Schon vor dem Jahr 2020 war die Modeindustrie in keiner guten Verfassung. Als kränkliches System hatte sie zuletzt versucht, sich selbst zu überholen. Bikinis wurden präsentiert, während draußen ein Schneesturm wütete, Wintermäntel bei über 30 Grad. Fast pausenlos wurden Zwischen-Kollektionen präsentiert, dazu noch Haute Couture. Chef-Designer verabschiedeten sich mit Burnout, es war keine Zeit mehr für gute Ideen und kreativen Prozess. Der Onlineversand bestimmte verstärkt, was verkauft und entworfen werden sollte.
Sobald auch Menschen außerhalb der etablierten Fashion-Elite Modenschauen live im Internet verfolgen konnten, wuchs der Unmut darüber, dass die bestaunten Trends nicht sofort erhältlich waren. Also versuchte man, das System weiter zu beschleunigen und Instant-Shopping vom Laufsteg zu ermöglichen. Spätestens da ging viel kaputt. Wöchentlich versorgten gerade Fast-Fashion Unternehmen ihre Kunden mit neuen Kollektionen, es schien schon fast egal, was da in den Regalen lag. Noch in der Wintersaison wurden Sommerkleider im Schlussverkauf angeboten, obwohl es Monate dauern würde, sie das erste Mal tragen zu können. Modemarken mussten sich selbst verramschen, um alles los zu werden. Mitten in diesen Wahnsinn, traf das Virus ein. Eine Zwangspause.
Nackt, im Pyjama, wen interessierte das noch?
Wenn eine Pandemie ausbricht, findet sich Mode auf der Prioritätenliste nicht besonders weit oben, „Du musst dein ganzes Leben neu ausrichten, also wird Kleidung, vor allem Mode im Sinne von Trends, weniger wichtig", sagt Mode- und Kulturhistorikerin Laura McLaws Helms. Und während die Überlebenden in den meisten apokalyptischen Zukunftsszenarien wenigstens im dynamischen Kampfanzug auflaufen, war für die Pandemiebekämpfung noch nicht mal der gefragt. Es galt auszuharren, nackt oder im Pyjama, wen interessierte das noch.
Gerade zu Beginn machte das Virus Angst - und absolut keine Kauflust. "Das Klima ist infolge der hohen Arbeitslosigkeit und der Einschränkungen im Alltag alles andere als konsumfreundlich", hieß es im "State of Fashion Report 2020 Corona Update“ des Strategieunternehmens McKinsey Anfang April. "Die Einnahmen der globalen Modeindustrie könnten im Jahr 2020 im Vergleich zum Vorjahr um 27 bis 30 Prozent schrumpfen".
Dazu muss man wissen, dass die Modeindustrie zu mehr als 80 Prozent auf den Einzelhandel ausgelegt ist, der über Wochen lahmgelegt war. Aber auch der Onlinehandel litt zu Beginn. "Ein wesentlicher Grund dafür dürfte die über alle Regionen hinweg negative Stimmung der Verbraucher sein, die in Bezug auf die Wirtschaft überwiegend pessimistisch eingestellt sind," hieß es im Report.
Es sind Kleidungsstücke gefragt, die beruhigen
Außerdem geht es in der Mode ums Sehen und Gesehen werden. Nach und nach starb die Motivation, sich zurecht zu machen, da mit dem Lockdown jede Gelegenheit wegbrach, die etwas anderes als einen Jogginganzug gefordert hätte. High heels, Krawatten, Blazer oder business attire waren durchs Homeoffice so wenig von Interesse wie kurzlebige (Fast-Fashion) Trends, die ja doch keiner mitbekam.
In einer globalen Krise sind Kleidungsstücke gefragt, die beruhigen, trösten und mit einem warten, ohne ihren Wert zu verlieren: neutrale Basics, Leggings und umhüllende Sweater, gerne jeden Tag derselbe. Die Nachfrage nach bequemer und sportlicher Kleidung stieg rasant an. In den USA verdoppelten sich dazu die Hausschuh-Verkäufe, auch teurere Modelle wie die gefütterte Ugg-Version oder der viel diskutierte Schaumstoff-Croc waren heiße Ware. Äußere Veränderungen, und gerade Katastrophen, beeinflussen stark, wie Menschen sich kleiden. Während des Krieges war funktionale Kleidung mit militärischem Einschlag gefordert, während der einsamen Covid-Quarantäne der softe Pyjama-Chic.
Für viele Modeunternehmen mit weltweiten Lieferketten ging es nun darum, genug Stauraum für die massenhaft gefertigte Ware zu finden, die weiterhin aus den Produktionsstätten geliefert wurde, aber keinerlei Abnehmer finden konnte. Einige überlegten, einen Teil ihrer 2020-Kollektionen einzulagern und der breiten Masse ein Jahr später zu "verfüttern", wenn die Geschäfte wieder geöffnet und die Kauflust zurück gekehrt sei, so verliere die Kleidung wenigstens nicht ihren Wert.
