Am Anfang war das Licht, wenigstens was den Ursprung der modernen Malerei angeht. Das Licht der Impressionisten bereitete den Boden für die Befreiung von Farbe und Form aus den Fesseln der Gegenständlichkeit, so jedenfalls lehrt es die gängige Kunstgeschichte. Man könnte die Geschichte aber auch ganz anders erzählen. "Wir sagen, Babys erblicken das Licht der Welt", erklärte der Maler Pierre Soulages 2019 im Gespräch, "aber ich bin mir da nicht so sicher. Das Erste was wir sehen ist Schwarz, denn das Leben beginnt ja schon vorher, im Dunkel des Mutterleibs".
Intensiver als jeder Künstler vor ihm hat der französische Maler die Farbe Schwarz erforscht, und bis kurz vor seinem Tod am 25. Oktober mit 102 Jahren malte er jeden Tag an einem schwarzen Bild. Mehr als 1600 Gemälde umfasst sein Werk, und es wären wohl erheblich mehr, hätte er nicht regelmäßig in seinem Atelier Leinwände verbrannt, die er für nicht gelungen hielt.
1979, mehr als 30 Jahre nach seinem internationalen Durchbruch, entdeckte er ein Phänomen im Umgang mit seiner bevorzugten Farbe, das er "Outrenoir" nannte: Allein in den Lichtreflexen auf den schwarzen Oberflächen spielen seitdem seine abstrakten Kompositionen. Losgelöst aus dem Dialog mit anderen Farben entwickelt das Schwarz eine jenseitige Qualität. Das monumentale Schweigen, das seine Leinwände auf den ersten Blick ausstrahlen, verstummt tatsächlich nie: In Relation zu Lichteinfall und Betrachtungswinkel entspinnen sich in den feinen Strukturen des Farbauftrags endlose Variationen.
Ein Ort, der über die Zeit hinausblickt
Seit 60 Jahren lebten und arbeiteten Pierre Soulages und seine Frau Colette hoch über dem kleinen südfranzösischen Küstenort Sète in ihrem selbstentworfenen Wohn- und Altelierhaus, das es in seiner funktionalen Schönheit mit jedem architektonischen Meisterwerk des Mid-Century-Modernismus aufnehmen kann. Jeder französische Staatspräsident hat ihn hier besucht, aber auch für unser Werkstattgespräch nahm er sich noch mit 99 Jahren einen ganzen Nachmittag Zeit.
Himmel und Meer zeigen sich durch die breiten Fenster und von der Terrasse aus wie abstrakte Farbflächen. Wie seine Bilder scheint dieser Ort gleichsam über die Zeit hinaus zu blicken. Und wie die Gemälde macht es jeden Lichtwechsel förmlich wie durch ein Vergrößerungsglas erlebbar. Er bevorzuge Ateliers in denen man sich geborgen fühlt, sagte er zur Begrüßung, mehr nach innen blickend als nach außen.
Als sich Soulages 1958 hier ansiedelte, war er in seinen späten Dreißigern und bereits das, was man heute einen internationalen Kunststar nennen würde. Seinen ersten Auslandserfolg feierte er 1948 mit einer Tourneeausstellung "junger französischer Malerei", die der Arzt, Mäzen und spätere Filmavantgardist Ottomar Domnick kuratiert hatte.
"Und da war ich!"
"Ich hatte eine Menge Glück, weil ich zunächst in Deutschland bekannt wurde", erinnerte er sich. "Der Krieg hatte mir einige Zeit genommen, ich hatte ihn mit falschen Papieren überstanden. Auf meinen falschen Papieren war ich Italiener. Ich war 28 Jahre - und da war ich! Und die anderen Maler in der Ausstellung waren mindestens 25 Jahre älter als ich. Ich werde nie vergessen, dass meine Malerei zuerst von Ausländern entdeckt wurde. Aber das stimmt nicht ganz, denn davor waren es doch die Franzosen. Aber die haben mich unter dem Begriff 'nicht figurativ' einsortiert. Das hat mich aufgeregt und regt mich noch immer auf. Eine Kunstrichtung, die mit einer Verneinung beginnt, erschien mir geradezu lächerlich."
