Kunstvermittlung im MoMA

Umgang mit anderen Meinungen lernen

In der Erregungskultur unserer Tage werden Vermittlungsabteilungen in Museen immer wichtiger. Kann Kunst nicht mehr für sich selbst stehen? Ein Blick hinter die Kulissen des New Yorker MoMA

Das Signal war unmissverständlich: Als der Direktor des Museum of Modern Art (MoMA) Mitte Mai in Berlin der deutschen Presse die Umbaupläne seines Hauses vorstellte, saß da nicht nur einer der Chefkuratoren neben ihm, sondern auch Wendy Woon, die langjährige Leiterin der Vermittlungsabteilung. MoMA-Chef Glenn D. Lowry schwärmte davon, dass nach der Neueröffnung im Oktober in der berühmten New Yorker Institution die Geschichte der Moderne dynamischer und nicht mehr linear erzählt werde, dass Medien wie Malerei, Fotografie oder Video weniger strikt voneinander geschieden sein werden und – "Hier übergebe ich an Wendy ..." – dass die Bildungs- und Vermittlungsabteilung im zweiten Stock einen zentralen und für alle Besucher deutlich sichtbaren Platz erhält.

Woher kommt diese ungeheure Aufwertung des Department of Education, eine Aufwertung, die besonders aus europäischer Sicht erstaunlich ist? Dass Vermittlung sein muss, wird wohl auch hierzulande kaum jemand bestreiten, der im Museum arbeitet. Aber wenn man mit Direktoren und Kuratoren in Deutschland über die Bildungsabteilungen in US-Museen spricht, winken einige schon nervös (oder neidisch?) ab: "Das wird immer schlimmer, alles wird toterklärt, bis kein Geheimnis mehr da ist", sagt ein Kurator eines deutschen Museums hinter vorgehaltener Hand. Seine Empörung folgt einem vielleicht nachvollziehbaren Reflex. Doch ein genauerer Blick lohnt sich.

Atmosphäre der permanenten Kontroverse

Zum einen werden die Strategien der Künstlerinnen und Künstler vielschichtiger, reicher an Kontexten. Sie beziehen sich auf eine stetig anwachsende Kunstgeschichte und eine komplexe Gegenwart, deren Prozesse der Globalisierung und Digitalisierung für den Einzelnen häufig schwer nachzuvollziehen sind.

Dann wird das Publikum diverser. War das Museum einst Spiegel des bürgerlichen Selbstverständnisses, streben heute viele soziale Schichten und internationale Besucherinnen und Besucher nach Teilhabe. 

Und dann haben sich in den letzten Jahren die Debatten um Ausstellungen und Strukturen von US-Museen parallel zum politischen Diskurs unter der Trump-Administration verschärft: Aktivisten besetzen Räume, protestieren gegen Sponsoren, Vorstandsmitglieder oder einzelne Kunstwerke. Guggenheim-Chefkuratorin Nancy Spector macht auch die sozialen Netzwerke für die Heftigkeit einiger Proteste verantwortlich. "So ein Ausmaß an Wut haben wir noch nicht erlebt", sagte die Museumsfrau, nachdem ihre Institution wochenlang in der Kritik stand, weil in drei ausgestellten Videos nach Ansicht von Aktivisten Tiere gequält wurden. "Ein solcher Shitstorm bedeutet das Ende des Diskurses. Wir konnten dem Publikum zum Beispiel nicht mehr erklären, dass es sich um historische Werke handelt und in der Ausstellung selbst keine lebenden Tiere zum Einsatz kommen."

"Wir leben in einer Atmosphäre der permanenten Kontroverse", sagt auch Glenn D. Lowry während des Berliner Pressetermins im Gespräch mit Monopol. "Menschen fühlen sich herabgesetzt, sind wütend und voller Angst. Und unser Museum existiert in der realen Welt, wir müssen darüber nachdenken und damit umgehen."

Darf Kunst noch undurchdringlich sein?

Ortstermin in New York. Noch ist das MoMA, das älteste und weltweit wohl bekannteste Museum für moderne und zeitgenössische Kunst, für Besucherinnen und Besucher geöffnet, bevor es am 15 Juni für vier Monate Umbau schließen wird. Hinter einem zur Lunchzeit verwaisten aber mit Postern, Lernmaterialien und Geschenken begeisterter learner vollgestopften Großraumbüro biegt man in das kleine Office von Wendy Woon. Die Leiterin der Vermittlungsabteilung arbeitet seit 30 Jahren als Kunstpädagogin, davon 13 Jahre im MoMA. Auch sie findet, dass die politische Atmosphäre im Moment sehr aufgeheizt ist: "Viel hat sich geändert in den vergangenen Jahren, etwa durch die #MeToo-Bewegung. Aber das Museum kann ein Ort sein, in dem wir den Umgang mit anderen Meinungen lernen", glaubt sie. Künstler könnten durch ihre Kunst ein Beispiel geben, wie man auf eine konstant sich ändernde Welt kreativ reagiert.

