Die Türen des Museums der bildenden Künste (MdbK) in Leipzig bleiben auch im neuen Jahr bis auf Weiteres geschlossen. Es scheint bessere Zeitpunkte als einen bundesweiten Lockdown zu geben, um die Leitung eines Museums zu übernehmen. Doch hinter den Kulissen geht die Arbeit weiter und Stefan Weppelmann, seit dem 1. Januar Direktor des Hauses, startet mit einer Positionsbestimmung. Wichtiger als die Planung der nächsten Ausstellungen ist ihm jedoch, mit seinem Team ein Leitbild zu erarbeiten: Welche Aufgaben hat das Museum? Wo soll es stehen, in zwei, drei, fünf Jahren? Und vor allem: Welche Werte und Ziele teilen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter?
Reflektiert und klar spricht Stefan Weppelmann über seine neue Verantwortung und gendert erfreulich konsequent, als wir Anfang Dezember telefonieren. Der promovierte Kunsthistoriker ist Jahrgang 1970, war zuletzt Direktor der Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums in Wien. Als bekannt wurde, dass er die Nachfolge von Alfred Weidinger an der Spitze des MdbK antritt, stieß das in der Leipziger Kunstszene auf Skepsis. Wieder ein Mann, und dazu einer, der auf den ersten Blick eher im 14. Jahrhundert bewandert ist – seine Doktorarbeit schrieb er zu toskanischer Malerei und Spinello Aretino (circa 1346–1410). "Ich liebe Malerei, aber ich habe auch ein großes Interesse für Zeichnungen, Skulpturen und die Fotografie", so Weppelmann. Es war lange sein Wunsch, diese Interessen stärker miteinander zu verbinden: "Bisher habe ich für große, repräsentative Altmeister-Sammlungen gearbeitet, doch diese erlauben nur sehr bedingt eine Diskussion mit Gegenwartsbezug. Ich hatte kaum die Möglichkeit, zeitgenössische Kunst zu zeigen oder mit Künstlerinnen und Künstlern in einen Austausch zu treten und ihre Werke anzukaufen."
Mit über 100 Bücherkisten zogen er und seine Familie nun nach Leipzig. Bücher über Kunst aus Leipzig waren nicht allzu viele dabei, bisher war sie nicht in seinem Fokus. Einiges hat er sich zur Vorbereitung besorgt, zur Leipziger Fotografie, zur Rolle Leipzigs in der Wendezeit, dazu der Katalog zur jüngsten Ausstellung von Neo Rauch und die Bestandkataloge aus dem Leipziger Haus. Auch Ideen für Ausstellungsprojekte hat er im Gepäck, doch die möchte er zunächst mit dem Team abgleichen. Eine Sache steht fest: "Ich möchte die Ausstellungsprogrammierung ganz eng mit dem Bildungsprogramm verbinden."
Stärkere Erzählungen in der Sammlung
Bei aller angebrachten Zurückhaltung angesichts des Amtsantritts, bei einigen Punkten wird er konkret: Insbesondere die Dauerausstellung soll mehr Gewicht und die grafische Sammlung einen eigenen Ort im Haus bekommen, sodass nicht nur Faksimiles, sondern rotierend auch Originale ausgestellt werden können. Auch die Fotografie soll ständig präsent sein, insbesondere die der Vorwende- und unmittelbaren Nachwendejahre, dazu Experimentalfilme, Künstlerinnen und Künstler wie Karin Wieckhorst, Lutz Dammbeck oder Günther Huniat.
Die Sammlung soll insgesamt eine stärkere erzählerische Verschränkung erfahren. Derzeit bewegen sich Besucherinnen und Besucher durch viele Kabinette, die nach Themen oder Werkgruppen geordnet sind: "Ich glaube, wir können anhand der Sammlung einen großen Bogen vom 15. bis ins 21. Jahrhundert spannen, der insbesondere auch die Geschichte Europas erzählt." Vorgänger Alfred Weidinger hatte zum Dienstschluss Ende März 2020 eine komplett neue Präsentation hinterlassen. An knallfarbigen Wänden hängen seitdem mehr Werke als zuvor, begleitet von Wandtexten und großer Typografie. "Ich möchte das nicht alles zerstören, da waren interessante Ansätze dabei", erklärt Weppelmann. "Aber ich finde es wichtig, dass sich auch Nicht-Kunsthistoriker im Haus orientieren können, durch Zeitstufen und topografische Zusammenhänge."
