Nike Wessels "Sex in Berlin"

Kuscheln, Kuchen und Kinks

Nike Wessels Liebesführer "Sex in Berlin" zeigt die Vielfalt erotischer Welten in der Hauptstadt – ohne Voyeurismus oder Spektakelsucht, dafür mit viel Empathie für alle Spielarten des Verlangens

Vor zwei Jahren hat Madita Oeming in ihrem Buch über Pornografie eine Forderung aufgestellt: Statt mit Panik und Zensur auf Sex zu reagieren, sollte man lieber "alle Ressourcen in sexuelle Bildung investieren". Fast wirkt es, als habe die Kulturwissenschaftlerin Nike Wessel das als direkte Handlungsaufforderung begriffen. Denn ihr "Sex in Berlin"-Podcast ist seit Anfang 2024 genau das: eine Investition in sexuelle Weiterbildung, anzuhören auf Spotify oder Apple. 

Bei Wessel gibt es keine pornografische Krassheit. Es fehlt das Ekel-Element à la Charlotte Roches "Feuchtgebiete", genauso wie die düstere Enthüllungsmasche von "Fifty Shades of Grey". Überhaupt gibt es weder Anrüchigkeit noch Skandal. Es geht um Körper und Zwischenmenschlichkeit, um Body- und Sex-Positivität, falls man am Puls der Zeit formulieren will. 

Und genau mit diesem hilfreichen Esprit hat Wessel jetzt das deutsch-englische Buch "Sex in Berlin" geschrieben, mit einer Kreuzberger Launch-Party im März, nach dessen hyperdiversem, hellauf freundlichem Publikum sich so manches globale Unternehmen die Finger bis zum Ellenbogen lecken würde. Es war eine Party, auf der plötzlich gefühlt alle tollen Menschen der Stadt zusammenstanden, das Buch als Schmuckstück in der Mitte.

"Komm, wir gehen jetzt zu einer echten Nacktparty!"

Schon der leicht raue, silbern glitzernde Einband vereint Sinn und Sinnlichkeit: Luftig gesetzt, glasklar gelayoutet von Marcel France, mit schönen Fotografien. Es gibt Interviews mit den Autorinnen Emilia Roig ("Why We Matter"/"Das Ende der Ehe"), Katja Lewina ("Sie hat Bock"/"Bock. Männer und Sex") und Mithu Sanyal ("Vulva"/"Identitti"). 

Und dann natürlich die Touren ins Berliner Sexleben. Dieses Buch, so steht es hinten drauf, sei wie ein Sonntagmorgen in Berlin, "verkatert, nackt und unvergesslich." Oder, für Typen wie mich, ein Samstagnachmittag mit Cappuccino zum seitenraschelnden Lesen: "Eine sehr kalte Berliner Novembernacht vor vielen Jahren: Unsicher und schon etwas müde", so begann Wessels Weg in die Berliner Sex-Biotope. Sie stand nachts am Kotti und wollte eigentlich heim, doch ihr Freund forderte sie heraus: "'Komm, wir gehen jetzt zu einer echten Nacktparty!'" 

Sie ließ sich breitschlagen, und "zwei Hinterhöfe später, durch ein dunkles Treppenhaus, ganz oben, hörte ich schon Musik. Beklommen drückte ich auf die Klingel. Die Tür ging auf – und einige große, aber vor allem ganz nackte Menschen schauten mich an. Ich sagte den klugen Satz: 'Ist hier eine Nacktparty?'" In ihrem Buch erzählt Wessel, was dann passierte – und was sie seit gut zehn Jahren noch so alles erlebte, mit ihrer "Scham", ihren "Wünschen und Grenzen."

Warum ist es so schockierend, einfach nur nackt zu sein?

Zum Beispiel beim genital gazing, wo man voreinander sitzt und gegenseitig die Geschlechtsteile ausgiebig betrachtet. Oder im Karada House im Prenzlauer Berg beim monatlichen Event "Cuddles, Cakes & Kinks", nomen est omen. Bei "Liebelei" lernte Wessel ein Paar kennen, das "Sex als Lifestyle" zelebriert, etwa mit Spielzeug aus Edelstein, siehe deren Boutique auf der Graefestraße. 

Und auf der "Naked Tea Party", wo es keinen Sex geben soll? Wessel war da, und auch sie stellte sich die Frage, warum es eigentlich so schockierend ist, einfach nur nackt zu sein. Bei "Liquid Love", wo man sich mit verbundenen Augen und eingeölt nackt aufeinander bewegt, glitschte Wessel mit. Und erlebte anderswo dann doch mal harten Sex-Hedonismus, zum Beispiel bei der 70er-Jahre-Porn-Disco im Pankow House, Wodka-Eisrutsche inklusive. 

Beim Bondage im Institut für sexuelle Kultur und Körperforschung, ohne den oft bitter schmeckenden BDSM-Look? Wessel war gefesselt … Und ja, Sie werden es sicher auch so wahrnehmen, liebe Lesende: Die schlicht-schlechte Binnenreim-Assonanz "Wessel fesselt" ist schon viel anrüchiger als alles, was bei "Sex in Berlin" unter den freundlich gedimmten Untersuchungsstrahler kommt. Je mehr man liest, desto klarer wird der politische Anspruch: Leben und leben lassen. So soll in diesem Buch auch jede, jedes und jeder fündig werden. Denn er gilt für alle, der "Urtrieb nach liebender Umarmung". Diese Aussage der Universalgelehrten Hildegard von Bingen, unglaubliche 1000 Jahre alt, ist dem Berliner "Guide to love" als Motto vorangestellt.