Die zwei wichtigsten Dinge, die Besucherinnen und Besucher laut Umfragen wissen wollen: Welche Inspiration steht hinter einem Kunstwerk und wie ist es gemacht? "Es geht in unserer Einrichtung zwar um Objekte, aber eben um Objekte, die hergestellt wurden. Es geht um Künstler, die denken und Wissen kreieren durch ihr Schaffen. Kunstwerke sind nur ein Endprodukt. Unsere Aufgabe ist es, die Objekte zu rehumanisieren, und zwar so, dass sie sich mit dem Erfahrungshorizont der Leute deckt und Fragen beantworten über den eigenen Platz in der Welt."

Nimmt dieser Anspruch, alles und jeden zu verstehen, nicht der Kunst die Kraft? Darf nichts mehr für sich stehen, einsam, undurchdringlich, enigmatisch? Nach dem Pressetermin in Berlin konfrontieren wir Glenn D. Lowry mit diesen Zweifeln. "Ich bin Kurator, ich bin Kunsthistoriker", betont der 66-Jährige, "natürlich glaube ich an die singuläre Kraft eines Kunstwerks und daran, dass es eine reiche Bedeutungspalette erzeugt. Diese Idee ist in unsere Sammlung eingeschrieben. Aber viele Menschen brauchen Hilfe und Bestätigung." Ähnlich äußert sich auch Christophe Cherix, MoMA-Chefkurator der Grafikabteilung: "Unterschiedliche Menschen brauchen eine unterschiedliche Ansprache. Darin sind Kuratoren nicht ausgebildet."

Wie viel politische Haltung erlaubt sich ein Museum?

Wendy Woon hat eine mitreißende Art über Kunst zu sprechen, ist sich dabei aber aktueller Spannungen bewusst. "Vermittler sind häufig die ersten, die Konflikte mitbekommen. Wenn Menschen wütend werden, sage ich mir: Museen und Kunst geht es um Emotion und Interpretation, um eine Einordnung in historische Umstände; das macht ein Haus dynamisch."

Aber wie viel politische Haltung erlaubt sich das Museum? Wendy Woon hat offenbar nur auf diese Frage gewartet, sie dreht sich schwungvoll um und nimmt ein gerahmtes Bild von ihrem Schreibtisch: Auf dem Foto, das sie grinsend vor sich hält, ist sie mit dem Dalai Lama zu sehen. Buddhismus als pädagogisches Leitbild? "Wir bewegen uns weg von der Idee der einen Autorität", sagt Wendy Woon, es gehe vielmehr darum, Leute miteinander ins Gespräch zu bringen, untereinander, mit MoMA-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeitern, mit special guests, Künstlerinnen und Künstlern, Kuratorinnen und Kuratoren. "Der Prozess ist wichtig. Und die Besucherinnen und Besucher bringen selbst schon so viel Wissen mit ein."

Der Künstler Marcel Duchamp beobachtete bei vielen seiner Kolleginnen und Kollegen eine Diskrepanz zwischen Absicht und Verwirklichung eines Kunstwerks, das damit "immer noch in einem Rohzustand" verbleibt, der "vom Zuschauer 'raffiniert' werden muss wie die Melasse zum reinen Zucker." Kunst ist für Wendy Woon aus diesem Grund vor allem eins: Erlebnis. Und eben Vermittlung.

Das MoMA wurde als Bildungseinrichtung gegründet

Nebenan im Großraumbüro kann man sich wie zur stetigen Vergewisserung des eigenen Tuns die Geschichte und Bedeutung des Department of Education anhand von Schaubildern an der Wand ansehen. Das MoMA wurde 1929 bereits mit einer Vermittlungsabteilung gegründet, mehr noch, es erhielt seine Genehmigung zum Betrieb dezidiert als Bildungseinrichtung durch die Bildungsverwaltung des Staates New York (dem "Board of Regents" oder in voller Länge: "Governing boards of colleges and universities in the United States"). Dieses historische Fundament unterstreicht auch Glenn D. Lowry: "Von Anfang an ging es beim MoMA nicht nur darum, ein Bild an die Wand zu hängen, sondern auch die Bedeutungen dieses Bildes zu vermitteln."

