Vergessene Surrealistinnen

Es gibt noch andere Verlangen als Erotik

Im Surrealismus kommen Frauen vor allem als sexualisierte Musen der Männer vor. Dabei haben auch Künstlerinnen fantastische innere Welten auf die Leinwand gebracht. Endlich werden sie gewürdigt

Die Zeiten eigenen sich gut für eine Introspektion, für das Betrachten innerer Welten, die sich nicht an der Wirklichkeit orientieren müssen. Was zeigt sich, wenn die Ratio nicht eingreift? Welche Bilder entwickeln sich im Innern, wo alles möglich ist? Die Schirn in Frankfurt hatte einige Wochen vor der Pandemie-bedingten Schließung die Ausstellung "Fantastische Frauen" eröffnet, die einen ganz neuen Blickwinkel auf den Surrealismus wirft. Und die vor dem Shutdown von Kulturinstitutionen für lange Schlangen vor dem Museum sorgte.

Die Kunstrichtung der systematischen Innerlichkeit, die sich in gegenständlicher, fantastischer Malerei ausdrückt, war eigentlich immer sehr feminin: Ob als Göttin, Teufelin, Traumfiguren oder Mutter Erde selbst – in der Malerei waren Frauen und andere weibliche Wesen zahlreich vertreten. Das Problem: Aus dieser populären Kunstrichtung kennt man vor allem seine männlichen Vertreter wie Salvador Dalí, Max Ernst oder Man Ray. Mit ihren schwebenden, sanduhrförmigen Geschöpfen, ephemeren Musen, hingegossenen Fabelwesen war die Motivlage weiblich, kreiste aber in erster Linie um die Erkundung des männlichen Begehrens.
 
"Die Frau ist Wahrheit, Schönheit, Poesie, ist Alles: wieder einmal alles in der Gestalt des Anderen, Alles, außer sie selbst", beschrieb Simone de Beauvoir bereits 1949 am Beispiel der Schriften André Bretons die problematische Verabsolutierung der Frau im Surrealismus. Künstlerinnen wie Meret  Oppenheim oder ihre Freundin Leonor Fini reagierten mit Gegenentwürfen auf das stereotype Geschlechterbild ihrer Kollegen. Leonor Finis Umkehrung des kunsthistorischen Topos der schlafenden Venus zählt zu den vielen wirklich fantastischen Gemälden dieser bahnbrechenden Schau: Ihre Bildnisse von nackten, schlafenden und wehrlos-passiven Männer sind selbst heute noch überraschend und seltsam berührend.

Viele der Namen waren Expertenwissen - oder gar nicht bekannt
 
Die Kuratorin Ingrid Pfeiffer hat in vielen Jahren der Recherche an die 260 Gemälde, Collagen, Zeichnungen und Skulpturen von 36 Künstlerinnen des Surrealismus zusammen getragen. Genug Werke, um jeweils eine evidente Übersicht zu geben. Die Qualität der Arbeiten ist dabei genauso erstaunlich wie die Tatsache, dass viele der Namen bislang Experten-Geheimwissen waren, oder auch überhaupt nicht bekannt.
 
So kommt gleich nach dem Staunen über die vielen guten Kunstwerke die Frage, woran es liegt, dass bis heute in vielen Handbüchern und Überblicksausstellungen zum Surrealismus die Namen und Werke dieser Künstlerinnen fehlen. Stattdessen wiederholen sich immer dieselben Figuren. Das Problem betrifft die gesamte Kunst und nicht nur den Surrealismus: Die neuen Erkenntnisse aus der Forschung fließen nur langsam in die Erzählung ein. Zum anderen hat die Kunstgeschichte den Surrealismus zeitlich eingegrenzt und die Bewegung mit dem Zweiten Weltkrieg für beendet erklärt. Damit geriet alles aus dem Blickfeld, was danach entstand. Doch die Surrealistinnen, die in der Schirn vorgestellt werden, arbeiteten oft noch bis in die 60er- und 70er-Jahre an ihrem Oeuvre, das sie vor dem Krieg begonnen hatten.

