Herr Giese, das Stadtpalais wurde 2018 eröffnet, seitdem finden dort Ausstellungen zu den Fantastischen Vier oder zum Phänomen Feinstaub statt. Welche Aufgaben hat das Haus?
Ein Stadtmuseum ist normalerweise ein Museum, das die Objekte einer Stadt sammelt, und das die Geschichte der Stadt zum Gegenstand der Erzählung macht. Wir aber sagen, dass auch die Stadt als solche, so, wie sie jetzt ist, oder sogar, wie sie sein wird, Gegenstand der Erzählung ist. Alles ist möglich, alles ist richtig, auch ohne Bezug zur Geschichte. Nehmen Sie "Außergewöhnliche Jobs": Das ist ein starkes Insta Live Format bei uns. Wir befragen dazu Stuttgarter mit ungewöhnlichen Berufen. Das würde man mit einem stadthistorischen Ansatz niemals tun, aber für uns macht das Sinn, denn wir erzählen die Geschichte dieser Stadt mit den Menschen, die diese Stadt ausmachen.
Welchen Effekt hat das aufs Ausstellungmachen?
In dem Moment, in dem ich den sicheren Hafen der Geschichte verlasse, habe ich als Museum überhaupt keinen Wissensvorsprung. Die Hälfte unserer Ausstellungsideen werden an uns herangetragen. Wir haben jede Woche fünf Anfragen, und wir sagen immer wieder ja. Zum Beispiel unsere Ausstellung zur Skateboarding: sie wurde von den Skatern selbst gemacht. Ein schöner Nebeneffekt: Wenn die Szene sich mit unserer Hilfe selbst ausstellt, sind die auch hip und cool und alles, was wir nie sein würden, wenn der Herr Direktor im Anzug dasteht. Zur Eröffnung war alles voll mit jungen Menschen.
Eine Wunschvorstellung vieler Museeen, allerdings geben Sie da auch ein bisschen wissenschaftliche Autorität auf, oder?
Wir sind ein Museum für Stuttgart. Und das ist viel ernster gemeint, als es so klingt. Wir sind ein Museum für alle, für alles. Wenn ich alle erreichen will, muss ich auch die Geschichte von allen erzählen. Und wenn ich junge Menschen ins Museum bekommen will, dann muss ich deren Geschichte erzählen, und nicht jene Geschichte, von der der Sechzigjährige glaubt, dass alle sie wissen müssten.
Können Sie die Ideen denn so adhoc umsetzen?
Wir müssen. Letzte Woche bekamen wir eine Anfrage vom deutschen Architekturbund, nächstes Jahr im Frühjahr eine Günter-Behnisch-Ausstellung zu machen. Na, und dann sagen wir ja. Kriegen wir noch hin. Wenn wir uns immer auf die nächsten drei Jahre zuplanen, können wir ja gar nicht auf das reagieren, was die Menschen wollen.
Jetzt lassen sie die anderen Museen ganz schön dröge und schwerfällig aussehen. Aber so einfach ist es auch nicht, zwischen Kunstmuseum Stuttgart, der Staatsgalerie und dem Landesmuseum einen Platz zu etablieren, oder?
Und mehr kulturelle Bedeutungsschwere als eins von diesen Häusern können und wollen wir gar nicht erlangen. Andere Mussen sind uns an wissenschaftlicher Tiefe und Schärfe meilenweit überlegen. Wir sind schnell, authentisch, dynamisch, innovativ. Das verrückte siebte Museum. Alle anderen Plätze sind doch bereits vergeben. Wir wollen aber auch gar kein Vorbild für die anderen Häuser sein, sondern einfach ein anderes Haus.
Kam Ihnen Ihr Tempo auch in der Pandemie zugute?
Alle waren natürlich total geknickt, als der Anruf kam, dass wir schließen müssen. Wir wollten ja gerade eine Fotoausstellung eröffnen. Aber dann war schnell klar: Wir jammern nicht. Wir eröffnen digital, auch wenn wir keine Ahnung hatten, wie das gehen soll. Jetzt sind wir gezwungen, nicht nur über das digitale Zeitalter zu reden, sondern zu handeln. Also haben wir die Ausstellung digital eröffnet, und weil wie die Ersten waren, waren wir damit auch in der Presse.
