSN. "Two-Mile-Wear Shoes, das heißt Schuhe, die bequem für zu Hause und funktional genug sind, um Besorgungen zu machen, explodierten während der Pandemie als kommerzielle und gestalterische Überlegung." Mehr als drei Kilometer entfernt man sich ja doch selten von seinem Zuhause während einer Pandemie. Und auch der ungebrochene Hype um chunky shoes ebnete den Uggs den Weg zurück in die Kleiderschränke der modischen Menschen. Was sonst konnte noch kommen, nach dem Plateau-Croc? Unvorteilhaft klobig ist moderner denn je.
Die Rückkehr des Kultboots wurde mindestens so oft angekündigt wie die der Hüftjeans. Der gute alte Ugg, wie er damals aufgegeben wurde, ist aber erst jetzt so richtig wieder da. Im Sinne von: Er taucht nicht nur in Werbung und an Models auf, sondern tatsächlich an Füßen diverser Mitmenschen - und es werden immer mehr. Mittlerweile tragen Influencer-Größen wie Camille Charriere und Pernille Teisbaek den kürzer gewordenen, etwas sleekeren Ugg selbstverständlich kommentarlos, als hätten sie nie etwas anderes getan. Das beliebteste Modell ist vermutlich der Ugg Classic Mini Boot, auch, weil Cher, die 75-jährige Musik-Legende, sie mit ihren Füßen segnete. Die Sängerin ist das neueste Gesicht der fortlaufenden "Feel___"-Kampagne der Marke und trägt die Boots in ihrem mediterran-designten Anwesen in Malibu. Seit dem Start der Kampagne am 3. Januar hat das Schuhunternehmen bereits einen Nachfrage-Anstieg um 1.280 % verzeichnet, wie aus den von Sole Supplier zusammengestellten Daten hervorgeht. Mehr Retro geht eigentlich nicht.
Der fluffige Zenith der noughties
Geht man davon aus, dass der Ugg-Boot den fluffigen Zenith der noughties bildet, ist die nächste Strömung nicht mehr fern. Und tatsächlich, seit wenigen Monaten kündigt sich das Revival einer späteren 2000er-Bewegung an: Indie Sleaze, der Post-Y2K Style. Etwa im Jahr 2006 wurde sexy kitschy Bling Bling abgelöst vom schrägen Pony, Alexa Chung und Ballerina-Schuhen.
Vorhergesagt hat die Indie-Welle die Trendprognostikerin Mandy Lee in einem viral gegangenen TikTok-Video. Die Beweise? Unter anderem ein Paparazzi-Foto von Bella Hadid mit kabelgebundenen Kopfhörern, Kirsten Dunst auf dem Architectural Digest Magazine in Leggings und Gen-Z-Personen, die sich an "Vintage" American Apparel laben. Das U.S.-amerikanische Modeunternehmen versorgte die Neo-Hipster damals mit hoch ausgeschnitten Bodies, Stulpen und goldenen Lamé-Leggings. Der Instagram Account @indiesleaze feiert die Indie-Phase der 2000er schon seit fast einem Jahr und wächst rasant schnell an. "Dokumentation der Dekadenz der späten Nullerjahre und der Indie-Sleaze-Party-Szene, die 2012 starb", ist zu erwarten, und der nostalgische Follower wird mit Partyfotos der Olsen-Twins, einer quasi unbekannten Lady Gaga und DJ Steve Aoki versorgt.
Die Zeit zwischen etwas 2006 und 2012 war die letzte, in der man sich nicht anzog, um fotografiert zu werden. Das gängige Handy war ein Blackberry, ohne Kamera, und das höchste der Gefühle Digi-Cams, die bei ausgelassenen Partyabenden zum Einsatz kamen. Außer natürlich, man wollte es in kariertem Flanell-Hemd, bunten Strumpfhosen, riesigen Halsketten und "Shutter Shades" auf Mark Hunters Street-Style-Blog "The Cobrasnake" schaffen. Einen der ersten seiner Art. "Es war eine organische, unbekümmerte Zeit der Sorglosigkeit, nach der sich die Menschen sehnen", sagt der in L.A. ansässige Fotograf. "Wenn man sich meine Fotos anschaut, sehen die Leute aus, als hätten sie die beste Zeit ihres Lebens. Sie sind nicht auf das Telefon in ihrer Hand konzentriert oder posieren für die Kamera. Sie leben einfach."
Indie Sleaze sind totgeblitze Fotos, je durcher desto besser
Im Indie Sleaze war ein iPod, auf dem Crystal Castles, Klaxons oder die Arctic Monkeys auf Dauerschleife liefen, das wertvollste, technologische Gut. Richie-Tenenbaum-Stirnbänder, Urban Outfitters und Ed Banger Records, das "Nylon Magazine" und Myspace prägten die Stilrichtung. Modedesigner Henry Holland trendete mit oversized Statement-T-Shirts, auf denen etwa "Give me a Blow, Daisy Lowe" stand. Daisy, die Tochter von Gavin Rossdale galt mit verschmiertem Lippenstift, verwischter Mascara und out of bed hair als Ideal des Indie-Chicks und neben Cory Kennedy, Peaches und Pixie Geldof und Sky Ferreira, als Stilvorbild.
Der Look ein Mix aus 80ern und 90ern, trashy und grungy, dazu hedonistisches Abfeiern in Underground Clubs, festgehalten auf spontanen Blitzlichtaufnahmen. Fotos, die höchstens auf den gerade trendenden Tumblr-Blogs landeten - keine Filter, keine Bearbeitung, je durchgefeierter, desto besser. Die Rückkehr des Indie Sleaze könnte auch als Rebellion gegen das von Mark Zuckerberg angekündigte Metaverse und die vorausgeahnte, komplette Digitalisierung gelesen werden. Seiner Meinung nach sitzt die Menschheit bald einsam in Räumen und interagiert mit der Welt durch ein virtuelles Interface. Dann vorher lieber noch mal in Chucks und Skinny Jeans, eng aneinander gedrängt, zu Bloghaus abrocken.