"Früher war alles besser" ist wohl einer der unattraktivsten Sätze unserer Zeit. Und doch wäre eine Reise in die Vergangenheit in manchen Situationen ganz schön. Etwa während der Modewoche in Mailand. Wie war das wohl, als tatsächlich nur Modejournalisten, Stylisten und Einkäufer zu den Schauen eingeladen waren? Menschen aus der Industrie also, die tatsächlich mit den gezeigten Kleidern und dahinter verborgenen Informationen arbeiteten?
Es war eine Zeit, als die Modeinteressierten später aus Zeitschriften erfuhren, wie die Designer ihre Visionen in Stoff übersetzt hatten und was im nächsten Frühjahr getragen werden sollte. Und nicht alles im Livestream in den sozialen Medien verfolgen konnten. Als in der ersten Reihe keine Influencer saßen, oder "Brand Ambassadors", in genau der Kollektion, die doch gerade erst über den Laufsteg getragen wird. Und als Frühling-Sommer-Kollektionen tatsächlich dazu einluden, sich für die warme Jahreszeit zu kleiden. Aber wir gehen nicht zurück. Vor allem nicht in der Mode. Wie die Zukunft dieser Welt aussehen wird, ist auch ungewiss. Da bleibt also nur der Moment.
"Ich liebte diese Kollektion. Denn wir scheren und nicht um die Zukunft, oder die Vergangenheit. Wir wollen einfach im Moment leben", sagte dann auch Simone Rizzo nach seiner jüngsten Schau zu Modekritikerin Cathy Horn. Der Sunnei-Co-Gründer feierte diese Saison zusammen mit seinem Geschäftspartner Loris Messina das zehnjährige Bestehen der italienischen Marke.
Jung und Alt, Birkenstock und Zehenschuhe
Sunnei wurde 2014 als reine Menswear-Linie gestartet und hat seit 2019 auch Damenbekleidung im Angebot. Obwohl bei diesen Entwürfen vermutlich jeder alles tragen kann. Schon vor der Spring-Summer-25-Show in der Lia Rumma Galerie im Norden Mailands wird klar, wie und wieso sich Sunnei von den italienischen Riesen abgrenzt.
Das Publikum, das vor dem Eisentor wartet, vereint Jung und Alt, Birkenstock, Zehenschuhe und Highheels, Sommerkleider, Kapuzenpullover und Blazer. Nur sehr vereinzelt nehmen Influencer auf den niedrigen Hockern Platz. Dafür gehören Künstlerin Marina Abramović und Modefotograf Jürgen Teller zu den geladenen - und erschienenen - Gästen.
Sunnei macht vieles anders als die alteingesessenen Häuser Prada, Gucci oder Versace. Zum Glück. Kurz vor seiner Jubiläumsschau verriet das Duo der "New York Times": "Das wahre Geheimnis unseres Erfolgs ist, dass wir die einzige Marke in Mailand sind, die zu einer Gemeinschaft spricht, die geholfen hat, eine Gemeinschaft zu schaffen."
Alles wird nicht ganz so ernst genommen
Die Firma startete sehr nischig, hat mittlerweile eine feste Fanbase und durch immer mehr Aufmerksamkeit auch immer mehr Anhänger. Die Diversität des Publikums, die Leichtigkeit und der Spaß, die ihre Mode und Showkonzepte verkörpern, sprechen für Messina und Rizzo. Schon von Beginn an finden sie Wege, ihre Mode auf ironische, augenzwinkernde Weise zu präsentieren. Sie kommentieren das Weltgeschehen oder lassen Alltägliches zum Kontext werden, der vereinen kann.
Während ihrer Mailänder Schau im Februar etwa wurden die gescripteten Gedanken der Models während der jeweiligen Walks laut im Raum ausgestrahlt. Ein anderes Mal sollte das Publikum Tafeln zur Bewertung der Looks hochhalten. Unvergessen bleibt auch die Show, als Mitarbeitende des Unternehmens als Models eingesetzt wurden und am Ende ihrer Auftritte im Publikum Stagediving praktizierten. Alles wird nicht ganz so ernst genommen, doch das tut der Mode keinen Abbruch, im Gegenteil. Während die Defilees einiger großer Namen eine von vorn bis hinten durchgeplante Inszenierung sind, gleichen die professionelle Spontaneität und geübte Gelassenheit Sunneis einem kurzen Durchatmen.
"Sunnei wird zehn, und trotzdem haben wir es immer noch nicht geschafft, eine eigene Wikipedia-Seite zu bekommen“, liest sich die erste Zeile der aktuellen Shownotes zur Mailänder Präsentation. Über dem Text prangen die Umrisse der Galerie Lia Rumma, die einem Geburtstagskuchen gleicht. "Zehn Jahre fühlen sich an wie 100", steht auf einem gezeichneten Banner. Der Slogan dient als Konzept der neuen Frühjahr-Sommer-Kollektion. "Die letzte Dekade sind wir durch die Zeit gereist, bis hin zu einem Punkt, an dem sie jeden Sinn verloren hat. Jetzt fühlt sich die Zeit verzerrt an, und es ist an der Zeit, diese Wahrnehmung mit allen hier zu teilen."
