MARCEL ODENBACH: Ich weiß noch genau, wie ich Michael 1972 kennenlernte. Ich arbeitete damals aushilfsweise bei der Galerie Ricke in der Lindenstraße in Köln, ich saß am Fenster und sah auf der gegenüberliegenden Seite der Straße eine Figur mit roten Schuhen und goldenem Schal. Ich dachte: Wer ist das denn? Da sah der mich, kam über die Straße und in die Galerie. Er sagte, dass er auch hier ausgestellt habe. Dann lud er mich zu einem Fest in der Gilbachstraße, wo er Atelier und Wohnung hatte. Ich ging hin, besuchte ihn dann immer wieder, und bald waren wir ununterbrochen zusammen.
INGVILD GOETZ: Ich lernte Michael kennen, als er noch in der Gilbachstraße wohnte. Wir haben uns gesehen und uns auf Anhieb unglaublich gut verstanden. Ich fing auch sofort an, seine Werke zu sammeln, um diese schillernde Figur irgendwie einfangen zu können.
MARCEL ODENBACH: Michael brauchte immer Menschen um sich. Je mehr Menschen, desto besser konnte er arbeiten. Das Publikum brachte Intensivierung. Als ich ihn kennenlernte, machte er die Sachen, mit denen er dann bekannt geworden ist, also nicht mehr die zerrissenen Tücher, sondern er arbeitete mit Menschen und mit ganz viel Materialien. Michael hatte damals die ersten Reisen hinter sich, in den Senegal und nach Persien.
ASTRID KLEIN: Michael pendelte seit Anfang der 70er-Jahre zwischen Marokko und dem Rheinland. Er bereiste den Maghreb, den Nahen Osten, Südeuropa und Schwarzafrika. Er interessierte sich für die Kulturen und tauchte dort ein.
MARCEL ODENBACH: Bei ihm wohnten Gäste aus Persien, aus Marokko, aus der Türkei. Die erste arabische Musik, die erste Platte von Umm Kulthum aus Ägypten habe ich bei ihm gehört, dort sah ich zum ersten Mal Miniaturen aus Persien. Michael ging an die Ecke zum Mehmed, ein Türke, der mit der Wilma eine Kneipe betrieb. Oder wir gingen persisch essen, das haben 1972 nicht viele aus der Kunstszene gemacht. Da kamen immer zehn Leute mit. Ganz anders als heute gab es eine Aufbruchstimmung im Umgang mit fremden Kulturen.
INGVILD GOETZ: Ich war häufig in Indien zu meiner Hippiezeit. Dort faszinierten mich die Farben und die Spiritualität, die verrückten Gedanken und die große Gelassenheit. Der Kurator Harald Szeemann ordnete Michaels Arbeit in den individuellen Mythologien ein. Das war mir sofort verständlich. Ich besuchte Michael früh in Marrakesch. Er lebte in der Nähe der Djemaa el Fna und kannte dort viele Magier und Hexen, die er mir auch vorstellte. In diesem Umfeld fühlte ich mich sehr zu Hause. Er umgab sich immer mit besonderen Persönlichkeiten. Seine Haushälterin war eine Wahrsagerin, eine tolle Frau, die mir viel geweissagt hat, was ich für Unsinn hielt. Später ist alles, was sie voraussagte, eingetreten.
MARCEL ODENBACH: Es war eine Zeit, in der Abiturienten im VW-Bus nach Afghanistan gefahren sind. Köln war geprägt von Subkulturen. Es gab ein großes Rotlichtmilieu, Straßen, die total runtergekommen waren, viele Schlupflöcher und Hippieläden in Baracken, wo man dann die Samthosen mit Schlag kaufte. Aber selbst in dieser Szene fiel Michael auf, weil er extrem viel wegfuhr und sich so stark für orientalische Länder interessierte. Die Kunstszene war westlich geprägt. Künstler fuhren mal nach New York oder in europäische Städte. Michael hat sich und anderen unbekannte Kulturkreise geöffnet.