Auch die Namen der später mit Soulages‘ Bildern verbundenen Kunstströmungen schienen kaum zu passen. Für das Informel sind sie zu formbewusst, für den Tachismus fehlt ihnen das Flüchtige – und für den Abstrakten Expressionismus das Exponiert-Gestische. Seine mit breitem Pinsel in tief nuancierter Nussbeize geschaffenen Werke aus dieser Zeit wirken einerseits rhythmisch, anderseits gibt ihnen die Farbtiefe etwas Introvertiertes. Tiefe Rot- und Blautöne spielen in den bereits vom Schwarz dominierten Bildern oft prominente Nebenrollen. Soulages‘ Liebe zum Schwarz ist allerdings weit älter.
"Als ich klein war - das ist kein Scherz - bot man mir Farben an, aber ich nahm lieber das Tintenfass. Und dann - das hat man mir später erzählt, ich war noch zu klein um mich zu erinnern – wurde ich gefragt, was ich da male; so wie man das alle Kinder fragt: 'Ist das ein Haus? Was ist das'? 'Das ist Schnee', habe ich gesagt. Darüber haben alle gelacht, aber ich meinte es ernst. Es war keine Provokation, aber doch merkwürdig: Ich glaube, es war der Versuch, das Blatt Papier weißer zu machen, indem man Schwarz daneben setzt. Das ist ja so, wenn man in eine Ecke Schwarz setzt, dann wirkt es heller. Ich glaube, das wird es gewesen sein. Ich hatte natürlich keine Ahnung, aber schon meinen eigenen Willen."
Soulages' mächtigstes Einzelwerk
1919 wurde Soulages in der südfranzösischen Kleinstadt Rodez geboren, wo seit 2014 ein gewaltiges Museum seinen Namen trägt. In seiner Kindheit beeindruckt ihn in der Stadt die türlose Fassade der örtlichen Kathedrale als eine frühe abstrakte Bilderfahrung. Noch prägender ist für den 14-Jährigen ein Schulausflug in die Benediktiner Klosterkirche Sainte-Foy in Concques. Das strenge und sich doch im Lichteinfall wandelnde Spiel von Licht und Schatten lässt Soulages noch an Ort und Stelle beschließen, Künstler zu werden.
50 Jahre später wird er den Auftrag für 124 neue Glasfenster der Klosterkirche annehmen. Als das Ensemble in achtjähriger Arbeit 1994 vollendet ist, gefällt es in seiner Balance aus Reduktion und Lebendigkeit nicht nur den Benediktinern. Es ist zweifellos Soulages mächtigstes Einzelwerk – und eines seiner innovativsten Kreationen: Das selbstentwickelte Mattglas, das je nach einfallendem Tageslicht zwischen Weiß und Gelbbraun variiert, ist nur einer der vielen Werkstoffe, die Soulages in seiner langen Karriere für sich erfunden hat.
Im Atelier in Sète hütete ein junger Assistent die Rezeptur für die schwarze Farbe wie ein Geheimnis. Es ist Elfenbeinschwarz mit Harz versetzt, soviel ist bekannt. Viele Zeugen gibt es für Soulages‘ Arbeitsweise nicht, er war berühmt dafür, allein zu malen.
Ständiges Komponieren im Dialog mit dem Bild
In den letzten Jahren entstanden einige Dokumentarfilme, aber auch sie enthüllen über den Arbeitsprozess fast nichts. Eines der wenigen aussagekräftigen Dokumente ist ein literarischer Text eines engen Freundes, des französischen Romanautors Roger Vailland. Minutiös beschreibt Vailland in "Comment travaille Pierre Soulages" einen typischen Arbeitstag im Jahre 1961: Die Wahl der Farben, die Verwendung spezieller Werkzeuge, etwa eines Schustergummis, die Gesten, das Zögern.
Als Vailland zu Soulages sagt, er tanze, antwortet dieser: "Vielleicht. Aber mein Bild wird davon nichts verraten. Ich bedecke und enthülle Oberflächen. Ich zeichne keine Linien, die dem Betrachter die Bewegung meiner Hand verraten." Darin unterschied sich Soulages schon damals von vielen seiner Zeitgenossen zwischen Informel und Action Painting. Mehr als Stimmungen oder innere Befindlichkeiten zu übertragen komponierte er im ständigen Dialog mit dem eigenen Werk.