Als die Stelle Ende 2019 ausgeschrieben wurde, ist er nach Leipzig gefahren, um einen frischen Eindruck vom Haus und der Sammlung zu bekommen. Wie so viele hat er bei seinem Besuch einige vermisst: Mattheuer, Heisig, Rauch, Eitel oder Triegel. Die Leipziger Schulen sollen eine Dauerpräsenz im Haus bekommen, nicht wie bisher nur im Rahmen von Wechselausstellungen gezeigt werden. Auch Weidinger war 2017 mit diesem Ziel angetreten, realisierte Ausstellungen zu Arno Rink und Klaus Hähner-Springmühl und sorgte 2019 vor dem 30. Jubiläum der Maueröffnung mit "Point of No Return" für ein weltweites Medienecho: Werke von 106 Künstlerinnen und Künstlern zeigten deren Blick auf die friedliche Revolution und den gesellschaftlichen Umbruch im Osten. Weidinger war im Laufe der Zeit unsicher geworden, suchte noch nach einem überzeugenden kuratorischen Konzept für die Dauerpräsentation. Es bleibt zu hoffen, dass Weppelmann dieser Herausforderung trotz aller Befindlichkeiten besonnen und pragmatisch begegnet.
Tiefere Bindungen der Menschen zur Kunst
Er sieht, dass das MdbK eine enorme Verantwortung für die Kunst und Kultur der DDR hat: "Da sind viele Künstlerinnen und Künstler noch nicht ausreichend gewürdigt und bekannt." Es gelte nicht nur zu sammeln und zu dokumentieren, sondern auch wissenschaftlich zu forschen und zu digitalisieren. "Es würde mich sehr freuen, wenn es Interesse an mitteldeutscher Kunst oder sagen wir ostdeutscher Kunst in westdeutschen Zentren gäbe." Bestenfalls kann er dazu beitragen, dass Einzelausstellungen wichtiger Künstlerinnen und Künstler aus dem Osten nicht mehr nur unter dem Label "Kunst aus der DDR" laufen – wie die Kategorie "Leipziger Schule" ist dieses Fluch und Segen zugleich.
Wien und Berlin, wo Weppelmann nach der Promotion an der Gemäldegalerie der Staatlichen Museen als Kurator für italienische und spanische Malerei der Renaissance tätig war, sind große Flaggschiffe, geprägt vor allem von wissenschaftlicher Museumsarbeit und Touristenmassen. Leipzig hingegen ist als ein Museum aus der Stadtgesellschaft entstanden und das Werk von Bürgerinnen und Bürgern. Darin liegt für Weppelmann die Faszination: "Als städtisches Haus bietet das MdbK die Gelegenheit, mit bestimmten Gruppen der Stadt stärker in Austausch zu treten und tiefere Bindungen der Menschen zur Kunst zu ermöglichen."
Statt Projekt an Projekt zu reihen, sollen sich Formate regelmäßig wiederholen, in denen insbesondere Künstlerinnen und Künstler eine Rolle spielen, die in Leipzig leben, studieren oder studiert haben. Weppelmann spricht lieber von Teilhabe als von Vermittlung, will Formate finden, in denen das Museum aus seinen vier Wänden hinaus in die Stadt geht: "Ein Museum ist ein intellektuelles Konstrukt und kann auch dort entstehen, wo Menschen sich einigen, diesen Ort als solches zu definieren." So könnten auch Menschen erreicht werden, die mit der Idee des Museums noch nicht vertraut sind. Outreach ist für ihn Chefsache. "Mir ist es extrem wichtig, dass die Vermittlung immer mit am Tisch sitzt, bei allen Entscheidungen, die das Haus trifft." Die Aktivierung der Stadtgesellschaft steht für ihn im Fokus.
"Ein Museumsbesuch gehörte nicht zur Tagesordnung"
Beworben hat er sich mit der Idee eines Mentorinnen-Programms: Menschen, die in Leipzig leben und in informellen Gruppen agieren, sei es in Freundeskreisen, in Jugendclubs, in der Hausgemeinschaft oder mit Geflüchteten, sollen an das Museum angedockt werden, etwa über eine geringfügige Beschäftigung, um dann Menschen, die vielleicht nicht oder nur schwer erreicht werden würden, ins Haus zu bringen und das Programm mitzugestalten: "Das Museum soll sich dafür nicht aus der Verantwortung nehmen, sondern vielmehr Verantwortung übernehmen, indem es die Menschen empfängt, anleitet und sie begleitet."
