In unzähligen Boxen hat Miranda July ihre Arbeiten archiviert. Begonnen hat sie damit in den 1990er-Jahren, bis heute sammelt die US-Künstlerin und Filmemacherin jedes Objekt, jedes Kleidungsstück, jedes Skript, das in einer ihrer Performances, Installationen und multimedialen Arbeiten vorkam. "Der Grund, dass ich dieses Archiv angelegt habe, ist, dass ich in meinen Zwanzigern einen Archivar kennenlernte, und ich realisierte, als die junge, punkige Feministin, die ich war, dass wir uns an das erinnern, das wir aufheben. Und an was erinnert wird, wird zu Geschichte und dadurch zur Realität."
Archive seien etwas Radikales gewesen, für die meisten Menschen habe es keine gegeben. So legte sie ihr eigenes an. Vor wenigen Jahren dann lud July die Kuratorin Mia Locks ein, um mit ihr die wertvolle Sammlung zu sichten. Heute ist daraus eine Auswahl ihrer wichtigsten Werke aus drei Jahrzehnten geworden, die nun unter dem Titel "New Society" im Osservatorio der Fondazione Prada in Mailand ausgestellt ist. Das Cinema Godard, das Kino der Stiftung, zeigt währenddessen einige von Julys bekanntesten Filmen, darunter "The Future" – die Vielseitigkeit der Künstlerin findet im ganzen Prada-Reich Platz.
Das übergreifende Thema sei "Machtverhältnisse", erklären Miranda July und Kuratorin Locks – und hier fängt der Diskurs schon an. Zum ersten Mal arbeitete July mit jemandem zusammen, der sie dabei unterstützte, diese institutionelle Ausstellung zu organisieren. Macht zu teilen sei auch in der Kollaboration der beiden Frauen ein Schlüsselelement gewesen. "Unsere Zusammenarbeit fühlt sich an wie Feminismus bei der Arbeit. Wir stellen uns gegenseitig in Frage, wir bringen unseren jeweiligen Willen zum Ausdruck, wir widersprechen uns mit Respekt, wir reflektieren, und wir finden eine Art Übereinstimmung, damit wir vorankommen können. Es ist schon komisch, wenn man bedenkt, dass unsere Geschichte damit begann, dass July mich einlud, ihre Ausstellung zu kuratieren, aber jetzt habe ich das letzte Wort. Ich frage mich, wie sich das für sie anfühlt?" schreibt Mia Locks in ihrem Essay zur Schau.
Die Amateurin wird Profi und umgekehrt
Miranda July lässt diese Verschiebung ganz offensichtlich zu. Trotzdem überdeckt nichts ihre Präsenz, auch, wenn sie Kontrolle abgibt. Ihr ältestes gezeigtes Werk, "The Amateurist", ist von 1997. In einer Performance verkörpert July zwei Frauen, die Amateurin und die Expertin, und hebt die unangenehme Dynamik zwischen beiden Charakteren hervor.
Bald ergibt sich ein Rollentausch vom Profi hin zur Anfängerin. Die ganze Ausstellung soll auch ein Hinterfragen von erwarteten Zuschreibungen sein. Die Künstlerin wünscht sich, dass die Betrachtenden sich sicher genug fühlen, um während des Ausstellungsrundgangs Offenheit zulassen. Dafür stellt July auch ihre eigene Rolle in Frage. Es werde erwartet, dass sie der mächtige Part sei, wenn sie auf der Bühne stehe und jeder sie anschaue. Gleichzeitig mache sie sich dadurch jedoch sehr verletzlich.
An den ausgestellten Werken erkennt man, dass July sich mit den Jahren von ihrer frontalen Postion vor dem Publikum entfernte und die Zuschauerinnen immer mehr in ihre Performances integrierte, mit ihnen spielte. Wie etwa in der titelgebenden "New Society" von 2015. Innerhalb von zwei Stunden durchlebten die Künstlerin und die Anwesenden 20 Jahre, in denen sie eine neue Gesellschaft gründen, inklusive Flagge und Nationalhymne. Julys acht grüne Blusen, die sie während der einzelnen Aufführungen trug, hängen an der Wand neben der Performance-Aufzeichnung. Die Künstlerin fungiert in dem Stück als die selbsternannte Anführerin, doch sie lässt die einst passiv Beherrschten zu aktiven Mitwirkenden werden – hier ist auch eine surreale Form von Demokratie am Werk.
Wir nennen es Familie
Besonders deutlich wird dies auch im neuesten Werk "F.A.M.I.L.Y – Falling Apart Meanwhile I Love You": ein Kunstwerk, das Julys Interesse für die Bedeutung von Familie weiterführt. Und ein Zusammenspiel mit neuesten technologischen Instrumenten, die sich die Künstlerin zueigen macht. Sie bat sieben Performance-Künstler auf Instagram, ihr Videos von sich zu schicken, allein im eigenen Zuhause. Auf den Aufnahmen sollten die Beauftragten Platz für die Künstlerin lassen. "So konnte ich mich ihnen anschließen, je nachdem, wo ihre Hände, ihre Körper angeordnet sind."