ASTRID KLEIN: Er hatte ja bereits 1969 an Szeemanns Ausstellung "When Attitudes Become Form" teilgenommen. Als ich ihn Ende der 70er-Jahre kennenlernte, war er ein Star ohne Allüren. Die Installationen, die ich gesehen hatte, haben mich sehr fasziniert, auch wenn es nicht meine Welt war. Für Michael waren Spiritualität und Schönheit wichtig, was sich auch in seinen Arbeiten zeigt. Gleichzeitig war er Melancholiker, und die Werke zeigen auch die Risse und die andere Seite der Schönheit. Das war das, was ihn großartig machte.
INGVILD GOETZ: Seine Homosexualität spürt man vielleicht in manchen Arbeiten, die sehr weibliche, sehr zärtliche Momente haben.
MARIETTA FRANKE: Als Künstler und im Feld seiner Sexualität war er sehr frei, als das in Deutschland noch problematisch war. Er hat schon unglaubliche Statements abgegeben, indem er seine Homosexualität in seiner Kunst aufleuchten ließ.
MARCEL ODENBACH: Er schuf sich mit der Kunst eine Welt als Gegenposition zu dem, woher er kam. Michael kam vom Land, aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Er wuchs als uneheliches Kind bei seiner Mutter und deren Schwester auf. Tante Lisbeth und seine Mutter sind immer Teil seines Alltags geblieben. Und er wurde im Kloster erzogen und war stark durch die katholische Religion geprägt. Kunst war für ihn auch ein Weg der Befreiung von seiner Kindheit. Vielleicht habe ich durch Michael verstanden, dass die autobiografische Last auch zum reichhaltigen Fundus für die eigene Arbeit werden kann.
INGVILD GOETZ: Ein großes Thema war seine Kindheit und Jugend in Höxter. Das Überbetuliche von Müttern ist oft Gegenstand seiner Werke. Sein Cousin, der auf Ibiza lebte, war ein früher künstlerischer Einfluss. Der hat Leinwände bemalt, zerschnitten, zerrissen und wieder zusammengenäht. Frühe Arbeiten von Michael haben mit dessen Arbeiten Ähnlichkeit. Er ist sehr frech mit Leinwänden umgegangen. Ismen interessierten ihn nicht.
HANS ULRICH OBRIST: Und doch war er nicht völlig isoliert in der Kunstgeschichte. Es gab einige Künstler, die sich wie er individuellen Mythologien hingaben. Und auch andere Künstler der Zeit beschäftigten sich mit dem Osten: Alighiero Boetti, David Weiss, Sigmar Polke. Das Verwischen der Grenzen von Kunst und Leben erinnert an Allan Kaprow. Auch James Lee Byars, der ebenfalls Gold als Material benutzte, ist sicher ein Wahlverwandter.
MARCEL ODENBACH: Anfang der 80er-Jahre ist Michael in den Kölner Stadtteil Ostheim gezogen und arbeitete in einem riesigen Stellwerk der Verkehrsbetriebe. Udo Kier und ich sind ihm bald gefolgt. In Ostheim lebten damals schon viele Menschen mit Migrationshintergrund. Michael bot ihnen ein offenes Haus und eine Idee von Heimat. Die Wände waren rot gestrichen, die Vorhänge golden, die Einrichtung hatte er aus Afghanistan mitgebracht. Eine Fantasievorstellung vom Orient. Michael hat sich das so zusammengesucht, wie er das wollte und gerne hatte.
INGVILD GOETZ: Er hat die Wände bemalt, und die Hauptbeleuchtung waren Kerzen. Junge Marokkaner kochten und halfen ihm bei der Arbeit.
MARCEL ODENBACH: Michael war ein wahnsinnig gastfreundlicher Mensch. Geld spielte nur deshalb eine Rolle, weil der große Apparat aufrechterhalten werden musste. Er hat das Geld für seine Gäste rausgeschmissen und ist dabei auch enttäuscht worden, weil einiges verschwunden ist. Jeder Zweite wusste, wo die Bargeldverstecke waren.
