Ausgebranntes brasilianisches Museu Nacional

"Das Museum ist nie am Ende gewesen"

Sechs Jahre nach dem verheerenden Großbrand im Nationalmuseum Rio de Janeiro verbreitet sein deutsch-österreichischer Direktor Zuversicht. Der Ausstellungsbetrieb läuft wieder, wenn auch noch nicht in den eigenen Mauern. Ein Ortstermin

Das laute, lang gezogene "Bom dia", mit dem Alexander Kellner geladene Gäste, Medienvertreter sowie Lehrerinnen und Schüler begrüßt, ist in den vergangenen Jahren zu einem Markenzeichen des Direktors des Museu Nacional in Rio de Janeiro geworden. Als ob er Zuversicht verbreiten müsste, nachdem das historische Nationalmuseum an einem Sonntagabend im September 2018 in Flammen  aufgegangen war. "Mache ich das nicht, beschweren sich Mitarbeiter:innen und Student:in", sagt Kellner, Sohn einer Österreicherin und eines Deutschen.

Das Feuer zerstörte den größten Teil des Museumsbestandes von 20 Millionen Objekten, zu denen etwa "Luzia", die "erste Brasilianerin" und das mit 11.000 Jahren älteste in Lateinamerika gefundene Fossil, gehörte. Damit vernichtete es auch ein Stück Geschichte, Kultur und Erinnerung Brasiliens: eine der umfangreichsten Sammlungen von Flugsauriern weltweit; ägyptische Mumien, die der portugiesische König und brasilianische Kaiser Dom Pedro I., verheiratet mit Erzherzogin Leopoldine, angefangen hatte zu erwerben; Hunderte Artefakte der indigenen Ureinwohner aus 200 Jahren Bestehen des Museu Nacional - in sechs Stunden verbrannt.

Sechs Jahre ist das nun her. "Ich möchte die Gelegenheit nutzen und daran erinnern: Zu bestimmten Zeiten haben einige Personen, sogar innerhalb des Hauses, gedacht: Es ist vorbei mit dem Nationalmuseum", sagt Direktor Kellner bei der Eröffnung der Ausstellung "Um Museu de Descobertas" (Ein Museum der Entdeckungen) an diesem Vormittag, die die Aufnahme der Aktivitäten in einem neuen Besucherzentrum und Ausstellungsraum des Museu Nacional unweit des abgebrannten Gebäudes markiert. "Das Museum ist nie am Ende gewesen, nicht einmal in seinem schlimmsten Moment, dem Brand am 2. September 2018." 

Alexander Kellner bei der Eröffnung der Ausstellung  "Um Museu de Descobertas"
Foto: Martina Farmbauer

Alexander Kellner bei der Eröffnung der Ausstellung  "Um Museu de Descobertas" 

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hätten weiter geforscht, die Studenten nicht aufgehört, ihre Diplomarbeiten und Dissertationen zu verteidigen. Einige haben jedoch auch ihre komplette Forschung verloren und sich davon nicht gut erholt, litten unter posttraumatischem Stress, wie Mitarbeiter Diogo beim 206. Geburtstag des Nationalmuseums im Gespräch im Juni erzählte. "Im Allgemeinen ist die Stimmung der Wissenschaftler aber mehr Wiedergeburt, Neuanfang, Resilienz." So steht das Nationalmuseum nicht nur für die Frage, wie Brasilien, das "Land der Zukunft" (Stefan Zweig), eine Zukunft haben soll, wenn es seine Vergangenheit nicht ehrt. Sondern auch für die Eigenschaft der Brasilianerinnen und Brasilianer, nie aufzugeben. 

Außer wissenschaftliche Forschung zu betreiben, bietet das Nationalmuseum etwa Postgraduiertenkurse in Sozialanthropologie, Archäologie, Botanik, Linguistik und indigenen Sprachen, Zoologie und Geowissenschaften an. "Was hat gefehlt? Der Teil der Ausstellungen, an dem wir mit Partnerinstitutionen auch gearbeitet haben", sagt Kellner. Der 61-Jährige kam in Vaduz zur Welt, schon als Kind mit seinen Eltern nach Brasilien und wurde hier zum berühmten Flugsaurierforscher.

