Vor vier Jahren, als André Leon Talley (ALT) 69 Jahre alt war, entschied er sich, eine Dokumentation über sich drehen zu lassen. Es sei der richtige Moment, sagte er kurz vor dem Erscheinen des Films im "Times Talk" mit Vanessa Friedmann von der "New York Times", denn man wisse ja nie, was geschehe. Ob er sich als eine interessante Person verstehe? fragte Friedmann. "An guten Tagen bin ich irgendwie interessant, wenn ich die richtigen Klamotten anhabe," antwortet Talley, "so wie heute." Heute bedeutete: Er trug ein riesiges, rot-schwarzes Cape mit einem Print aus goldenen Löwen.
Mode war das Element, mit dem sich der US-amerikanische Modejournalist und -historiker identifizierte. "Kleidung war schon immer meine Rüstung", erklärte er dem Publikum. Sie ließ ihn herausstechen und wurde zu seiner Expertise, sie macht ihn aus, ob er sie trug oder sich in der Theorie mit ihr befasste. Nun ist André Leon Talley im Alter von 73 Jahren verstorben - und worüber sich alle einig scheinen: Es war sicher nicht allein seine Kleidung, die ihn zu einer der interessantesten Figuren der Mode im letzten Jahrhundert gemacht hat.
In der erwähnten Dokumentation "The Gospel According To André" bringt Whoopi Goldberg es auf den Punkt: "Er war so viele Dinge, die er nicht sein sollte, und sie kamen nicht drum herum." Sie, damit meint Goldberg die größtenteils weiße, exklusive Mode-Elite der 1970er-Jahre bis heute, aus der der 1,98 große Talley nicht nur durch seine Statur herausragte. Ein Schwarzer, riesiger, schwuler Mann in dramatischen Outfits, so erzählte er es, auf den hatte niemand so richtig gewartet. Und doch erlangte er mit "leitender Redakteur der U.S. Vogue" einen der höchsten Posten, den die Industrie hergibt. Er war geschätzt für sein Talent und geliebt von Branchengrößen. Wie ihm das gelang? "Ich wusste instinktiv, wie ich mich am besten durchsetzen konnte, ich habe mich hervorgetan."
"Manieren bringen dich überall hin"
Er habe immer seine Hausaufgaben gemacht, sich enormes Wissen angeeignet, indem er über das gelesen habe, was ihn interessierte und neugierig machte. Es sei wichtig, die Menschen um sich herum mit Respekt zu behandeln - "Manieren bringen dich überall hin", - sagt er im Gespräch mit Friedmann. Und: "Sei du selbst und nutze deine Wurzeln, um voranzukommen."
Seine Wurzeln, das waren für ALT vor allem seine Großmutter Bennie Frances Davis, von der er großgezogen wurde und der er sehr nah stand. "Wir brauchen einander", sagte er. Talley wurde 1948 in Washington D.C geboren, wuchs in South Carolina während der Jim-Crow-Ära auf und erfuhr eine strenge Erziehung durch die Kirche der Südstaaten. Damals schon flüchtetet er sich zwischen die Seiten des "Vogue"-Magazins. "Die Sprache des Stils sprach zu mir", erklärte er. Später studierte er an der North Carolina Central University und bekam schließlich ein Stipendium an der Brown-Universität. Dort sollte er auch seine Doktorarbeit schreiben, es zog ihn jedoch nach New York City, wo Talley 1974 als Praktikant für Diana Vreeland, eine der ersten großen Modejournalistinnen, arbeitete.
Durch sie, so schreibt er in seiner 2020 erschienenen Biografie "The Chiffon Trenches", habe auch er gelernt, die "Sprache des Stils, der Fantasie und der Literatur" zu sprechen. Vreeland bezeichnet er als seine Mentorin, sie öffnete ihm die streng bewachte Tür zur Welt der Modemagazine, und so saß Talley bald an der Rezeption von Andy Warhols "Interview"-Magazin.
"Karl war mein neuer bester Freund"
Während seiner Zeit bei Andy, wie er ihn freundschaftlich nannte, begann er nebenbei als Journalist zu arbeiten und führte 1975 sein erstes Interview mit Karl Lagerfeld, damals Designer für Chloé. "Ich war extrem gut vorbereitet, und so war Karl am Ende des Interviews mein neuer bester Freund." Sie seien per handgeschriebener Briefe in Kontakt geblieben. Talley machte Eindruck und blieb im Gedächtnis durch seinen Respekt vor der Arbeit derer, denen er begegnete, war eng befreundet mit Modedesignerin Carolina Herrera, mit der er sein allererstes Interview geführt hatte. Durch seine so geknüpften Kontakte begann er bald darauf, in Paris für "Women's Wear Daily" (WWD) zu schreiben und sein breites Modewissen unter Beweis zu stellen.
Denn dafür war André Leon Talley bekannt: einer der wenigen Modekritiker zu sein, die jedes Detail einordnen können - gerade historisch gesehen. "Du kannst nicht wissen, wohin die Mode sich entwickelt, wenn du ihre Vergangenheit nicht kennst," erklärt Talley überzeugt im "Times Talk". Oder, wie Modedesigner Tom Ford über ihn sagte: "Er kann bei allem, was du tust, die ursprüngliche Referenz erkennen und vorhersagen, was sich auf deinem Inspirations-Board befand."
