Auf den ersten Blick ist es ein unscheinbarer Gürtel, geflochten aus Kalbslederriemen mit zahlreichen kleinen Einbuchtungen, in denen Patronen verstaut werden können. Lange ruhte der Patronengurt unbeachtet im Archiv des Städtischen Museums Braunschweig, das über vielfältige Sammlungen von Gemälden und Grafiken über Kunsthandwerk und Musikinstrumente bis zu ethnografischen Objekten verfügt.
Aktuell steht das Stück jedoch exemplarisch für einen tief greifenden institutionellen Wandel im Umgang mit dem Erbe und den Relikten jener Kolonialvergangenheit, die Kulturministerin Monika Grütters einmal als "blinden Fleck in der deutschen Erinnerungskultur" bezeichnete.
Als Museumsdirektor Peter Joch vor drei Jahren ans Stadtmuseum kam, hatte er ein Ziel: Er wollte die ethnografischen Exponate der im 19. Jahrhundert gegründeten Institution nicht länger unkritisch als schön und geheimnisvoll präsentieren.
Stattdessen soll es künftig vermehrt um die Herkunftsgeschichte der zumeist aus Afrika stammenden Objekte gehen, die in dem mit exotistischen Maskenreliefs dekorierten Gebäude ausgestellt werden. "Afrika ist ein Kontinent, der bis heute durch eine derartig krude Ausbeutung geprägt ist, dass wir diese Geschichte unbedingt zeigen müssen", erklärt Joch.
Letzte Reliquie des Märtyrers
Aktuell wird am Museum in Zusammenarbeit mit Historikern der Ovambanderu untersucht, welche Rolle der Ledergurt in einer Geschichte der Ausbeutung und Unterdrückung einnahm. Die deutschen Kolonisten raubten dem südwestafrikanischen Volksstamm Vieh und Weideland und nahmen ihm damit die Existenzgrundlage. Im Jahr 1896 kam es zu einem Aufstand, der brutal niedergeschlagen wurde. Der Stammesführer Kahimemua Nguvauva stellte sich den Kolonialherren entgegen und wurde entwaffnet von Gustav Voigts, einem Braunschweiger Auswanderer, der als Händler nach Deutsch-Südwestafrika gegangen war. Vor seiner Hinrichtung nahm Voigts ihm auch einen Patronengurt ab, den er später dem Städtischen Museum Braunschweig übergab.
Ob es sich bei dem Ledergürtel, der nun im Archiv des Museums liegt, um ebenjenen Gurt handelt, ist noch nicht abschließend geklärt. Voigts übergab ihn unter Eigentumsvorbehalt, in den 1960er-Jahren verlor sich die Spur des Gurts. Dass Joch und sein Team aktuell mit allen Mitteln versuchen, ihn zu identifizieren, liegt an seiner besonderen kulturellen Bedeutung für die Ovambanderu. Durch sein Märtyrertum wurde Kahimemua, der den Untergang des Deutschen Reichs prophezeite und der Legende nach erst durch den zwölften Schuss niedergestreckt wurde, zu einer Art Heiligenfigur.
Da er kurz vor seiner Hinrichtung seine über Generationen weitervererbte Ahnenschnur ins Feuer warf, um ihren Raub zu verhindern, ist der Gurt die letzte verbleibende Reliquie des für die Identität der Ovambanderu so wichtigen Führers.
Dialog mit Herkunftsgesellschaften
Im Falle einer korrekten Identifizierung plant das Museum, das Objekt an die Ovambanderu und den Staat Namibia zurückzugeben. Der Gurt sei zentral, so Joch, für die "Erinnerung an diese legendäre Heldenfigur, die dafür steht, nicht alles mit sich machen zu lassen". Der Kunsthistoriker ist sich der kulturellen Stummschaltung bewusst, unter der der Stamm noch über ein Jahrhundert später leidet.
Die Zusammenarbeit mit den Historikern der Ovambanderu dient dementsprechend nicht allein dem Erkenntnisgewinn, sie soll dem Stamm auch eine Sprecherposition in einem Diskurs eröffnen, der lange Zeit einseitig verlief. Aktuell arbeitet der Ethnologe Rainer Hatoum an einer kompletten Umstrukturierung der Dauerausstellung des Hauses, in der künftig kolonialgeschichtliche Hintergründe eine zentrale Rolle spielen sollen. Nach einer möglichen Rückgabe des Gurts will er den Ovambanderu einen eigenen Raum bereitstellen, in dem sie aus ihrer persönlichen Perspektive die Geschichte ihres Volks nacherzählen können.
Der Dialog mit den afrikanischen Herkunftsgesellschaften soll auch mithilfe von zeitgenössischer Kunst angeregt werden – vergangenes Jahr durch den flächigen, farbintensiven "Zyklus Afrika", in dem die Malerin Ruth Baumgarte die Menschen porträtierte, denen sie auf ihren rund 40 Reisen durch Süd- und Ostafrika begegnete; aktuell mit einer Ausstellung über das in Burkina Faso realisierte Operndorf-Projekt des Künstlers Christoph Schlingensief, der bis zu seinem Tod an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig lehrte.
Peter Joch ist sich sicher: Wer heute eine ethnologische Sammlung zeigen will, muss diese als Ort der Kommunikation konzipieren. Aus moralischer Verpflichtung – aber auch um starren Sammlungsobjekten widerstrebende und mitreißende Geschichten zu entlocken, die ein verstaubtes wissenschaftliches Feld zur lebhaften Praxis werden lassen.