ASTRID KLEIN: Das Atelier in Ostheim war Michaels Bühne. Der Tagesablauf war festgelegt: Er stand früh auf, arbeitete bis zum Mittag, um dann Essen für sich und für Freunde zu kochen, das aus Hausmannskost, persischer oder marokkanischer Küche bestand. Danach wurde bis in die Nacht gearbeitet.
INGVILD GOETZ: Er war in seinem Freundeskreis wie ein Vater, der alles betreute.
STEFAN KÜRTEN: Als ich 1983/84 an die Kunstakademie Düsseldorf kam, durchlief man dort zunächst ein Orientierungsjahr ohne festen Lehrer. Eines Tages tauchte jemand mit zwei Hunden, einem riesenlangen Mantel und einem goldenen Schal auf. In der Mensa ging das Gerücht um, einer dieser neuen Profs, ein Mann namens Buthe, sei da. Ich wusste nicht, wer das ist. Ich war einer der Jüngsten und hatte keinen Plan. Nach der Mittagspause bin ich wieder in den Raum, in dem ich arbeitete. Nur stand da auf einmal der Michael Buthe mit den zwei Hunden vor meinen Bildern. Er hatte diesen Raum ausgewählt, um Arbeiten der sich bewerbenden Studenten anzuschauen. Er dachte, ich wäre einer von denen. Er stand vor meinen Bildern, ich hinter ihm. Dann drehte er sich um und sagte: "Das ist total jeck. Den nehme ich." Und ich dachte: toller Zufall! Sag jetzt einfach Ja zu Buthe als Professor.
ASTRID KLEIN: Seine Studenten wurden in die Küche, ins Atelier gebeten. Michael hat sie einbezogen. Er hat sie als junge Künstler und nicht als Studenten gesehen und hierarchische Strukturen aufgelöst.
STEFAN KÜRTEN: Gleich zu Beginn sprach er eine Einladung nach Ostheim aus. Wir müssten unbedingt mal sehen, wie er so lebt. Und hat damit vorgegeben, wie der Rest des Studiums war, nämlich: Habt an meinem Leben teil und lernt davon. Wir haben manchmal mit zehn Leuten bei ihm in Ostheim übernachtet, er hat gekocht. Er hat uns auch sein Haus in Marrakesch zum Arbeiten zur Verfügung gestellt.
MARCEL ODENBACH: Bei Michael gab es immer von allem viel. Das Essen durfte man sich nie selbst nehmen, sondern bekam es in riesigen Portionen zugeteilt. Und so arbeitete er auch, mit wahnsinnig viel Material. Beim Einkaufen packte er 50 Tuben rote Farbe ein, während ich eine Tube kaufte. Das habe ich immer bewundert. Er hob ununterbrochen Sachen auf der Straße auf, er hat viel gesammelt, aber an wenigen Sachen wirklich gehangen. Er hat Heugabeln, Mäusekot, Sperrmüll verarbeitet, mit Farben rumexperimentiert, die er selbst hergestellt hat. Dann fuhr er nach Marokko und brachte Gebrauchsgegenstände mit, die er alle in seinen Arbeiten verwertete. Unser Hühnerhaus in Ostheim wurde abgerissen und Teil der Installation "Taufkapelle mit Papa und Mama".
HANS ULRICH OBRIST: Ich hatte meinen Mantel abgelegt und sofort das Gefühl, dass er am Ende des Besuches Teil des Werkes ist und ich dann im Kalten stehe. Im Atelier von Buthe gab es einen fließenden Übergang von Kunst und Leben. Es gab Kostüme, Utensilien, Paraphernalien, Knochen, alte Fotos, Federn, die in die Werke eingegangen sind. Es war ein chaosmotisches Archiv. Wo beginnt das Werk, wo hört es auf? Der Lehrer Toni Gerber, der in Bern in seiner Wohnung eine Galerie betrieb, hatte mir von Buthe erzählt. Ich war 18, 19 Jahre alt und hatte grade begonnen, Ateliers zu besuchen. Buthe war sehr präsent in der Schweiz. 1985 hatte er eine Ausstellung in der Kunsthalle Bern, ein Jahr später besuchte ich ihn in Ostheim. Es war beeindruckend. Es gab Tempelmomente, gleichzeitig war die Halle viel zu groß für einen Tempel, zu groß, um eine Schamanenhöhle zu sein. Alles wirkte fragmentiert. Deshalb erschien das Ganze wie eine Collage. Auch Buthes Leben schien eine Collage zu sein.
