Medienschau

"Seither wird das Land umgekrempelt"

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Hat das Recherchekollektiv Forensic Architecture ideologische Schlagseite, steht die Venedig-Biennale für einen polnischen Neuanfang, und warum erhitzt der Film "Saltburn" die englischen Gemüter so sehr? Das ist unsere Medienschau am Donnerstag
 

Debatte

Das Recherchenetzwerk Forensic Architecture untersucht mit visuellen Methoden und Open-Source-Verfahren Behördenversagen, Kriegsverbrechen und staatliche Verstöße gegen Menschenrechte. Auf der Documenta 14 machte die am Goldsmiths College in London situierte Investigativagentur mit einer Rekonstruktion des NSU-Mordes an Halit Yozgat Furore. Aktuell recherchiert die Gruppe zum Nahostkrieg. Deutliche Zweifel an den Methoden von Forensic Architecture äußert Mira Anneli Nass in der "taz" und attestiert dem Kollektiv anti-israelische Schlagseite. "Unter dem Deckmantel wissenschaftlicher Objektivität ergreift Forensic Architecture regelmäßig Partei. Auf Basis vermeintlich forensischer Faktizität halten die Investigationen zum Nahostkonflikt einen palästinensischen Opfer- und israelischen Täterstatus aufrecht. Die israelische Armee wird als alleiniger Aggressor gegenüber wehrlosen Zivilist*innen ins Bild gesetzt: Im Video 'The Bombing of Rafah' (2015), einer der am häufigsten ausgestellten Arbeiten des Kollektivs, nutzt es dafür eine Sequenz mit dem Wasserzeichen des mit der Hamas assoziierten Nachrichtensenders muqawama press."
 

Statt eines rechtsgerichteten Malers wird ein ukrainisches Kollektiv den polnischen Pavillon auf der kommenden Venedig Biennale bespielen (lesen Sie hierzu den Gastbeitrag von Kuratorin Joanna Warsza für Monopol). Und überhaupt wird die polnische Kunstszene nach dem Machtwechsel in Warschau gerade umgebaut, wie Viktoria Großmann in der "Süddeutschen Zeitung" schreibt: "Seit dem 13. Dezember hat Polen eine neue liberal-konservative Regierung unter Führung von Donald Tusk – seither wird das Land umgekrempelt. Möglichst rasch sollen die offensichtlich rechtswidrigen oder rein politisch-ideologisch motivierten Stellenbesetzungen in öffentlichen Institutionen rückgängig gemacht werden. Allen voran beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen, das die rechtsnationalistische PiS-Partei zu ihrem Propagandakanal gemacht hatte."


Film

Marion Löhndorfs Artikel in der "Neuen Zürcher Zeitung" über Emerald Fennells zweiten Spielfilm "Saltburn" ist keine klassische Kritik zur Thriller-Satire um einen jungen Studenten, der es sich mit fatalen Folgen auf dem Landsitz einer britischen Adelsfamilie gemütlich macht. Vielmehr berichtet die Autorin über die Kontroverse, die die Filmemacherin damit innerhalb der britischen Kritikerzunft entfacht hat. Dabei, so Löhndorf, sorgten weniger die Sexszenen für Ärger: "Oliver Quick (Barry Keoghan) schlürft vom Badewasser, in das Felix Catton (Jacob Elordi) ejakuliert hat. Quick verführt Felix’ Schwester und delektiert sich dabei an ihrem Menstruationsblut. In einer Szene wirft er sich nackt auf ein frisch zugeschaufeltes Grab und penetriert das Erdreich". Vielmehr sei es die Darstellung der Klassengesellschaft und die Verharmlosung der Aristokratie, die den "Kritikern und dem Publikum in Grossbritannien wirklich stark ans Herz greift". Am Ende zeigt Löhndorf halbwegs Verständnis für die Erzählstrategie in "Saltburn": "Der Film streut tatsächlich Salz in eine Wunde – in die der sich wieder verschärfenden Gegensätze der Gesellschaftsklassen. Übertreibung ist die Währung, mit der hier ganz bewusst gehandelt wird. Es ist gut vorstellbar, dass seine Macher viel – zu viel – Spass bei seiner Herstellung hatten, wie bei einem bösen Streich. Klar ist auch, dass er auf Provokation zielt – und ins Schwarze trifft." Die Monopol-Kritik zu "Saltburn" finden Sie hier.
 

Schauspielerin Emma Stone hat über ihre Erfahrung mit Schamgefühlen gesprochen. "Scham war wie eine Sucht für mich", sagte die 35-Jährige im Interview der dpa und anderer Medienvertreter. "Ich denke, das lag vielleicht daran, wo ich aufgewachsen bin. Ich wurde lutherisch erzogen, und da gab es dieses Konzept von richtig und falsch." Die US-amerikanische Oscar-Preisträgerin, die aus Arizona stammt, spielt die Hauptrolle in "Poor Things", dem neuen Film von Giorgos Lanthimos. Im Fokus steht die Protagonistin Bella, der Schamgefühle völlig fremd sind. "Ich habe viele Dinge verinnerlicht, für die ich mich schuldig fühlte oder für die ich mich schämte", sagte Stone. "Und ich glaube wirklich, dass die letzten Jahre meines Lebens - und Bella ist kein geringer Teil davon - darin bestanden, zu hinterfragen, warum ich diese Dinge glaube. Und ob es wirklich von mir kommt oder ob es von außen kommt." Stone spielt in "Poor Things" eine sehr ungewöhnliche Rolle: Eine erwachsene Frau mit dem Gehirn eines Kleinkinds. Ein größenwahnsinniger Wissenschaftler namens Godwin Baxter (Willem Dafoe) hat sie als schwangere Leiche aus einem Fluss gefischt, ihr das Gehirn ihres ungeborenen Babys eingesetzt und sie wiederbelebt. Konzepte wie Höflichkeit oder Etikette - und natürlich Scham - sind Bella völlig fremd. Der Film startet am 18. Januar in den deutschen Kinos.
 

Restitution

In deutschen Museen und universitären Sammlungen lagern mindestens 17.000 menschliche Überreste aus der Kolonialzeit. Im Gespräch mit "Deutschlandfunk Kultur" spricht Wiebke Ahrndt, Direktorin vom Übersee-Museum Bremen, über die historischen Ursprünge der dubiosen Sammelpraxis und die heutigen Herausforderungen der Institutionen. Die Museen müssten sich den Fragen der Herkunft stellen, so Ahrndt. Das sei man den Verstorbenen schuldig.
 

Podcast

In ihrer (ziemlich männerdominierten) "Zeit"-Podcast-Reihe "Augen zu!" nehmen sich Giovanni di Lorenzo und Florian Illies diesmal den deutschen Maler Otto Dix und die "wilden 1920er-Jahre" vor. Mit geschlossenen Augen, mit denen das Gespräch der beiden Publizisten stets beginnt, sieht Florian Illies erst einmal Desaster, Großstadtleben und verzerrte Gesichter. "Ich sehe die Abgründe des 20. Jahrhunderts". Laut di Lorenzo ist Dix einer der vielseitigsten Künstler überhaupt. Und einer der wenigen, die Krieg nicht nur gemalt, sondern als Soldat im Ersten Weltkrieg auch selbst erlebt hat.