Dieser strategische Gedanke scheint wie das selbstverschuldete Ende der Mode, wie wir sie verstehen. Ist Kleidung noch Mode, wenn es egal ist, wann man sie trägt? Fallen nicht ihre wichtigsten Charakteristika weg, ihre Funktion als Spiegel des Zeitgeistes, die Begierde, die sie weckt?
Überraschenderweise, nein. Die Überlegung zeigt nur noch einmal deutlich, dass wir eine andere Assoziation zum Begriff Mode im Kleidungskontext entwickeln sollten. "Was Kleidung betrifft, die aus der Mode kommt, da gibt es jetzt so viele verschiedene Arten von Trends und Ästhetiken, dass ich denke, dass die Vorstellung, dass Dinge in oder aus der Mode kommen, heute weniger ausgeprägt ist als vor 10 oder 15 Jahren," sagte Imran Amed, CEO der Plattform Business of Fashion. Denn das Modell nutzt sich ab, ist nicht nachhaltig.
Das Interesse an Mode ist verglichen zum Vorjahr um 30 Prozent zurück gegangen. Und trotzdem ist dieses vielleicht das wichtigste Jahr für die Brance seit langem, weil sie an einem Scheidepunkt steht und sich alles neu ausrichten könnte. "Ich fühle sehr stark, dass, wenn wir am anderen Ende heraus kommen, die Werte der Menschen wirklich verändert sein werden," sagte Anna Wintour, Chefredakteurin der US-"Vogue" Ende April.
Hoffnung braucht die Welt
Ein Fünkchen Hoffnung: Kurz nach ihrer Prognose einer dramatischen Wende der Mode durch die Corona-Krise, im März 2020, kündigte Trend-Forscherin Li Edelkoort ihr neustes Projekt an: das "World Hope Forum". Zusammen mit Philip Fimanno, der als Berater auch an den Büchern von Edelkoorts Firma "Trend Union" mitarbeitet, gründete sie die Plattform, auf der an einem Zukunftsentwurf für ein besseres, sozialeres System gearbeitet werden soll. Alle Beteiligten sollen zusammengebracht, und vor allem die bedacht werden, die unter dem alten Produktionssystem gelitten haben. Das "World Hope Forum" solle als Konterpart des Weltwirtschaftsforum agieren und dessen wirtschaftlich gelenkten Entscheidungen ausgleichen.
"Unter dem Druck des Covid-19-Virus haben viele Menschen verstanden, dass sie ihre Verhaltensmuster ändern sollten. Nicht länger zu viel reisen, zu viel produzieren, zu viel konsumieren, oder zu viele Ressourcen aufbrauchen. Der Komfort, zu Hause zu sein und von zu Hause zu arbeiten, Zeit anstatt Geld zu verschwenden, hat Menschen von ihrer Sucht nach Materiellem entfernt," so steht es im Manifest des Forums. Für die Gründer stehen Menschen vor Profiten, Produktionsketten sollen überdacht, das Angebot der Nachfrage angepasst werden. Sie sagen voraus, dass Kleidung uniformer und mehr auf ihre notwenige Funktion reduziert werden wird, ihre Produktion immer regionaler angesiedelt werde. "Desaster sind dafür bekannt, mächtige Motoren für radikale Wege zu sein, um die Geschäftspraktiken zu verändern."
Eine Gruppe aus Akteurinnen der Modebranche, geleitet von dem belgischen Modedesigner Dries van Noten, verband sich virtuell, um ihre Visionen über einen pandemiebedingten Strukturwechsel auszutauschen. Noch im Frühling kündigten sie in einem offenen Brief an, die Wintersaison zurück in den wirklichen Winter zu verlegen, die Sommersaison in den Sommer und Rabatte rarer einzusetzen. Außerdem wollen sie nachhaltiger arbeiten, beispielsweise durch digitale Showrooms und weniger Produktverschwendung.
Anfang Dezember schloss sich das van Noten-Forum mit der Initiative "Rewiring Fashion" zusammen, die sich seit Pandemie-Start für ähnliche Ziele einsetzte. Die Unterstützter sind zwischen vielen weiteren Missoni, Prabal Gurung, Rodarte und Anya Hindmarch. "Es ist Zeit, langsamer zu werden, und das Geschichten erzählen und die Magie der Mode wieder zu entdecken," erklären sie und diskutieren neben einem angepassten Saison-Kalender ein neues Modell der Fashion Week.