STEFAN KÜRTEN: Ich war in den 80er-Jahren mehrmals für einige Monate in Michaels Haus in Marrakesch. Einmal kam Michael für fünf Tage vorbei und meinte: Komm, wir fahren mal in die Wüste. Wie, in die Wüste? Ja, mit dem Taxi. Dann hat er ein Taxi angehalten: In die Wüste bitte. In irgendeinem Dorf am Wüstenrand sind wir abends spazieren gegangen. Michael bückte sich und hob eine Sardinendose auf, die von Lastwagen plattgefahren wurde. Und ich weiß noch genau, mit welcher kindlichen Freude er das Ding ansah. Weil er wusste, dass das eine Rolle spielen würde in seiner Arbeit.
ASTRID KLEIN: Michael war besessen davon, sich den Dingen auch mit dem Kopf zu nähern. Er war nicht nur der Träumer, den viele in ihm sahen, im Gegenteil. Er wusste genau, was er tat, wenn er arbeitete. Michaels Bibliothek war umfassend, ob es die Literatur der Surrealisten, der mittelalterlichen und orientalischen Mystik oder Philosophie und Religion war. Außerdem verfügte er über ein enormes kunsthistorisches Wissen. Der Mythos des Mannes, der völlig in seine eigene Welt verschwindet, ist absurd. Michael war so nah an der Realität! Die Tagespolitik interessierte ihn. Er las die üblichen Tageszeitungen und Wochenjournale und konnte sich stundenlang darüber aufregen, wie unsozial die Welt ist.
MARIETTA FRANKE: Michael Buthe hatte ein großes Interesse daran, in der Forschung aufzutauchen. Er war fasziniert von der Möglichkeit der Versachlichung und Analyse. Das mag erstaunen, weil in der Rezeption immer wieder neu seine Kommentare und Texte paraphrasiert wurden, und die laufen immer auf die gleiche Stimmung hinaus: Es wird alles ein bisschen vergeheimnist. Buthe wollte sich eben amüsieren mit allem, was er machte, und sich unterhalten. Aber er war da auch in seinem eigenen Lebensgefühl gefangen und deshalb fasziniert von der Möglichkeit der Versachlichung. Wenn das Werk überdauern wolle, so Buthe, müsse es der Versachlichung standhalten und nicht allein von der Situation und der Anwesenheit seiner Person leben.
STEFAN KÜRTEN: Bei Buthe zu studieren war etwas Besonderes. Ihn umgab die Aura des Geheimnisvollen. Die Leute fragten sich, was da abgehe in Ostheim. Andererseits war er Mitte der 80er auch ein bisschen out. Er wurde von einigen als Alt-Hippie wahrgenommen. Es war cooler, bei den Neuen Wilden zu studieren, die in ihrer Lehre mehr Wert auf Popkultur legten. Buthe hatte eine Sonderstellung, das hat mir irgendwann auch gefallen, weil die anderen Bewegungen immer mit Aufstieg und Fall verbunden waren. Bei Buthe hatte man das Gefühl, der war nie so richtig in und deshalb zeitlos.
MARCEL ODENBACH: Heute professionalisieren sich die Künstler früh und werden hochgepusht. Mit 40 wird schon über dich promoviert, und du hast erste Retrospektiven. Michael hingegen wollte Dinge realisieren, die nicht nur für die Ewigkeit waren. Es war ihm egal, was damit in 40 Jahren ist.
INGVILD GOETZ: Michael hat nie an den Kunstmarkt gedacht. Heute erlebe ich nur wenige Künstler, die diese große Leidenschaft haben und nicht nach dem finanziellen Erfolg schielen. Vielen passen sich dem Markt an, andere Aspekte spielen eine Rolle. Michael war archaisch, kraftvoll und eigenständig.
