Wer zu Weihnachten bei den Eltern auf dem Land mal über etwas anderes als das ewige Corona-Thema sprechen will, sollte diese Frage ausprobieren: "Hey, wie findet ihr eigentlich, dass in euren Wäldern wieder Wölfe leben?" Kann sein, dass die Stimmung dann nicht unbedingt besser wird – aber lebhafter wird's allemal.
Bis Corona alles durcheinander wirbelte, hat das Tier, das sich seit 20 Jahren in Deutschland rasant ausbreitet, jede Menge Zorn auf sich gezogen. Da ist der Onkel, der einen riesigen Aufkleber mit durchgestrichener Wolfssilhouette auf dem Heck seines SUVs gepappt hat. Da sind die Förster, die von mysteriösen Fällen von Wilderei berichten, von geköpften oder völlig von Schrot durchsiebten Wolfskadavern. Da sind die sogenannten Wolfswachen in der Nachbarschaft, "Mahn- und Solidarfeuer gegen die uneingeschränkte Ausbreitung der Wölfe". Die schnelle Vermehrung der Wolfsrudel und ihr strenger staatlicher Schutz bedeuten für die Nutztierhaltung tatsächlich große Herausforderungen, aber manche Proteste erinnern mehr an archaische Abwehrzauber als an politischen Widerstand.
Die Heftigkeit der Zurückweisung lässt den Verdacht aufkommen, dass es dabei nicht allein um die unmittelbaren Probleme mit der Wolfsansiedlung geht, sondern auch um den Graben zwischen Stadt und Land: In fernen Zentren entscheiden offenbar tierliebe, aber vermeintlich realitätsfremde Eliten, womit sich Peripherie-Bewohner dann herumschlagen müssen. Wird der Wolf also ein Symbol für einen Kulturkampf, der im Grunde nichts mit ihm zu tun hat?
Dabei war er doch als umherstreifendes Wesen gleichzeitig immer auch ein Symbol für individuelle Freiheit, Einzelgängertum und Ablehnung von Regulierungen. Das macht den von oben verordneten Artenschutz und die Proteste dagegen so ambivalent.
Bruder Wolf
Natürlich spielt auch eine lange Ideen- und Gefühlsgeschichte des Wolfangst eine große Rolle, wenn die Maßnahmen zum Schutz des Tieres auf eine dermaßen emotionale Ablehnung stoßen. Das zeigte etwa Petra Ahne 2016 mit ihrem kleinen Band "Wölfe" aus der "Naturkunden"-Reihe von Matthes & Seitz. Darin heißt es: "Nur wo sich der wilde und der domestizierte, kultivierte Raum als sich ausschließende und zugleich bedingende Konzepte entwickelten, war der Hass auf den Wolf absolut." Der Wolf "musste herhalten, damit der Mensch eine Grenze ziehen konnte zwischen dem warmen Drinnen der Gesellschaft und einer feindlichen, bedrohlichen, nahtlos in eine unkontrollierbare, triebhafte Natur übergehenden Draußen." In den Jägergesellschaften sei der Wolf hingegen zwar auch Konkurrent gewesen, "aber einer mit dem gleichen Los: Um zu überleben, musste er Wildtiere erlegen."