Und dann?
Dann haben wir Feuer gefangen, denn das machte doch richtig Spaß, plötzlich tausende Menschen zu erreichen. Wie lange muss man dafür eine Ausstellung machen? Wir waren nur eine halbe Stunde auf Instagram, und es gab tausende Fragen im Chat. Ich musste überhaupt nicht moderieren. Ich hatte eine Rede vorbereitet, die habe ich nicht gebraucht. Und das ist doch immer der Traum von allen Museumsmenschen: Dass nicht schweigend und andächtig im Museum rumgelaufen wird und sich keiner traut, etwas zu fragen. Da könnte ein Schlüssel zur Interaktivität liegen, fanden wir, und darauf haben wir richtig Lust. Wir waren seitdem jeden Tag außer Weihnachten mit verschiedenen Formaten online, sei es als Quiz oder Kulturlunch. Sie können zu allen möglichen Tagszeiten Zeit mit uns verbringen. Unsere Nutzerzahlen haben sich verdoppelt und verdreifacht. Wir haben uns auch digital von unseren Ausstellungen emanzipiert. Wir machen nicht mehr nur digitale Erzählung, um Ausstellungen zu vermarkten, sondern eigene Inhalte.
Die Ausstellung über die Stuttgarter Brüder Tiefschwarz wurde von vornherein geplant als Ausstellung, die möglicherweise erstmal ohne Besucher klarkommen muss. Wie kam es dazu?
Die Fantastischen Vier sind schuld, die haben 30 Jahre Fantas rund um unsere Ausstellung gefeiert. Danach gab es eine Art Familientreffen, auf dem ich Basti Schwarz traf. Der sagte nach zwei Minuten: "Wenn die Fantas eine Ausstellung bekommen, dann wollen wir das auch." Ich fand, sie sind ein gutes Thema, ein Stück elektronische Musikgeschichte aus Deutschland, die ja aus ganz verschiedenen Communities bestand. Damals war das viel dezentraler, und nicht wie heute, wo Kultur fast nur aus Berlin kommt.
Eine Ausstellung über Nachtleben und Clubkultur ohne Gäste, wie traurig.
Ali und Basti Schwarz haben sich damit schwergetan, Tobias Rehberger, der die räumliche Installation gemacht hat, auch. Aber ich war der Ansicht, dass es richtig ist, das so zu machen. Es war natürlich schade, und es ist immer noch schade. Jedesmal, wenn wir Freitagabend live gehen, wächst die Sehnsucht, danach, da zusammen feiern zu dürfen.
Was passiert Freitagabend?
Wir gehen jeden Freitagabend live mit Leuten, die per Handy aus der Ausstellung übertragen werden: Menschen die eine Verbindung zu dem Club On-U hatten: andere DJs wie Peter Kruder von Kruder und Dorfmeister, oder DJ Hell, Stefan Trüby. Welche Stücke waren damals wichtig, was machte den Sound aus? Ali ist auch allein in der Ausstellug und legt auf, der Rest ist zugeschaltet, ich moderiere. Das kommt sehr gut an.
Was können Sie als Historiker der elektronischen Musik abgewinnen?
Sehr viele Leute, die heute Hochkultur machen, waren damals in den 1990ern in der elektronischen Musik zuhause und sind da sozialisiert. Der Club von Ali und Basti Schwarz hieß On-U, er gehörte zu den zehn, 15 legendären Clubs in Deutschland Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre. Es war nicht dunkel und nur von Stroboskop beleuchtet wie die Berliner Clubs. Das On-U war grell, schrill, die Menschen haben sich verkleidet, es ging darum, sich zu zeigen, zu performen. Es war ein Ort, wie es ihn heute, glaube ich, in der elektronischen Musik gar nicht mehr gibt. Er hat auch den Künstler Tobias Rehberger geprägt. Rehberger und Ali Schwarz kennen sich aus dem On-U, sie haben da die vielleicht wildeste Zeit ihres Lebens verbracht, die sie als Künstler immer noch beeinflusst.