"Es kommt vor, dass ich eine Arbeit beginne und möchte, dass sie klein wird - und dann wird sie immer größer, es hört nicht auf, am Ende ist sie drei Meter groß. Es gibt Geistesblitze, 100 Jahre alte Geistesblitze... Es ist beängstigend. Es gibt Dinge, die ich aufgebe, aber die ich nicht aussortiere. Ich sehe sie sechs Monate später wieder an und entdecke etwas, das ich vorher nicht gesehen habe. Und das, was ich nicht gesehen habe, versuche ich zu sehen und auch für andere sichtbar zu machen. Es geht darum, Ordnung in die Improvisation zu bringen."
Eigenständige Position neben den Amerikanern
Noch immer sind es die ikonischen Bilder der späten 50er-Jahre, die bei Auktionen die höchsten Preise erzielen, 20,6 Millionen Dollar waren es im vergangenen November bei Sothebys für "Gemälde, 195 x 130 cm, 4. August 1961", bei dem ein Kaminrot mit dem Schwarz zu kämpfen scheint.
Kein abstrakter Maler aus Europa genoss auf dem New Yorker Kunstmarkt der 50er-Jahre größere Prominenz. Gefeiert bei den ersten beiden Documenta-Ausgaben, erlebte Soulages bei seinem dritten Besuch in Kassel 1964 aber auch, wie er mit samt der Nachkriegsabstraktion plötzlich einer Pauschalkritik ausgesetzt wurde. In der "Zeit" schrieb der Kunsthistoriker Wieland Schmied: "Nur die voreilige Interpretation dieser schwarzen Strichbündel oder verknoteten Balken als Wegweiser in die vielzitierte vierte Dimension hat diese Täuschung erst so spät offensichtlich werden lassen. Eine Tatsache, die mit tiefem Bedauern konstatiert sei."
Doch während die meisten der sogenannten Abstrakten Expressionisten tatsächlich in Vergessenheit gerieten, behauptete sich Soulages als eigenständige Position neben den Amerikanern Franz Kline und Jackson Pollock. Besonders beliebt waren seine stets nur mit Größe und Datum bezeichnete Bilder in den Hollywood-Sammlungen von Menschen, die wissen, wie man aus Licht und Dunkel große Dramen schafft: Mit Alfred Hitchcock, Billy Wilder, Otto Preminger und Charles Laughton gehörten einige der größten Hollywood-Regisseure zu seinen Käufern.
Das Licht, das in meine Richtung strahlt
Vor einiger Zeit, erzählte er, sei der ebenfalls 2022 verstorbene Regisseur Jean-Luc Godard bei ihm gewesen – und habe ihm Rätsel aufgegeben. "Er ist einfach vorbeigekommen. Das einzige was er gesagt hat war: 'Ich werde mich erinnern'. Was soll das bedeuten? Ich habe ihn nicht wiedergesehen."
Und was bedeutete wiederum Soulages das Kino? "Meine derzeitige Beziehung zum Kino ist etwas unbefriedigend, weil ich nicht oft genug ins Kino gehe. Und dennoch ist das etwas, was mich äußerst stark beschäftigt. Und zwar nicht nur, weil es da um Licht geht, es ist viel komplexer. Für mich geht es beim Kino auch um Zeit, um viele Dinge, die es in der Malerei nicht gibt. Und einerseits finde ich, dass es ein Fehler ist, die Malerei mit dem Kino zu vergleichen. Weil das Kino für mich Zeit, Ton und Raum bedeutet. Anderseits geht es in meiner Malerei gleichwohl um Raum, aber auf eine sehr spezifische Weise. Ich weiß nicht, ob es möglich ist mit dem, was ich sage, einen Zusammenhang mit dem Kino herzustellen, aber lassen Sie mich erklären: In der Malerei die ich mache, so wie ich meine Gemälde betrachte oder während ich sie male, ist es das Licht das vom Bild zu mir kommt. Man sagt, das Schwarz steigt auf. Wenn es nur schwarz wäre – aber wenn ich etwas sehe, ist es nicht das Schwarz: Es gibt einen winzigen Teil Licht, der reflektiert wird. Also ist das, was ich sehe, das Licht, das vom Bild in meine Richtung strahlt."