Max Ernst war neidisch auf den Erfolg von Meret Oppenheim

Meret Oppenheim schuf mit ihrem "Frühstück im Pelz" eine Ikone des Surrealismus, die Skulptur wurde vom MoMA angekauft. Ihr Gefährte und Liebhaber Max Ernst war darauf so neidisch, dass er sie bösartig diffamierte. Die Felltasse wird nicht mehr ausgeliehen, so gibt sie gewissermaßen den Blick frei auf das vielseitige Werk von Oppenheim. Das "Auge der Mona-Lisa" von 1967 ist von einer witzigen Klugheit, die es mit Duchamp aufnimmt. Das Querformat zeigt nur das linke Auge der Mona Lisa. Das relativ kleine Gemälde ist als konzeptuelle Malerei genau so frappierend wie als scharfsinnige Umkehrung der Blickrichtung: Diese berühmteste aller Frauen in der Kunst schaut zurück. Und ihr mythisch überhöhtes Lächeln, es liegt nicht auf ihren Lippen sondern in diesem intelligenten Auge, das fast ein bisschen spöttisch blickt, wenn man es so isoliert von all dem die "Mona-Lisa" umgebenden Genie-Gewese.
 
Während von männlichen Surrealisten wenige Selbstporträts existieren, sind sie bei den Künstlerinnen oft zu finden. Viele von ihnen waren bereits von den männlichen Kollegen porträtiert worden: Meret Oppenheim als Akt an der Druckmaschine, Unica Zürn von Hans Bellmer als verschnürte Puppe. So ging es nicht nur um eine Identitätssuche, sondern auch um das Ausbrechen aus einer schon vorgezeichneten Figur. Leonor Finis männliche schlafende Akte werdem von wachen, starken, bekleideten Frauenfiguren überragt.

"Ein Akt ist eine Aussage über das Menschsein"
 
Dabei ist für die meisten Künstlerinnen die obsessive, explizite Auseinandersetzung mit Sexualität, wie sie bei Salvador Dalí, Man Ray, André Masson oder Hans Bellmer zu finden ist, vergleichsweise unwichtig. "Wenn ich schwebende Akte male", sagte Dorothea Tanning, "dann ist das eine Aussage über das Menschsein. Manche glauben, dass es dabei um Erotik ginge." Es sei absurd, dass alles, was unerklärbar sei, auf Sexualität zurückgeführt werde. "Gewiss ist sie ein enorm starker Antrieb. Aber es gibt durchaus noch andere Verlangen, die sich nennen lassen, das nach Ruhm, für etwas zu brennen, das nach Liebe und Wissen. Mir gefällt die Vorstellung, dass etwas davon zu spüren ist, wenn man meine Bilder betrachtet."
 
Meret Oppenheim, die britisch-mexikanische Leonora Carrington oder Dorothea Tanning wollten weder "Surrealistin" genannt werden noch ihre Werke in Ausstellungen nur mit Arbeiten von Frauen ausstellen. Trotzdem ist die Gruppenschau "Fantastische Frauen" richtig, als entschlossene starke Setzung, an der es künftig schwer sein wird, vorbei zu kuratieren. Zumal die Künstlerinnen schon damals heutige Diskurse anklingen ließen oder sogar radikal auslebten: Die Themen der Androgynität und des dritten Geschlechts finden sich bei Claude Cahun oder Meret Oppenheim. Leonora Carrington lässt sich als poetische und furiose Ökofeministin lesen. Und alle Künstlerinnen eint die Suche nach alternativen Erzählungen, einer individuellen Ausdrucksweise, die frei ist von den an Frauen gerichteten Standard-Erwartungen.

Das New Yorker Museum of Modern Art plant eine Meret-Oppenheim-Retrospektive für 2022. Gemeinsam mit dieser Ausstellung und den bereits in England gezeigten Schauen zu Dorothea Tanning und Leonora Carrington könnten sie die Kunstgeschichte fundiert umschreiben.