Eine blasse Erinnerung: Im Frühling 2020, als die Mode für diesen Winter präsentiert wurde, überflutete die erste Covid-Welle den Modemonat. Die Teilnehmenden verließen fluchtartig Paris oder Mailand, als immer deutlicher wurde, dass ein Zusammenkommen hunderter Menschen aus aller Welt auf engstem Raum während einer um sich greifenden Viruserkrankung unglücklich ist. Es folgte das Online-Modell. Influencer bekamen als Einladung einen Code zum Livestream, verfolgten die Show vor ihren MacBooks und präsentierten die ihnen zugeschickten "Total-Looks" auf Instagram.
Progressive Designer wie die Französin Marine Serre oder die Dänin Cecilie Bahnsen zeigten ihre Kollektionen in erzählerischen Kurzfilmen, das Label Y/Project nutzte das Format, um die vielseitigen Kombinationsmöglichkeiten seiner einzelnen Kleidungsstücke vorzuführen. Aber nicht alle handelten Covid-bewusst. Einige große Modelabels luden ein zur Abstands-Show mit Maske, verlegten die Location nach draußen, andere taten gar, als wäre nichts gewesen. Die meisten setzten auf das Konzept der "phygitalen" Fashion Week, bei welchem der Content zwischen digital und physisch existent balanciert wird. Trotz aller innovativen Ansätze seien die Designer in den sozialen Medien am erfolgreichsten gewesen, die ihre Präsentationen so wenig wie möglich eingeschränkt hätten, erklärte Tracy David von der Social-Media-Analyse-Platform "ListenFirst".
Schade eigentlich, denn eine Studie des digitalen Versandhauses Ordre zeigte kürzlich, dass der Modemonat von nur einer Saison normalerweise 241.000 Tonnen CO2 verursacht. Mit einem knappen Jahr Pandemie-Erfahrung haben sich die Prioritäten der Kunden jedoch verändert, nicht anders als erwartet, aber viel schneller. Qualität, Nachhaltigkeit und Bequemlichkeit wünschen sie sich nun, wollen etwa den zu Hause erlebten Komfort nicht mehr missen, auch, wenn der Büroalltag sich normalisieren sollte.
Die sogenannte "Comfortwear" wird also präsent bleiben, was laut Valerie Steele, Direktorin and Chef-Kuratorin des Museums des New Yorker Fashion Institute of Technology (FIT), vorauszusehen war: "Alle sehen die Pandemie als den Auslöser der 'Casualifictaion' der Mode, aber der Trend dahin existierte schon vorher. Dress Codes wurden schon vor der Pandemie relaxter, und auch Kleidungsstücke wie High Heels wurden schlechter verkauft, weil Menschen eher zu Sneakern griffen".
Im Jahresabschluss-Bericht von McKinsey & Company zeigen jüngste Daten, dass die Akzeptanz fürs Digitale von Verbrauchern sowie Unternehmen innerhalb weniger Monate um fünf Jahre vorangetrieben wurde und 76 Prozent der erfolgreichsten Marken des Jahres einen stabilen Onlineauftritt vorweisen konnten. Gewinner sind auch Modefirmen, die sowohl ihre Angestellten als auch die Umwelt mit sichtbarem Respekt behandeln, das Geschehen hinter den Preisen und fertigen Kleidungsstücken findet immer mehr Interesse.
Langsam entsteht ein bewusster Konsum
Durch die Corona-Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt müssen viele Menschen ihr Geld bedachter ausgeben und möchten dann ihre Investition gut eingesetzt wissen. Sie bevorzugen nachhaltige Produkte, kaufen eher regional und bei kleinen, unabhängigen Geschäften. "Ich habe das Gefühl, dass langsam ein bewusster Konsum entsteht," sagt auch Eliza Edwards, Gründerin der journalistischen Plattform "Slow Exposure", mit der sie gerade jenen bedachten Konsum fördern möchte. "Ich hoffe, dass sich immer mehr Menschen informieren und ihre Art des Verbrauchs langfristig ändern werden. Vor allem müssen sie aber weniger Fast Fashion konsumieren, um etwas zu bewirken."
Der Gewinn des Fast-Fashion-Paradebeispiel Primark’s sank im Corona-Jahr von 969 auf 362 Millionen Britische Pfund, was neben den langen Schließungen der Filialen auch an den neuen Ansprüchen der Kunden lag. Profitieren wird wohl, wer sich diesen nicht verschließt. Das sind Modelabels, die nicht an saisonalen Kollektionen festhalten, alternative Geschäftsmodelle annehmen und transparent arbeiten. Und davon gibt es schon einige.
