Michael Danner, wie war die Situation, als Sie 2008 anfingen?
Um die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla in Nordafrika wurden die Bewehrungen aufgestockt, aus einem Zaun wurden drei, die parallel zueinander Marokko von Spanien trennen. Die Innenminister der EU erweiterten die Befugnisse der Grenzschutzagentur Frontex, nordafrikanische Länder erhielten finanzielle Mittel, um Menschen an der Weiterreise nach Europa zu hindern. Unsere nationalen Grenzen wurden nach Afrika oder in die Türkei verschoben.
Wie haben Sie angefangen, an welchen Orten recherchiert und mit wem gesprochen?
Ich fragte mich: Was ist Migration? Auswanderung, Arbeitsmigration, Flucht, Freizügigkeit innerhalb der EU, Vertreibung … Was konstituiert sie, und wer sind die Akteure, die Migration erfassen, verhindern, kanalisieren oder humanitär begleiten? Ich bin diesen Akteuren in Marokko, Tunesien, Spanien, Griechenland, Türkei, Rumänien und Deutschland begegnet. Darunter waren Geflüchtete, Grenzschützer, die Küstenwache, Bundespolizisten, Frontex, NGOs, karitative Organisationen, Freiwillige.
Innerhalb von zehn Jahren hat sich die Lage an den europäischen Mittelmeerküsten und auf See dramatisch zugespitzt. Hatte das Auswirkungen auf Ihr Vorhaben?
Die Zuspitzung der Ereignisse war auch eine Zuspitzung der Worte: Asylchaos, Asyltourismus, Schwemme, Flut, "Mutter aller Probleme ist die Migration", das alles wurde mit Fotografien illustriert. Die Frage für mich war daher: Auf welche Bilder kann ich verzichten?
Not, Gefahr oder Trauma sind nie unmittelbar Gegenstand Ihrer Fotografien. Wie sind Sie zu dieser Entscheidung gekommen?
Gefahren und Ängste thematisiere ich indirekt, etwa wenn ich die See bei Nacht, in rotes Licht getaucht zeige. X-förmige Metallstreben einer Zaunanlage, grün angestrahlt, als brachiale Sperre. Xenophobe Slogans am Bauzaun einer Unterkunft. Die von einem Brand verbogenen Stahlwände eines Containers, der als Flüchtlingsunterkunft diente. Bilder des Satelliten-Beobachtungsprogramms Unosat/Unitar verweisen auf Zerstörung im Kriegsland Syrien. Ich möchte behaupten, dass keine Fotografie dem Leid und Schrecken gerecht werden kann.
Die Schönheit irritiert aber auch.
Gute Bilder, also solche, die konzeptionell durchdacht sind und von handwerklichem Können zeugen, sind in erster Linie oft einfach "schön". Was Dokumentarfotografie leisten kann, die Frage der Repräsentation, ist wichtiger Teil der Arbeit.
Wollen Sie ein Gegenbild entwerfen?
Das visuelle Narrativ der Nachrichtenbilder, an das wir uns gewöhnt haben, zeigt Hilfsbedürftigkeit und Passivität. Migration ist das Gegenteil: Aktivität und Selbstbestimmung. Es ist eine Entscheidung. Flucht bedeutet Hoffnung auf ein besseres Leben, die Menschen nehmen ihr Leben in die Hand. Das ist etwas sehr Lebendiges, ein positiver Impuls, untrennbar mit dem Menschsein verbunden. Für die Menschen auf der Flucht sind die Küsten das Ziel ihrer Hoffnung auf eine sichere Überfahrt in eine bessere Zukunft. Von Norden aus betrachtet, sind sie Sehnsuchtsort, an dem man dem Alltag entfliehen kann.
Wie gelingt es, dass die Betrachtungsweise nicht ins Zynische oder Belanglose kippt, mit Wassermelonen, Strand und Sonnenuntergang?
Die Struktur des Buches ist dafür ganz wichtig: Auf mediterrane Sehnsuchtsorte folgen Motive von Grenzen und deren Bewachern, Orte der Registrierung folgen auf Notunterkünfte und auf den letzten Seiten Flüchtlinge in stillen Inszenierungen. Menschen, die angekommen sind und in sich ruhen. Ergänzt habe ich meine Bilder mit Archivaufnahmen von Migration und Flucht, die einen historischen Bogen schlagen. Unterbrochen werden die Passagen mit Zitaten aus dem Essay „Wir Flüchtlinge“ der politischen Philosophin Hannah Arendt von 1943. Die Gegenwart meiner Fotografien liegt auf der Folie
der Geschichte.
Migration ist schon immer da. Warum ist Ihnen dieser Hinweis wichtig?
Kommen Menschen, ist die Aufregung groß. Mit der Zeit legt sich das, aus Fremden werden Nachbarn, Bekannte, Kollegen, Freunde. Seit ich denken kann, ist Migration in der öffentlichen Debatte. Spätaussiedler, Flüchtlinge während der Jugoslawienkriege, sogenannte Boatpeople während des Vietnamkrieges, Gastarbeiter. Immer nahm die Aufregung ab, wenn die Zahlen sanken, und die Bereitschaft zur Humanität nahm wieder zu.
Wie haben Sie sich als Akteur dabei positioniert? Gab es Situationen, in denen Sie über das Fotografieren hinaus handeln wollten?
Interessante Frage. Susan Sontag schreibt in ihrem Essayband "Über Fotografie": "Das Fotografieren ist seinem Wesen nach ein Akt der Nicht-Einmischung." Und weiter: "Wer sich einmischt, kann nicht berichten; und wer berichtet, kann nicht eingreifen." Beim Fotografieren bewege ich mich bewusst in einem Raum, in dem ich verstehe, was ich sehe. Mir ist aber klar, dass ich damit Teil der Medien bin und Realität schaffe. Als in meiner Berliner Nachbarschaft die Turnhalle einer Schule als Notunterkunft umgenutzt wurde, habe ich mitgeholfen. Die Situation dort war sehr improvisiert, sich zu engagieren war eine offensichtliche Notwendigkeit. Auch, um für die Neuankömmlinge sichtbar zu sein und ihnen ein Gefühl des Willkommenseins zu geben.
Haben sich Ihre eigenen Urteile und Überzeugungen durch das Projekt verändert?
In Griechenland unterstützt die deutsche Küstenwache im Rahmen einer Frontex-Mission ihre dortigen Kollegen und patrouilliert vor der türkischen Küste. Es hat mich tief berührt, die Motivation der Besatzung, die eigentlich Schleuser jagt, bei einem nächtlichen Einsatz zur Rettung schiffbrüchiger Flüchtlinge zu erleben. Prägend für mich waren aber die Begegnungen mit Flüchtlingen in einer Notunterkunft. Mit dem Spracherwerb konnten wir uns austauschen, über die Flucht und das Leben davor, inzwischen haben sie Arbeitsplätze und Wohnungen. Die Einblicke in das Leben der Neuankömmlinge und die Freundschaften mit ihnen sind das Beste, das ich durch die Arbeit bekommen habe.