ASTRID KLEIN: Michael war nicht marktkompatibel. In den 90ern wurde er zu vielen Ausstellungen nicht mehr eingeladen, auch von Freunden nicht, weil er nicht einzuordnen war, weil er auch nicht mehr en vogue war. Das hat ihn schon getroffen. Jan Hoet hat ihn 1992 auf die Documenta eingeladen, weil es Hoet völlig egal war, ob Buthe in oder out war. Wer Michael persönlich kannte, konnte sich seiner Vitalität, seinem Charme und seiner Energie nicht entziehen. Er hat nie strategisch gedacht, sondern war wirklich frei. Davon können sich die Künstler heute eine Scheibe abschneiden.
MARCEL ODENBACH: In den letzten Jahren war er wohl auch einsam. Es gab neue Tendenzen und andere Fragestellungen in der Kunstwelt. Michael ließ wenig Zweifel gegenüber seinen eigenen Arbeiten zu. Es war alles gleichwertig in seinem Blick. Wie jeder Künstler hatte er aber auch Arbeiten, die nicht so stark waren.
ASTRID KLEIN: Er konnte nicht begreifen, dass ich eigene Arbeiten zerstört habe, weil ich sie nicht mochte. Er sagte immer, dass das Scheitern dazugehört. Das muss man können.
STEFAN KÜRTEN: Seine Arbeit hatte auch zu Lebzeiten jede Menge Kritiker. Es gab immer den Kitschvorwurf. Es gibt heute sicher Künstler seiner Generation, die weniger Zweifel auf sich ziehen. Michael hatte eben keine Angst vor Peinlichkeiten, malte Körperumrisse, benutzte Gold. Das war frei von Ironie und Sarkasmus, der die Zeit kommentiert und sich raushält. Nein, Michael war involviert und hat Verantwortung getragen. Ein Spruch von ihm war: "Leb’ das doch!" Da hadere ich bis heute mit. Immer wenn ich eines meiner Bilder überprüfe, muss ich daran denken. Er wollte wohl damit sagen: "Ist das echt, oder hast du dir da was ausgedacht?" Das Authentische war ihm sehr wichtig. Michael schuf eine Art von Malerei, in der es immer um größere Zusammenhänge ging: von zerrissenen Stoffbildern über die Collagen bis zu den Sternenbildern. Er hat ein Universum geschaffen, in einem Bild und in vielen Bildern.
HANS ULRICH OBRIST: Buthe hob bei meinem Besuch sofort die Trennung zwischen Besucher und Künstler auf. Er wollte eben alle Sinne ansprechen, ganz im Sinne der Ethnologin Margaret Mead, die sich Ausstellungen als Rituale vorstellte. Sie erkannte, dass Kunst sich lediglich an den visuellen Sinn richtete, weshalb Betrachter nur so wenig Zeit mit Kunst verbrachten. Bei mittelalterlichen Messen oder Bali-Ritualen hingegen gibt es eine andere Art von Bezug. Auch bei Buthe ging es um holistische Rituale. Er schuf ein Gesamtkunstwerk, aber nicht im wagnerischen Sinne ein totalitäres Kunstwerk, das den Betrachter überpowert, sondern ein fragmentiertes.
ASTRID KLEIN: Seinen Humor hat er nicht aufgegebenen, selbst in schwärzeren Zeiten nicht, wenn es ihm gesundheitlich nicht gut ging. Ich habe ihn oft im Krankenhaus besucht, und dann wollte er nicht, dass man sich Sorgen macht. Auch im Krankenhaus arbeitete er, und das Zimmer war sofort voll mit Bildern, weil er das für sich brauchte.
STEFAN KÜRTEN: In den letzten Jahren wirkte er oft sehr spirituell. Es gab zum Ende seines Lebens wohl auch ein paar Brüche bei ihm. Anfang der 90er lebte ich allerdings in den USA und habe nur unregelmäßig Kontakt zu ihm gehabt. In der Woche, in der er gestorben ist, waren wir verabredet in Ostheim. Da ist er nicht ans Telefon gegangen.