Um das zu belegen, verweist die Kunsthistorikerin Ahne auch auf Kunstwerke, etwa auf dieses Gemälde, das eine Art Verbrüderung zwischen Wolf und Mensch in der indigenen Jägergesellschaft Nordamerikas andeutet:
Der empathische Blick auf den "Bruder Wolf" hat sich bis in die Gegenwartskunst gehalten, ja vielleicht sogar verstärkt durch die nomadische Lebensweise vieler heutiger Künstlerinnen und Künstler, die ein Mitgefühl für den ebenfalls nomadischen Wolf zulässt. In dem gerade erschienenen Band "Wald. Wolf. Wildnis", Katalog zu einer Ausstellung in Bitburg (auch die Eifel ist inzwischen Wolfsland), zeigt eine bearbeitete Fotografie von Shaarbek Amankul eine menschliche Figur mit Wolfskopf und -pranken, die ein Gewehr halten. Der Wolfsmensch sitzt in einer Art Jurte umgeben von Wolfsfellen. "My brother is my enemy" nennt der aus Kirgisien stammende Künstler das Bild:
Verändert die reale Präsenz von Wolfsrudeln nach über 150 Jahren in Mitteleuropa das Bild von den Tieren? Einige Bilder der Künstlerin Gisela Kohn, auf deren Initiative die "Wald. Wolf. Wildnis"-Ausstellung zurückgeht, basieren auf Aufnahmen von Infrarot-Wildkameras. Der Wolf steht hier nicht mehr für irgendetwas anderes, sondern für sich in seiner puren Faktizität: Ich bin hier.
Doch ansonsten überrascht "Wald. Wolf. Wildnis" mit einem ziemlich märchenhaften Blick auf den Wolf: In der Dämmerung, auf überwachsenen Pfaden passiert das Wundersame, da treffen sich Wolf (Inbegriff des Räuberischen) und Kind (Inbegriff der Unschuld) wie in dem Gemälde "Fairytale" (2020) von Miriam Vlaming und in Malgosia Jankowskas Zeichnung "Wald mit Hochsitz" (2012). Hier wird die Utopie real, dass die Grenze verwischt zwischen der Wildnis und dem "warmen Drinnen der Gesellschaft", repräsentiert als ein Haus bei Vlaming, als Hochsitz bei Jankowska.
Wolf und Mensch sind sich nicht mehr gegenseitig Beute.
"Die hitzige Debatte, die die Rückkehr des Wolfes begleitet, ist im Kern eine Debatte darüber, wie wir in Zukunft leben wollen", schreibt Gisela Krohn in einem Manifest. "Sehen wir uns als Teil der Natur und geben ihr deshalb gleichzeitig den Raum zur Entfaltung, den sie braucht?" Diese Frage hat für Krohn das Potenzial, auch den Kern der Kunst zu berühren: "Angesichts der rücksichtslosen weltweiten Zerstörung der Natur und der Lebensräume von Mensch und Tier, stellte ich mir auch die Frage: Wo stehe ich? Was kann ich bewegen, bleibe ich alleine oder möchte ich mich vernetzen und eine spannende Debatte aus verschiedenen Perspektiven entwickeln?"
Tatsächlich hat die Kunst in den vergangenen zehn Jahren auf Anregung der neueren philosophischen Strömung des Spekulativen Realismus versucht, Mittel zur Überwindung des anthropozentrischen Naturverständnisses zu schaffen. In "Wald. Wolf. Wildnis" wirkt die Darstellung jedoch oft romantisch, manchmal scharf am Kitsch vorbei. Auf den ländlichen Familienfeiern und Wolfswachen wird gerade das den städtischen Entscheidungsträgern vorgeworfen: Sie hätten einen verklärten, also dann doch anthropozentrischen Blick auf die Natur und deren Gefahren.
Auch in der Berliner Galerie Neugerriemschneider sind zurzeit drei Wolfsbilder zu sehen, gemalt von Billy Childish. Auch sie wirken eher wie Metaphern. In dem Raum hängen nämlich ansonsten Selbstporträts des Künstlers und Musikers, in denen klassische Darstellungen solitärer Künstlerfiguren wie Vincent van Gogh widerhallen. Lassen sich Childishs Wölfe anders lesen als Analogien zu den Einzelkämpfern der Kunst?
Vielleicht ist der Wolf noch als archetypische Erscheinung und kunsthistorische Konstante zu stark, um ihn tagespolitisch aktualisiert neu in der Kunst zu verorten. Vorerst bleibt offenbar nur der nüchterne Blick auf die Biologie und Statistik, um den tatsächlichen Umgang mit dem Wolf neu zu lernen.