"Mein Wissen über Modegeschichte ist nicht so breit, und seins ist tadellos, also denke ich, ich habe viel von ihm gelernt," bestätigt sogar die Päpstin der Mode auf Lebenszeit und damals schon Chefredakteurin der amerikanischen "Vogue", Anna Wintour. Sie wurde zu Beginn der 80er auf Talley aufmerksam, und er wurde Wintours Freund und Berater. Bis zum Jahr 1987 war er Fashion News Director bei der "Vogue", dann acht weitere Jahre der erste Schwarze männliche Creative Director und von 1995 bis 2013 war er als leitender Redakteur tätig. Als das Verlagshaus schließlich entschied, ihn gehen zu lassen, erfuhr Talley dies nicht von Wintour persönlich, was zu einer Fehde zwischen den beiden führte. In seinen Memoiren ging Talley dann intensiver auf Wintours Fehlverhalten ihm gegenüber ein. Zu seinem Tod kommt die "Vogue"-Chefin nun jedoch im Nachruf des Magazins zu Wort - und hat außer Lob und Liebe nichts hinzuzufügen.
"Ich habe nie über meine Karriere als solche nachgedacht, ich hab einfach meine Aufgaben erfüllt, ich habe einfach gelebt", sagte Talley über seinen beeindruckenden Aufstieg und drückte seine Leidenschaft und Liebe für das aus, was er tat. "Ich habe mit den Besten zusammen gearbeitet.“ Klienten und Freunde schätzten ihn für seine angenehme Persönlichkeit und bombastische Energie - "Tu es einfach, denk' es einfach, trag' es einfach - ohne zu zögern." Abends im Hotelzimmer, erzählte er, schaute er gerne seinen Lieblingsfilm "Marie Antoinette", das erste große fashion victim, nicht ohne etliche Fachbegriffe und die historische Bedeutung von Louis XVI. für die Welt der Mode zu erwähnen. Wissen ist eben auch in dieser Glitzerwelt Macht.
"Er selbst war die Crème de la Crème"
In seiner prestigeträchtigen Position in der Modebranche saß Talley in der ersten Reihe jeder Modenschau, agierte als Berater für die bedeutendsten Modedesigner, war Stilikone und einer der besten und einflussreichsten Modejournalisten. Und trotzdem traf auch ihn der offene wie versteckte Rassismus der Modebranche immer wieder. "Die Leute wollen nicht über race reden. Aber sie können dich jederzeit niedermachen, wenn du ein Schwarzer Mann bist", sagte Talley.
Selbst wenn er beleidigt wurde, habe er darauf mit seinen internalisierten guten Manieren reagiert. Nichts umgeworfen oder gar eine Szene gemacht, er sei rausgegangen und habe es mit sich selbst ausgemacht. "Man verinnerlicht so etwas jedoch," erklärte er. "Und heutzutage werden Schwarze Männer ständig beschuldigt, weil sie nicht dazu gehören sollen. Das könnte mir passieren! Und rassistische Behandlung widerfuhr mir auch. So ist es eben." Rassismus sei in der Mode immer aktuell. Jedoch sehe er einen langsamen Wandel, was das Thema betreffe. Edward Enninful als ersten Schwarzen Chefredakteur der britischen Vogue zu besetzen sei ein wichtiger Schritt gewesen, eben so Virgil Ablooh als Creative Direktor für Louis Vuitton.
"Glauben Sie, Mode hat sich verändert?" fragt Vanessa Friedmann zum Ende des Gesprächs. "Ja, sie ist jetzt digital. Sie ist sofort," lautet die knappe Antwort, in der eine große Wehmut mitschwingt, eine Nostalgie für die Zeit, als Mode noch ein ganz eigenes künstlerisches Metier war, eine gewisse Extravaganz bedeutete. Als jedes Kleidungsstück berührt werden konnte, die Modenschauen strikt für die Experten der Branche reserviert waren, auf die Vergangenheit und die Zukunft der Mode geschaut wurde, um sie in einen Kontext zu setzen, zu verstehen, zu würdigen. Als Influencer sich noch nicht in der Pariser Front Row breit machten und jedes Kleidungsstück direkt von der Meute vor den Handydisplay bestellt werden konnte.
"Er selbst war die Crème de la Crème"
"Die Leute denken, dass sie durch das Internet und die sozialen Netzwerke alles wissen, weil man alles googeln kann," merkt ALT vielsagend an. Denn es ist klar, dass ein wahrer Mode-Connaisseur so nicht zu seinem Wissensschatz gelangt.
Trotzdem würde es ihm vielleicht gefallen zu wissen, dass Gen-Z, Boomer und Millenials an seinem Todestag gesammelt das Internet mit Huldigungen, Liebesbriefen und Höhepunkten seines Lebens geflutet haben und seine Geschichte und sein Wissen weiter verbreiten. In einem Tiktok-Video erklärt eine Userin, wie André Leon Talley die Modenschauen, wie wir sie heute kennen, beeinflusst hat. "Er verband Modegrößen miteinander und mobilisierte sein gesamtes Netzwerk, um John Gallianos S/S-1994-Schau stattfinden lassen zu können", schwärmt sie. "Er selbst war die Crème de la Crème", heißt es in den Kommentaren.
Gleichzeitig werden die Titanen der Industrie daran erinnert, dass jetzt ein guter Zeitpunkt wäre, ihren exklusiven Zirkel auch für andere Schwarze, queere und körperlich herausstechende Menschen zu öffnen. Und das wäre ganz in André Leon Talleys Sinne. "Wenn ich bedenke, wo ich herkomme, wo wir in meinem Leben herkamen und wo wir heute stehen, ist das erstaunlich. Und doch haben wir natürlich noch einen weiten Weg vor uns."