Sie nutzte ein digitales "Cut Out"-Tool, um sowohl sich als auch die kollaborierenden Künstlerinnen und Künstler auszuschneiden und in einem neuen Video zusammenzusetzen, in dem sie sich umeinander und miteinander bewegen. "Ich versuchte, ein Bild zu kreieren, das uns das gibt, was wir uns vielleicht von Anfang an von Social Media gewünscht haben: Wir wollen so liebevoll angeschaut werden, dass wir uns geborgen fühlen."
Sie gestaltete die Videos auf eine Art, wie sich Kinder Sex vorstellen, erklärt July. Die totale Verschmelzung zweier Körper, ein unbeholfenes Aufeinandertreffen, eine ungeschickte, aber sanfte Interaktion. Eine Art neue Körpersprache zwischen den Protagonisten entsteht, die auf den Bildschirmen sehr intim erscheint, obwohl sich die Personen nie im wahren Leben begegnet sind.
"Erstelle eine Ausstellung mit Kunst aus dem Haus deiner Eltern"
Durch spielerisch aufgeteilte Macht bewegt July Menschen dazu, sich ihr zu öffnen und in ihre Kunst einzusteigen. Auf der zweiten Etage des Osservatorio herrscht ein ruhigeres Tempo, weniger Werke sind ausgestellt, die dafür umso genauere Betrachtung einfordern. Neben "F.A.M.I.L.Y" ist dort auch "Learning To Love You More: Assignment #43" zu finden. Das Kunstwerk ergibt sich aus der Fortführung einer Website, die July zusammen mit dem amerikanischen Künstler Harrell Fletcher entworfen hatte.
Auf dieser waren 70 kreative Aufgaben ausgeschrieben, die von Internetnutzern erfüllt und als Ergebnisse eingesendet wurden. Die 43. Anweisung lautete: "Erstelle eine Ausstellung mit der Kunst aus dem Haus deiner Eltern". Durch einen Instagram-Aufruf belebte July diese Idee wieder und verortete sie in Italien: "Wer ist in oder um Mailand herum aufgewachsen und möchte seine Elternhaus-Kunstwerke präsentieren?" July wählte die junge Künstlerin Miriam Goi aus, deren Mutter noch immer in dem Haus lebt, in dem Goi groß geworden ist.
Auf rot gestrichenen Sockeln, inmitten einer Art "roten Insel" des Stockwerks, sind die kitschig-süßen, persönlichen Objekte aufgebaut, die Goi durch ihre Kindheit begleiteten. Kleine Figuren, gerahmte Bilder, schrullige Gegenstände – für den Besucher vielleicht nur ein Katzen-Magnet, für Miriam ein früher Ausblick in eine romantische Zukunft. "Auf dem Magneten sieht man zwei Katzen, die in die Zukunft schauen. Wenn du ein Kind bist, fantasierst du über romantische Liebe. Darüber, die richtige Verbindung mit der richtigen Person zu finden, dafür steht für mich der Magnet", erklärt Goi ihr liebstes Ausstellungsstück.
Geteilte Macht erreicht mehr als Alleinherrschaft
Gerade für Millenials, die noch kein eigenes Haus besitzen und vermutlich auch keins haben werden, hat die Kunst aus dem Elternheim oft eine tiefere Bedeutung. Sie war da, bevor man es selbst war, jahrelang fragte man sich, was das abstrakte Bild bedeutet oder interpretierte Gesichter in wilde Muster auf Vasen. Die Einzelstücke vermitteln Geborgenheit und Zuflucht, auch, wenn einigen von Gois Objekten tiefere, traurige Geschichten innewohnen. Wie etwa den holländischen Holzschuhen, einem Geschenk ihres Vaters.
So lädt Miranda July ein weiteres Archiv in ihr eigenes ein, schafft Platz, um Erinnerung zu ermöglichen, und es in eine Realität zu integrieren, die über die Prada-Mauern hinaus reicht. Sie ernennt Co-Künstlerinnen, findet eine Ebene, auf der geteilte Macht mehr erreicht als die Alleinherrschaft. Gerade die Verbindung mit einem aktiven Publikum wirkt zukunftsweisend und fesselnd. Miranda Julys Bedeutung wird durch die Einbindung von anderen nur noch raumgreifender. Sie ermöglicht und lenkt - und ihre zugewandte wie seltsame Beziehung zur Welt ist selbst in dem roten Raum voller fremder Kunst in jedem Element spürbar.