Das französische Lemaire etwa baut seine Kollektionen so auf, dass neue Stücke die bestehende Garderobe ergänzen, aber nicht ersetzen sollen. Für AVAVAV, das neueste "Baby" der Monki-Gründer Linda und Adam Friberg, wird deadstock, also Ladenhüter-Material anderer Modehäuser, verwendet. Übers Jahr verteilt werden mehrere kleine Kollektionen veröffentlicht, sodass es nicht zur Überproduktion kommt. Bei dem französischen Label Maison Cléo wird jedes Stück von der Mutter der Gründerin, Marie Dewet, selbst genäht. Das Duo arbeitet mit ausrangierten Stoffen großer Couture-Häuser und wurde auf Instagram für seine voluminösen Seidenblusen beliebt. "Wir bieten keine Kollektionen an, sondern neue Designs, angepasst an die Saison, an unsere Wünsche und die Materialien, die ich finden kann," schreibt Marie Dewet auf der Website. Auch zeigt sie auf Instagram eine komplette Kostenübersicht für die Produktion ihrer Kleidungsstücke.
Im Frühjahr kam Instagram als stumpf-blubbernde Ablenkung während des ersten Schocks sehr gelegen. Doch bald rutschten zwischen Throwbacks und Katastrophen-Memes auch immer mehr Accounts neugegründeter Selfmade-Marken in den Feed. Neben kurierter Vintage-Ware wurden gehäkelte Beutel, Keramik, handgenähte Unterwäsche für Unisexkörper, selbstgefärbte Leinenhemden und Kleidung aus umfunktionierten Materialien angeboten, hand- und hausgemacht.
Li Edelkoorts Prognose über das Erinnern an vergessene Fertigungstechniken bewahrheitete sich. Die gewonnene Zeit der Zwangsquarantäne gepaart mit dem beruhigenden Effekt der Handarbeit ließen kleine, zirkular funktionierende Geschäftsmodelle sprießen. Doch auch die Marktlücke, die sich durch die Geburt eines völlig neuen Kleidungsstückes auftat, ermutigte viele zur Eigenproduktion. Die Atemschutzmaske enterte 2020 unerwartet den globalen Mund-Nase-Bereich, wurde viel diskutiert und blieb schließlich als verordnetes Zubehör.
Eine Hochphase des Upcycling begann. Bald gab es ein Masken-Angebot unterschiedlichster Formen, Farben und Materialien, aus Stoffresten oder Seidenschals, mit Schleifen, Goldkette oder Brillenband ausgestattet. Während Handtaschen beinahe überflüssig wurden, erschlich sich die Atemmasken den Status als Accessoire des Jahres - auch wenn nicht alle Modelle medizinischen Standards genügen. Inzwischen haben modebewusste Menschen eine Auswahl parat: “Ich habe mehrere Masken und ich trage sie, wie auch meine anderen Accessoires, wie sie am besten mit meinem Outfit harmonieren,“ erklärte die "Sex and the City"-Stylistin Patricia Field der "New York Times".
Wer als größeres Label das Potenzial und die Notwenigkeit des Mund-Nasen-Schutzes früh erkannte, machte big business. Hillary Taymours nachhaltige Marke Collina Strada, mit der sie als eine der ersten in die Maskenproduktion einstieg, erschien zu 600 Prozent häufiger in der Google-Suche als vor der Pandemie. Van Laack, ein deutscher Modehersteller, erlebte sogar eine Renaissance durch sein zeitig angebotenes Masken- und Kittel-Sortiment. Die Firma ergatterte sogar einen lukrativen Deal mit dem Land Nordrhein-Westfalen, der allerdings umstritten ist, weil er vom Sohn des Ministerpräsidenten Armin Laschet (CDU) eingefädelt wurde.
Der Firmenchef erzählte "Fashion United": "Allein im ersten Halbjahr 2020 haben die Deutschen pro Kopf 53 Euro für Masken ausgegeben, im gesamten Jahr 2019 waren es im Schnitt aber nur 26,50 Euro für Hemden. Damit will ich sagen: Die Maske ist als Produkt total unterschätzt worden in der Branche." Heute stehen Masken etwa auf einem Level mit Socken, sie taugen als pragmatisches Geburtstagsgeschenk, baumeln neben Haargummis am Handgelenk und auf "Vogue Online" gibt es einen Guide für die angesagtesten Modelle, wie damals für schmale Sonnenbrillen oder klobige Turnschuhe.
Masken enttarnen ihren Träger als Minimalistin, Markenfanatiker, sanften Romantiker oder Trash-Lover - und irgendjemand trägt wohl auch die lederne Toucan Mask von Thomas Finney in Form eines Pelikanschnabels. Egal wie klein der ihr gegebene, textile Raum: Kleidung wird nicht ihre Funktion verlieren, zu kommunizieren, wer wir sind.