Alle, die eine wohl überlegte Kleiderwahl als reine Eitelkeit abtun, liegen falsch. Diese Filmszenen, in denen die Protagonistin in einem großzügigen, mit Kleidungsstücken überfluteten Schlafzimmer steht, das Handy zwischen Schulter und Kinn, und verzweifelt feststellt, dass sie nichts zum Anziehen hat, zeigen ein echtes Problem: Sie hat wirklich nichts zum Anziehen. Nicht für diesen Tag, nicht, für genau diesen Moment, für diese Stimmung, die sie fühlt, für ihr Vorhaben, das eine bestimmte Art Rüstung von ihr fordern könnte.
Das zu bemerken, rechtfertigt Verzweiflung, denn die Verbindung zwischen den eigenen Emotionen und der Art und Weise, wie man sich kleidet, ist wesentlich für das persönliche Empfinden und damit das Auftreten. Ein Outfit und wie man sich darin fühlt, kann einen guten von einem schlechten Tag unterscheiden.
Die Professorin und Expertin in Mode-Psychologie, Karen Pine, erklärt in ihrem 2014 erschienenen Buch "Mind What You Wear", dass das, was man sich anzieht, nicht nur die Meinung Außenstehender beeinflusst, sondern auch die eigene. Pine erklärt, dass die Kleidung, die man wählt, unterschiedliche Gedanken und mentale Prozesse auslöst. Sie reflektiert nicht nur die eigene Stimmung und spiegelt wieder, wer man ist, andersherum entwickelt man sich auch zu dem hin, wie man sich anzieht. Depressive Patienten würden etwa dazu ermutigt, sich zu kleiden, als würde es ihnen wunderbar gut gehen, um die Selbstwahrnehmung auszutricksen.
Immer diese eine unbequeme Hose
Das ist die Macht der Mode, auf sie kann man sich verlassen, könnte man meinen. Doch gerade scheint sie schleichend in Vergessenheit zugeraten, denn mittlerweile sind wir bei dem Phänomen "Hate-Wear" (Hass-Kleidung) angekommen.
Geprägt hat den Begriff die Autorin Reyhan Harmanci, als sie im Januar ihre Kleidungs-Gewohnheiten nach einem knappen Jahr Pandemie analysierte und bemerkte, dass sie immer wieder diese eine unbequeme, schwarze Hose trug, die schlicht ein Fehlkauf zu sein scheint. "Hass-Kleidung ist, wenn du etwas anziehst, obwohl - weil? - es dich schlecht fühlen lässt. Weder stylisch noch besonders angenehm, dennoch ständig in Gebrauch". Letztlich kam sie zu dem Schluss "Ich trage äußerlich eine schlecht sitzende, schwarze Hose, weil ich mich innerlich genau so fühle."
Ein Teufelskreis, der vor allem mit folgender Aussage zusammenhängen mag, den die Autorin in einer mitfühlenden E-Mail zu gesendet bekam: "Wir sitzen alle zu Hause, weitgehend ungesehen und ungespürt voneinander, schweben in einem endlosen Äther, der das Warten auf das Ende dieser Pandemie ist, und so kann unser Anziehen ein bizarrer Hilferuf sein".
Eine nachvollziehbare Überforderung
Das Warten, eine lähmende Masse, in der man sich selbst verliert. Weil man nicht mehr das tut, was man eigentlich tut und sich nicht mehr so kleidet, wie man sich eigentlich kleidet. Die Mode dient nicht mehr als Flucht aus der rauen, realen Welt. Man verwehrt es ihr und sich selbst - aus, so meint man, mangelndem Anlass. Und das Grauen von draußen umgibt plötzlich in Form einer zu kleinen Sporthose den eigenen Körper. Eine nachvollziehbare Überforderung. Gerade noch lebte man in einem Zustand konstanter Beschleunigung, und plötzlich findet man sich in einer Art virtuellem Wartezimmer wieder, aus dem keiner aufgerufen wird. Und nun warten alle angestrengt auf die so genannte Normalität von, während der normalste aller Momente wie üblich übergangen, besser noch, ausgeblendet wird: das Warten selbst.
"Wir behandeln das Warten wie eine herausgeschnittene Zeit, die nicht zählt", erklärt Daniela Meichelböck, die vor wenigen Tagen ihren Master in Modedesign an der renommierten Modeschule Central Saint Martins in London gemacht hat. Für sie persönlich hat der Moment des Wartens etwas Nostalgisches, Melancholisches, und die Melancholie ist ihre liebste Stimmung.
Im Oktober 2020, als gerade die zweite Virus-Welle losbrach, fing sie an, ein Konzept für ihre Abschlusskollektion zu entwickeln. Etwas Zeitloses sollte es sein, und doch fangen die sieben Looks den Zeitgeist heute, nach einem Jahr des Stillstands ein. "Meine Kollektion ist eine Untersuchung des Wartens. Jeder Look dokumentiert das subtile und persönliche Detail eines ganz alltäglichen Moments." Anstatt es zu ignorieren, hat Meichelböck mit ihrer "Waiting"-Kollektion ein Manifest fürs Warten geschaffen.