INGVILD GOETZ: Die Atmosphäre, die er mit seinen Ausstellungen kreieren konnte, kann man heute nach seinem Tod nicht wieder herstellen. Das Spontane und Ephemere, das er in die Ausstellungen reinbrachte, ist uns heute leider nicht mehr gegeben. Wenn Michael seine Werke gehängt hat, dann wusste er ganz genau, was noch fehlte, um diese geheimnisvolle Atmosphäre zu schaffen.
STEFAN KÜRTEN: Vor Jahren habe ich einmal geholfen, eine Buthe-Ausstellung zu installieren, und bei der Hängung meine Zweifel bekommen. Ich würde alles ganz gerade hängen, aber Michael war nicht berechenbar in der Hängung. Ich habe immer gelauscht, ob ich nicht Eingebungen von seinem Geist bekäme.
ASTRID KLEIN: Michael kam in einen Ausstellungsraum und inszenierte ihn in kürzester Zeit. Er drehte sich dreimal um, und der Raum war etwas anderes geworden.
MARCEL ODENBACH: Es ist ähnlich wie bei Beuys. Nur der Meister konnte die Installation machen und mit dem Raum umgehen. Wahrscheinlich liegt es auch daran, dass er heute so wenig gezeigt wird.
HANS ULRICH OBRIST: Er war eine lebende Skulptur, fast im Sinne von Gilbert & George. Er war zwar kein Aktionist, kein Performancekünstler. Aber sein Werk war sehr an sein Charisma gebunden, wie bei Beuys oder James Lee Byars. Er ist eine märchenhafte Legende.
INGVILD GOETZ: Es ist ein Jammer, dass er heute so in Vergessenheit geraten ist. Es hat sich einfach keiner mehr um sein Werk und Ausstellungen bemüht.
MARIETTA FRANKE: Es gibt eine wahnsinnige Unsicherheit, wie man heute mit Buthe umgehen soll. Erstens: Wie präsentieren wir das? Zweitens: Wie sollen wir das sprachlich erfassen? Mit der großen Retrospektive zu Michael Buthe trauen sich die Institutionen zum ersten Mal richtig an ihn heran. Leute tragen immer noch Informationen zusammen. Die tiefe Erforschung und Befragung des Werks hat noch nicht begonnen. Man ist auch unsicher, was die Qualität des Werkes betrifft. Diese Unsicherheit könnte man abbauen, indem man Buthe zum Beispiel in Beziehung mit anderen Künstlern der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzt. Das ist noch ein weiter Weg.
ASTRID KLEIN: Ich lehre in Leipzig und habe meinen Studenten immer wieder Arbeiten von Buthe gezeigt, und die fragen dann immer wieder: Warum kennt man den nicht? Sie sind fasziniert von der Radikalität und der Freiheit, wie Buthe mit Material umging.
STEFAN KÜRTEN: Mit Studenten ist es mir früher oft passiert, dass niemand Michael Buthe kannte. Wenn ich heute Buthe auch nur erwähne oder Bilder zeige, ist sofort eine Spannung da. Ich kann es nicht genau erklären. Vielleicht wirkt die Optik der Sachen heute wieder moderner. Bei Rundgängen in der Düsseldorfer Kunstakademie muss ich bei manchen Arbeiten der Studenten lächeln und denke: Dir würde Michael Buthe auch mal ganz guttun.
Dieser Artikel ist eine leicht veränderte Version eines Textes, der ursprünglich in Monopol 7/8/2016 erschienen ist
Die Ausstellung "Michael Buthe Die Tagebücher und Buchobjekte 1963–1994" ist bis zum 13. Juli 2019 in der Galerie Judin in Berlin zu sehen. Ab Sommer 2019 veröffentlicht der Verlag der Buchhandlung Walther König den Catalogue Raisonné von Michael Buthe, herausgegeben von der Galerie Judin