So fand bereits vier Monate nach dem Brand die ursprünglich für Oktober 2018 geplanten Ausstellung mit Fundstücken des Projektes "Paleoantar", das an das brasilianische Antarktis-Programm angeschlossen ist, in der "Casa da Moeda" im Zentrum Rios statt. Es folgten weitere Schauen, etwa in den Kulturzentren "Centro Cultural Banco do Brasil” (CCBB) und "Caixa Cultural", auch mit Objekten, die Mitarbeitende bei den Bergungsarbeiten in den Trümmern des abgebrannten Museums gefunden hatten.

Museum mit Verbindung zur deutschsprachigen Welt

Nun also "Um Museu de Descobertas" mit Forschungen, die nach dem Brand entstanden und in gewisser Weise auch irgendwie symbolisch für das Nationalmuseum sind, etwa über einen Minifrosch, der mehr als 100 Jahre für ausgestorben gehalten und von Mitarbeitenden des Museums in den Bergen hinter Rio de Janeiro entdeckt wurde. Oder über ein von deren Kolleginnen im Bundesstaat Santa Catarina gespendetes Wirbeltier-Fossil, das mit einer Rekonstruktion zu Leben erweckt wurde sowie nach der brasilianischen Zoologin und Frauenrechtsaktivistin Bertha Lutz und Dona Leopoldina benannt. 

Im Jahr 1818 gegründet, ist das Nationalmuseum eine der ältesten wissenschaftlichen Einrichtungen Brasiliens und das älteste naturkundliche Museum Lateinamerikas gewesen. Dabei hatte es eine enge Verbindung zur deutschsprachigen Welt. Einst hatte das Gebäude als Palast für die königliche portugiesische und kaiserliche brasilianische Familie gedient. Hier lebte und starb Leopoldina, die österreichische Kaiserin Brasiliens. Die Habsburgerin heiratete 1817 den Thronfolger der portugiesischen und brasilianischen Monarchie, den späteren Kaiser Pedro I. Die königliche portugiesische Familie war 1807 vor Napoleon nach Rio geflüchtet.

Der erste "eigene" fixe Ausstellungsraum liegt auf dem an eine Containerlandschaft erinnernden, 2020 fertiggestellten Forschungs- und Lehrcampus des "Museu Nacional" und der Bundesuniversität Rio de Janeiro (UFRJ), an die das Museum angeschlossen ist. Und nur eine Straße von der "Quinta da Boa Vista", dem Sitz des Nationalmuseums im kaiserlichen Viertel São Cristóvão in der Nordzone Rios getrennt.

Brasilien ist ein tragikomisches Land

An einem Sonntag machen viele Familien in dem öffentlichen Park Picknick, Kinder spielen Fußball und lassen Drachen steigen. Einige nutzen die Gelegenheit und schauen beim Geburtstag vorbei, andere sind speziell deswegen zum Museum gekommen, vor dem eine Statue Leopoldinas steht. Dieses Publikum soll gepflegt werden, bis das Nationalmuseum 2026 wiedereröffnet wird. "Wir sind hier, aber wir wollen in den Palast", sagt Kellner, der im milden Winter auf der Südhalbkugel Hut und Bart trägt, kämpferisch. Dafür ist viel Geld notwendig. Wenn es nicht bald zusammenkommt, müssten die Arbeiten gestoppt werden, so der Direktor.

Der UFRJ sei es bisher gelungen, 261 Millionen Reais, umgerechnet rund 42 Millionen Euro, des ursprünglich veranschlagten Budgets von 491 Millionen Reais (ca. 79 Millionen Euro), zu beschaffen, berichtete die brasilianische Zeitung "O Globo". Zusätzlich seien jedoch 109 Millionen Reais (ca. 17 Millionen Euro) notwendig geworden. Zur Überraschung von Carlos Fernando Andrade, Ex-Superintendent der Denkmalschutzbehörde Iphan: "Normalerweise, nach einer Katastrophe wie dem Brand, muss man erst einmal konsolidieren, was noch da ist. Normalerweise, wenn es sich um historisches Erbe handelt, ist das erste, was man macht, Risiken zu beseitigen." Doch das Bauprojekt, das auch von Deutschland unterstützt wurde, begann mit der Fassade, die 2022 fertiggestellt wurde - und oben mit 31 Statuen versehen.