Wartende Charaktere, die alle wiedererkennen
Die einzelnen Outfits werden an verschiedenen, wartenden Charakteren dargestellt. Da ist die ältere Frau mit Büro-Job, die ihren Alltag bedacht und organisiert bestreitet, in der Hand eine volle Einkaufstüte. Der junge Office-Typ, der unambitioniert darauf wartet, nach Hause gehen zu können. Der Chef, der zufällig in seinen Posten gerutscht ist und seine Tage schon ewig im Büro absitzt. Der Praktikant, etwas unruhiger wartend, da er seine Arbeitsmoral noch unter Beweis stellen muss. Der alte, liebe Mann, der am Bahnhof seine Enkelkinder abholen will, ausgestattet mit Blumenstrauß. Die Frau von der Rezeption, mit einem Kreuzworträtsel versehen und eine ältere, elegante Person, die an der Bushaltestelle stehen könnte, etwa in München auf dem Weg in den Englischen Garten.
Sie alle verbindet eine fast lässige Normalität, mit der sie ihr Warte-Situation dulden. "Beim Foto-Shooting wussten wir bei jedem Look ganz genau, wer dahinter steckt, man meint die Person zu kennen, hat sie vielleicht schon mal genau so warten sehen", so die Designerin, die sich selbst als Modell in die sieben Wartenden verwandelte.
Auch zu Beginn ihres Arbeitsprozesses ließ Daniela Meichelböck Foto-Dokumentationen von sich in unterschiedlichsten Wartepositionen machen, die sie später analysierte und die ausgemachten Bewegungen in den designten Kleidungsstücken festhielt. Nach längerem, gelangweiltem Rumstehen etwa fallen die Schultern nach vorn, und so entsteht eine Falte am Kragen eines Sakkos. Vielleicht wartet man unruhig, die Hände werden in den Taschen vergraben, die dadurch ausbeulen. Man wendet sich, streckt sich, die Kleidung dreht sich um den Körper, es entstehen schräge Falten, die in den Looks der agileren Wartenden eingearbeitet sind. "Mich inspirieren Alltagsmomente, die jeder immer wieder erlebt", sagt die Designerin. "Das Spontane, Ungeschönte, die Realität, und auch die mir begegnenden Persönlichkeiten."
Das Anziehen als meditative Vorbereitung
Statt ihre Protagonisten in Ungeduld verfallen und sich das erlösende Moment herbeisehnen zu lassen, zelebriert die "Waiting"-Kollektion den undefinierten Augenblick. Sie gibt dem Warten Raum - und vor allem eine Ästhetik. "Durch den eigenen Look schenkt man einem Moment Aufmerksamkeit, Wertschätzung und kann sich dadurch viel besser auf ihn einlassen", erklärt Meichelböck.
Das Anziehen der passenden Kleidung sei wie eine meditative Vorbereitung - Beerdigung, Büro oder Badesee, man stellt sich darauf ein und lässt es stattfinden. "Ich glaube, viele haben ein Problem mit dem Warten, weil sie es nicht bewusst tun. Wenn sie sich extra dafür anziehen, wird es zu einem Ereignis - und ist plötzlich okay. Und das ist eigentlich der schönste Gedanke der Kollektion," fasst die Designerin ihr Konzept zusammen.
Sie lerne gerade selber, sich für kleine, vermeintlich unwichtigere Dinge Zeit und zu nehmen und sie bewusst zu erledigen. Denn letztlich sind sie es, die durch Corona gefiltert übrig bleiben: Randerscheinungen und Nebensächlichkeiten aus der Prä-Virus-Ära.
Fotoshooting beim Müll rausbringen
Schlange stehen, Pakete abholen oder aus dem Fenster starren sind die Parties und Vernissagen 2021. Einige Instagrammer präsentieren schon länger ihre zugeschickten Designerkleider beim Einkaufen, zwischen Cornflakes und Toast, oder beim Tanken, was immer noch mehr ein Event ist, als für Selfies im Apartment zu posen.
Die Fotografin Caroline Guth initiierte das Projekt "Lockdown-Gala" und lichtete ihre Freunde beim Gang zum Waschsalon, beim Müll rausbringen und beim Fensterputzen in deren schickster Garderobe ab, um irgendetwas feiern zu können. Glamouröser wird der Anlass schließlich gerade nicht. "Die Einstellung ist entscheidend - diese Abschnitte ein bisschen mehr anzunehmen, auch im Sinne von Kleidung, hat fast was von Self-Care", so Meichelböck.
Es hilft dabei, das Gefühl des Zeitverlierens und die damit verbundene Unruhe zu dämpfen, die es erschwert, alltägliches Kleines während des großen Wartens anders zu gewichten. "Wie wir unsere Tage verbringen, ist auch die Art und Weise, wie wir unser Leben verbringen," erinnert die Autorin Annie Dillard in ihrem Buch "The Writing Life". Und auch, wenn das heute wie eine Drohung klingt - so will man sein Leben doch vor allem nicht in einer zu kleinen Sporthose verbracht haben.