Eine tiefe Überzeugung der Relevanz von Kunst für die Gesellschaft und eine gewisse Bodenständigkeit sprechen aus seinen Überlegungen. Sein bisheriger Lebensweg, der keinesfalls auf direktem Wege in die Kunstgeschichte führte, mag zu dieser Erdung beitragen: "Bis ich 22 war, gehörte ein Museumsbesuch nicht zu meiner Tagesordnung". Nach einer Ausbildung in der Arbeitsverwaltung war er zunächst als Arbeitsvermittler tätig. "Dadurch habe ich ein Bedürfnis nach anderem entwickelt, wollte ästhetische Zusammenhänge erleben, die dieser Job mir nicht gab."
Nach dem Abendabitur studierte er Kunstgeschichte und Kommunikationswissenschaften. Bauten, wie etwa der Kölner Dom, haben ihn schon als Kind fasziniert. Nach einem Erasmus-Aufenthalt in Rom entschied er sich ganz für die Kunstgeschichte, wobei es immer die Bildgeschichte war, die ihn faszinierte: "Bilder lösen Konflikte oder provozieren sie, sie definieren Räume neu und dokumentieren künstlerische, humanistische und technologische Entwicklung." Besonders Giotto hat ihn begeistert, dieser Maler, der aus der byzantinischen Formensprache heraus eine neue malerische Tradition begründete, die bis zu den Werken von Mark Rothko fortwirken.
Maximal offen für Kooperationen
Auch in seiner bisherigen Arbeit als Kurator hat er diesen Aspekt der Bildgeschichte weitergedacht, mit Ausstellungen wie "Rothko – Giotto" und "Gesichter der Renaissance" in Berlin sowie zuletzt 2020 als Gemeinschaftsprojekt "Beethoven bewegt" im Kunsthistorischen Museum Wien, eine Ausstellung die Beethoven in Dialog mit Künstlerinnen wie Friedrich, Goya, Rodin, Horn, Baldessari und Sehgal brachte. Kuratorische Konzepte, die er in Leipzig hoffentlich aufgreifen wird.
Maximal offen sei er für Kooperationen innerhalb der Stadt, auch in Hinblick auf crossmediale Projekte mit Akteurinnen anderer Szenen. Auch national und international sieht er Potenziale: Viele Häuser seien an dem Komplex Leipziger Schulen und an Kunst der DDR interessiert, aber auch an Kunstwerken im Bereich der Alten Meister, am Kernbestand von Max Klinger und Max Beckmann, Hauptwerken von Caspar David Friedrich, Gemälden von Lovis Corinth und einer wichtigen Werkgruppe im Bereich der Niederländer des Goldenen Zeitalters.
Bereits Alfred Weidinger war es mit einem diversen Ausstellungsprogramm und großen Namen gelungen, das Haus aus dem Dornröschenschlaf zu wecken."Peace is Power" von Yoko Ono war mit rund 70.000 Besuchern nach Neo Rauchs Retrospektive 2010 die zweiterfolgreichste seit der Eröffnung des Museumsneubaus 2004. Er wird unangefochten der Direktor mit den meisten Ausstellungen in einer derart kurzen Amtszeit bleiben. Eine Schlagzahl, die auch zu Lasten der wissenschaftlichen Tiefgründigkeit ging. Immer wieder war der Vorwurf zu hören, das Haus agiere wie eine Kunsthalle und nicht wie ein Museum. Und bei aller Freiheit, die er seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zugestand, soll es doch auch chaotisch zugegangen sein. Hausintern spricht man von der "VW"-Zeit – "vor Weidinger". Maßgeblich vorangebracht hat er das Haus in puncto Digitalisierung.
Auch Stefan Weppelmann sieht es unabhängig von der Pandemie als unabdingbar, den digitalen Raum ernster zu nehmen, nicht nur Digitalisate bereitzustellen, sondern die Möglichkeiten des Netzes zu nutzen und das Haus veritabel im digitalen Raum zu spiegeln. Museums-Websites sollten Inhalte spannend und dialogreich gestalten, da sei das MdbK schon sehr weit vorn. Insbesondere die Schulen müssen adressiert werden. Mit der Hoffnung, das Museum im Frühjahr wieder öffnen zu können, verbindet er den Gedanken, dass die Menschen ein neues Gefühl für Zeit mitbringen: "Über die Jahre meiner Museumarbeit bin ich Bildern, die man zu kennen glaubt, immer wieder begegnet und habe neue Zugänge zu ihnen gefunden. Diese Erfahrung sollte auch das Publikum machen." Die ureigentlichste Aufgabe eines Museums sei es schließlich, neben dem Bewahren der Objekte auch tiefere Bindungen der Menschen zur Kunst zu ermöglichen und so letztlich uns selbst zu begegnen