Brasilien ist ein tragikomisches Land; es wäre zum Lachen wenn es nicht zum Weinen wäre. Andrade kann sich vorstellen, dass man etwas für die Öffentlichkeit vorzeigen können wollte. Unmittelbar nach dem Brand seien Sofortmaßnahmen ergriffen worden, um die Reste zu retten und weitere Schäden zu verhindern, antwortet eine Sprecherin des Museu Nacional auf Nachfrage. Sobald dies erledigt war, begannen die Wiederaufbauarbeiten an der Fassade mit dem Ziel, der Öffentlichkeit den Palast näher zu bringen, im Garten Veranstaltungen wie rund um den Jahrestag des Brandes das "Festival Museu Nacional Vive" stattfinden zu lassen und zu zeigen, dass die Arbeiten voranschreiten.

Eine neue Sammlung wird zusammengestellt

Zum Wiederaufbau des Nationalmuseums gehört auch das Zusammenstellen einer neuen Sammlung, was bereits ebenfalls kurz nach dem Brand mit Spenden und Partnerschaften begonnen habe, so die Sprecherin. Im September 2021 wurde die Kampagne #Recompõe ins Leben gerufen, bei der Personen, Institutionen und Gemeinschaften aufgerufen wurden, durch Spenden von Gegenständen einen Beitrag zu leisten. Die Kampagne hat bisher 14 598 Objekte gesammelt; im Mai bekam das Museum dabei eine wichtige und die bisher größte Schenkung von dem deutsch-schweizerischen Sammler Burkhard Pohl, der mehr als 1100 brasilianische Fossilien inklusive seltener Dinosaurier spendete.

Je nach den Bedürfnissen der Sammlung werden die Objekte an verschiedenen Orten in Rio aufbewahrt, auf dem Campus, im Botanischen Garten, bei Partnern. 1815 von ihnen sollen in die Ausstellung des Museums aufgenommen werden. Das Ziel für die Ausstellung sind 10 000 Exemplare. "Das Nationalmuseum ist wichtig für die brasilianische Gesellschaft", wirbt Direktor Kellner. Das Museum hat immer auch eine soziale Funktion gehabt. Bewohner Rio de Janeiros, die sich eine gute, aber teure Privatschule oder einen Flug nach Paris oder Rom nicht leisten konnten, gingen als Ersatz in das Museu Nacional. Für sie bot es eine Möglichkeit, eine Mumie zu sehen oder ein Foto mit einem Dinosaurier zu machen. Das Nationalmuseum ist eine öffentliche Einrichtung im Sinne von "offen für alle" gewesen, es war wie der Strand einer der wenigen demokratischen Orte Rio de Janeiros.

Dabei ist es für viele, so Kellner, das erste - und auch das einzige - Museum gewesen, das sie besuchten. Diese Funktion kann es nun wieder wahrnehmen, indem der neue Ausstellungsraum zunächst vor allem Schulklassen wie die von der Escola Bilingue Mestre Waldemiro, benannt nach einem legendären Leiter der Rhythmusgruppe der Sambaschule Mangueira, für Besuche empfängt.

"Eine andere Art zu lernen"

Während Kellner spricht, sind die Kinder angekommen, strömen in den Ausstellungsraum, schauen sich Dinosaurier-Skelette und Schmetterlingsdekorationen an, spielen Samba-Instrumente. Schuldirektorin Glaucia Couto, deren Tochter Stella besonders die Dinosaurier gefallen, sagt: "Das bedeutet die Erweiterung des Wissenshorizonts der Kinder. Sie leben in der Favela und haben anderweitig nicht viel Zugang zu dieser Form von Kultur. Hier können sie das sehen, was sie in Büchern lesen, interagieren und verstehen. Es ist eine andere Art zu lernen."

Der Name Estação Museu Nacional für den Ausstellungsraum ist dabei Programm, wie die Paläontologin Julyana Sayão, Kuratorin der Antarktis-Schau und nun Direktorin für die Integration von Museum und Gesellschaft des Nationalmuseums, erklärt. Die Metro- und Zugstation (Estação) São Cristóvão verbindet die (arme) Nordzone mit dem Zentrum und der (reichen) Südzone Rios; vom Forschungs- und Lehrcampus aus kann Sayão das Armenviertel Mangueira sehen, Heimat der "Estação Primeira da Mangueira", die beim weltberühmten Wettbewerb der Sambaschulen im Karneval von Rio zahlreiche Male gewonnen hat - und bei der einige der Schülerinnen und Schüler bereits mittanzen.

Kinder spielen Samba-Instrumente im Estação Museu Nacional
Foto: Martina Farmbauer

Kinder spielen Samba-Instrumente im Estação Museu Nacional