Wer behauptete, Soulages male schwarz, konnte sich seines Widerspruchs sicher sein. Er malte das Licht, wie er nicht müde wurde zu erklären. "Die gegenständliche Malerei produziert etwas Imaginäres, während das, was bei meiner Malerei entsteht, konkret ist. Der Raum meiner Gemälde ist nicht nur das, was hinter der Oberfläche liegt. Es ist das, was man davor sieht, das, was ich sehe. Es handelt sich um eine spezifische Raumkonzeption. Stets werde ich mit dem Schwarz in Verbindung gebracht, aber mich interessiert gar nicht das Schwarz an sich. Wenn ich den Raum meiner Bilder ansehe, gibt es die Leinwand und mich, der sie betrachtet, ich bin dann im Raum des Bildes. Und wenn ich woanders hingehe, ist es nicht mehr dieselbe Leinwand, weil sie sich verändert hat. Es ändert sich immer alles mit dem Betrachter. Der Betrachter ist ja stets ein Teil eines Bildes."
Als junger Mann ein Rebell
Das Erlebnis von Soulages‘ Kunst ist zumindest in Frankreich zu einem Massenphänomen geworden. 500.000 Zuschauer fand die große Retrospektive, die ihm das Centre Pompidou zu seinem 90. Geburtstag ausrichtete. Zu seinem 100. Geburtstag zeigte der Louvre sein Werk im Allerheiligsten, dem der Renaissance gewidmeten Salon Carré.
Andere Epochen waren ihm allerdings lieber. "Das ist nur eine Abzweigung. Früher war es interessanter. Ich habe mich mehr für die Frühgeschichte, das Mittelalter und romanische Kunst interessiert ... Genau wie meine Frau, so sind wir einander begegnet. Sie hat den gleichen Geschmack wie ich." Ihre Ehe überdauerte 79 Jahre.
Man hat Soulages, diesen hochgewachsenen, kräftigen, stets schwarz gekleideten Mann als "cäsarenhaft" beschrieben, doch seine beeindruckende Vitalität hatte nichts Herrenhaftes. Als junger Mann war er ein Rebell, der die Pariser Kunstakademie schon am Tag der bestandenen Aufnahmeprüfung schmiss, weil sie ihm zu konservativ war. Etwas jungenhaft-unangepasstes war ihm auch im Alter geblieben, etwa wenn er mit einer gewissen Verachtung von einem früheren Bekannten seiner Frau erzählte, der sie vergeblich zu beeindrucken versuchte – Pablo Picasso. Colette Soulages erklärte das Geheimnis seiner Ausdauer mit einer fast wissenschaftlichen Neugier.
"Was ich mache, zeigt mir, was ich suche"
"Er hat einige Leidenschaften, die für die Malerei und, wie soll ich es ausdrücken, Entdeckungen trifft es nicht ganz. Er hat einmal etwas gesagt, was ich entscheidend finde: Was ich mache, zeigt mir was ich suche." Das traf es offenbar: "Ja, das ist es, ein Schlüsselsatz: Das was ich mache lehrt mich: Das ist es. Es ist eine Art zu denken. Ich weiß nicht warum ich es mache, und dann plötzlich entdecke ich etwas, an das ich zuvor niemals gedacht habe. Aber es ist da, und es ist etwas, wovon ich ausgehen kann, eine Richtung, in der ich weiterarbeiten kann. Ich interessiere mich auch sehr für Forschung. Gerade machte mein Freund, der Physiker David Quéré, eine erstaunliche Entdeckung…"
Der Pariser Wissenschaftler hatte gerade das Geheimnis entschlüsselt, warum sich Wassertropfen auf heißen Kochplatten bewegen. In so einem Moment konnte Soulages komplexe physikalische Sachverhalte anschaulich erklären. Für die Glasfenster für Concques hatte er eine spezielle Lichtbrechung entwickelt.
"Wir leben recht einsam, haben aber trotzdem einige Freunde", erklärte Colette die enge Vernetzung. "Früher gab es auch Maler darunter, aber Pierre hat den Kontakt zu den meisten abgebrochen, als er noch sehr jung war ... na ja, die Zeit vergeht, unsere Freunde aus dieser Zeit sind gestorben, mittlerweile haben wir junge Freunde, junge Künstler, sie interessieren sich für Pierres Malerei und sind empfänglich dafür. Es gab neulich einen Film auf Arte, da stellte der Regísseur Kindern im Museum von Montpellier Fragen vor einem von Pierres 'Outrenoire'-Bildern. Er hat gefragt: 'Wenn ihr dem Maler Soulages etwas sagen könntet, was würdet ihr ihm sagen?' Und ein Kind sagte: 'Ich würde ihm sagen: machen sie weiter'." Das musste man Pierre Soulages der am 24. Dezember 103 geworden wäre, nicht zweimal sagen.