"Alter wird irrelevant"
Welche Überraschung, welcher Sketch würde diese Saison wohl auf das Publikum warten? Laut der Beschreibung: "in einer anderen Zeitwahrnehmung zu leben." Nein, die eine Stunde Verzögerung der Schau meinten sie nicht, obwohl das andächtige Warten und Sitzen im hektischen Mailand auch schon eine Erfahrung war. "Alter wird irrelevant, wenn du dir die Gesichter bei einer Sunnei-Show 100 Jahre vom Jetzt vorstellst", lesen sich die Shownotes weiter.
Die Personen, die dann den Sunnei-Sommer-Look fürs nächste Jahr trugen, enthüllten Messina und Rizzos Absicht. Das Ensemble auf dem Laufsteg bestand ausschließlich aus Models jenseits der 50 oder 60 Jahre. Graues Haar, faltige Gesichter. So gewöhnlich im wahren Leben, so selten gesehen bei Modeschauen, schon gar nicht im Casting.
Einzelne ältere Models laufen ab und an bei unterschiedlichen Designern als kleine Hingucker mit. Als "Anti-Ageism-Prävention"? Doch hier wurde die Ausnahme zur Regel und zum Show-Stunt. Mit den offensichtlich reiferen Mannequins arbeitete Sunnei gleichzeitig gegen die hartnäckige Beschreibung als die "junge" und "verrückte" Marke Mailands an. Die abgeklärte, würdevolle Ausstrahlung, das langsame Tempo, die weißen, in Wellen geföhnten Frisuren verpassten den alters- und weitgehend geschlechtslosen Kleidungsstücken eine unzerstörbare Eleganz und Reife. Ein Statement auf Sunnei-Art: smart und durchdacht.
Die Essenz der Marke einfangen
Die Kollektion bedeutete für die Designer nach eigener Aussage, die Essenz ihrer Marke einzufangen und Codes, die sich über die letzten zehn Jahre herausgebildet hatten, zu wiederholen. So liefen die Models in lässig-weiten Silhouetten, strahlend-geblockten Farben, Statement-Accessoires, schmalen Streifen und auffällig bunten Schuhen durch die Sitzreihen. Ein skurril-voluminöses Top machte den Anfang an einer Dame mit weißem Bob. Ihre Füße in bunten Plateau-Flipflops. Es folgten ein Lederkostüm zu Sneakern mit giftgrünen Schnürsenkeln, ein knallrotes Tank-Top an einem Herren mit grauem Rauschebart und Anzug-Variationen über bedruckten, eng anliegenden Longsleeves, die in Handschuhen endeten.
Understatement in jedem Blazer-Revers – klar vor Augen, was die Marke definiert. Gürteltaschen mit drei Reißverschluss-Fächern, weite weiße Ensembles und zuletzt tomatenrote Blockstreifen auf einem Oversized-Hemdkleid. Knielange T-Shirts oder auch gestrickte Tank-Tops für den Mann, strenge Anzugwesten und fließende Röcke in Midi-Länge für die Frau. Unaufgeregt und spürbar cool. Nicht zuletzt durch den ungewöhnlichen Cast.
Man merkte, dass die Designer für eine bestimmte Gruppe Mailänder entwarfen, den gemeinen Milanese, der in einem etwas weniger zentralen Viertel lebt und die Stadt jenseits der Duomos erlebt. Schick, ohne Frage, aber vor allem auch tragbar, kombinierbar und: einsatzbereit für den Sommer.
Losgelöst von Trends
Denn, wie Modekritikerin Cathy Horn nach der Show feststellte, ist es anscheinend keine Bedingung, sommerliche Kleidung zu zeigen, wenn es um die Frühling-Sommer-Kollektion geht. "Es ist mir ein Rätsel, dass italienische Designer, die wirklich wissen, wie man den Sommer bespielt, es nicht hinbekommen, Sommerkleidung zu designen. Stattdessen spüren sie dieses Bedürfnis oder Druck, alles zu erhöhen." In Sunneis Oversized-T-Shirt lässt sich ein italienischer Juli definitiv gut aushalten. Genau wie in all den weiteren "Smart-Wear"-Stücken, wie sie ihre Mode nennen. Clever und losgelöst von Trends.
Sunnei könnte als eine der wenigen demokratischen Häuser in einer Branche gesehen werden, die davon lebt, als exklusiv zu gelten. Als Finale der Show stellten sich die Models vor der Galerie in zwei Reihen auf. Wie ein Tableau Vivant starrten sie durch die sich um sie herum versammelnde Masse, die auf ein legendäres Foto spekulierte. Auch die wartenden nicht geladenen Gäste konnten so die neuesten Kreationen von Rizzo und Messina für einen Moment bestaunen. Und letztlich ist es ja dieser Moment, um den es geht.