An der Bürowand alte Fotos von Victor D'Amico: ein visionär dreinblickender Mann im Anzug. Der erste Direktor des Department of Education war von der Überzeugung getrieben, dass Kunst das Leben besser macht und heilen kann; eines seiner wichtiges Projekte galt Kriegsveteranen. Er begann seine Arbeit mit Besuchen von High Schools, wo er die Schülerinnen und Schüler befragte, was die Moderne für sie bedeute. Er ließ sie sogar eigene Ausstellungen kuratieren. Kunst war für D'Amico ein verbindendes Element, das Generationen, Klassen, politische Gegner zusammenbringt. Letztlich sogar die Welt: Mit dem Children's Art Carnival, einem spielerischem Programm zur Inspiration von Kindern, ging D'Amico auf Tournee durch Europa und nach Indien.

Victor D’Amico 1953 als Moderator der TV-Sendung "Through the Enchanted Gate
Courtesy of The Museum of Modern Art Archives, New York

Victor D’Amico 1953 als Moderator der TV-Sendung "Through the Enchanted Gate"

 

Heute arbeiten 25 festangestellte Mitarbeiter im Team von D'Amicos Nachfolgerin Wendy Woon. Zum Vergleich: Für die Bildungs- und Vermittlungsarbeit  der Sammlungen der Nationalgalerie in Berlin sind 1,5 wissenschaftliche Mitarbeiterstellen im Stellenplan der Stiftung Preußischer Kulturbesitz verankert. Hinzu kommen 1,5 Sachbearbeiterstellen, die in erster Linie mit der Organisation von Veranstaltungen betraut sind. Wendy Woon kann also viel anstellen in dieser Mannschaftsstärke, und wenn man ihr zuhört, stellt sich schnell die Frage, wo eigentlich die Zuständigkeit der großzügig mit Mitteln von Volkswagen ermöglichten MoMA-Bildungsabteilung endet. Die Pädagogen führen nicht nur Programme für Menschen mit Behinderung, für Familien, Schulklassen, Studierende, Lehrerinnen und Lehrer, Kleinkinder, LGBTQ-Communities im Haus selbst durch, sondern gehen auch in hunderte Schulen, Colleges, Altersheime und Quartier-Treffs.

Und ins Internet: Die Digitalisierung hat das Publikum in den vergangenen Jahren ins Unermeßliche vergrößert. Über 650.000 Menschen hören sich jedes Jahr MoMA-Audio-Inhalte in neun verschiedenen Sprachen an, 630.000 Menschen aus über 250 Ländern nehmen an MoMA-Onlinekursen teil. Es ist tatsächlich eine "globale Gemeinschaft von Lernenden", wie es in einem Pressetext heißt.

Ein permanenter Ort im neuen Museum

Im umgebauten MoMA soll diese "globale Gemeinschaft" nun lokal und permanent sichtbar sein:  In der zu den Betriebszeiten des Museums stets geöffneten "Paula and James Crown Platform" im zweiten Stock können die Besucherinnen und Besucher selbst malen, zeichnen, basteln, an Workshops und Gesprächen und dabei – das ist Wendy Woon ganz wichtig – ihr eigenes Wissen einbringen. Man wird den Raum mit der gläsernen vierten Wand bereits vom Foyer des Eingangs 54th Street sehen können. So präsent im Museum war die Vermittlungsabteilung zuletzt 1937 mit der "Young People’s Gallery".

Wenn "der Kanon bröckelt", wie Glenn D. Lowry sagt, wenn neue Erzählungen von der vielschichtigen und internationalen Geschichte der Moderne gefragt sind und wenn auch das Publikum diverser wird, dann braucht es Leute, die neue Verknüpfungen herstellen. Das sind die Kuratorinnen und Kuratoren mit Ausstellungen und Publikationen (die Curatorial Departments sind immer noch die am stärksten wachsenden MoMA-Abteilungen) – und es ist das Vermittlungsprogramm. "Die Neuhängung ist eine große Chance", findet Wendy Woon. "So haben wir immer gedacht: Der Kanon ist ein lineares Konstrukt aus der Vergangenheit, aber Künstler arbeiten anders. Sie bauen aufeinander auf, und es gibt keine einsamen Genies."