Die Zusammenarbeit mit Tobias Rehberger kam aus Verbundenheit?
Ich wollte es erst nicht glauben, als Ali sagte: Das macht dann der Tobias Rehberger. Er war da und wusste sofort was zu tun ist. Er sagte, er brauche fünf alte Bilder vom On-U, und alles andere wisse er noch, weil er ja dabei war. So hat er seine eigene künstlerische Abstraktion seiner eigenen Vergangenheit nachgebildet, so wie er das On-U erlebt hat. Sie haben sich dann drei Tage und drei Nächte mit Klebeband, Sprühdose und Edding eingeschlossen und haben die Ausstellung aufgebaut. Und sie ist toll geworden.
Ist es nicht ein bisschen nostalgisch?
Ich kann diese Haltung, dass früher alles besser war, überhaupt nicht leiden. Aber wissen Sie, die Schwarz-Brüder und Tobias Rehberger bannen dieses Erlebnis, das jeder für sich kennt: Dieses Gefühl, zum ersten Mal in einen Club zu kommen, der einfach eine andere Art von Ort war, wo man frei war. Diese hedonistische Art, sich als junger Mensch gnadenlos auszuleben. Ohne Rücksicht auf Karriere. Diese Freiheit, die sie damals gespürt haben, haben sie gebaut. Sie haben sich ein bisschen in diesen Modus zurückversetzt. Wir stecken als Stadtpalais mittendrin, das mit dem dazu nötigen zeitlichen Abstand zu musealisieren und mit den authentischen Playern zu erzählen. Und plötzlich erzählt das Museum vielen Menschen ihre eigene Geschcihte.
Sie erzählen den Menschen mit Ihrem Ansatz ihre eigene Geschichte, wollen unbedingt Identifikation herstellen. Gibt es auch Reibung?
Bei unserer Eröffnung haben die Massiven Töne gespielt, kein Streichquartett. Die Massiven Töne haben den Stuttgart-Song überhaupt geschrieben, "Mutterstadt". Den haben sie gespielt. Dafür haben wir natürlich Kritik bekommen. Wir haben den Stadtpalais-Freundeskreis und es gibt die Arbeitsgemeinschaft Stadtgeschichte, welche die klassische Museumszielgruppe widerspiegeln. Da war es ungewohnt, dass nichts Klassisches gespielt wurde. Aber mein Argument war immer, und das hat mittlerweile die ganze Stadt verstanden, jede Zeitung: Niemand hat so viele Hymnen auf diese Stadt geschrieben wie der Hip-Hop. Und so ist es.
Ist das jetzt auch bei den Skeptikern angekommen?
Nach der Veranstaltung kam der Vorsitzende dieser Arbeitsgemeinschaft und sagte: "Jetzt habe ich es verstanden, die lieben ja ihre Stadt noch mehr als ich das tue." Das wollen wir die ganze Zeit erzählen. Selbst die Skateboarder, diese komischen jungen Männer, die seltsame Dinge tun, vor denen alle älteren Menschen Angst haben. Ich kann denen nicht ihre Ängste nehmen, aber ich kann sagen: "Hey, die kennen die Stadt noch wesentlich besser als ihr, denn sie leben in ihr und schauen die ganze Zeit, wo man fahren kann. Sie lieben Stuttgart ganz anders, aber sie lieben es." Dasselbe mit Graffiti. Diese Überzeugung, dass ich meine Stadt schöner mache, das wollen wir generationenübergreifend diskutieren. Dass nur Weiß und Grau auch hässlich sein könnte. Das funktioniert. Die Jüngeren feiern es, dass sie endlich Raum im Museum kriegen, und die ältere Generation fühlt sich einerseits provoziert, guckt sich das aber auch interessiert an.
Ist Stuttgart besonders lokalpatriotisch?
Viele beschweren sich, aber sie beschweren sich, weil sie ihre Stadt lieben. Dass in den drei Jahren, die es uns jetzt gibt, Künstler mit uns arbeiten, selbst wenn sie teilweise auch gar nicht mehr hier wohnen, das ist nicht in jeder Stadt selbstverständlich.