Medienschau

"All diese nackte Existenz direkt vor meinen guten alten Augen"

artikelbild_monopol-medienschau

Entlassungen bei White Cube, Jerzy Montag zur geplanten Bundestagsresolution "Kampf gegen Antisemitismus", Pop-Literat Joachim Bessing über sein Jahr auf TikTok: Das ist unsere Presseschau am Mittwoch

Debatte

Jens Jessen verteidigt in der "Zeit" die Olympia-Eröffnung gegen Kritik, dass in Paris traditionelles Kulturgut verballhornt wurde (etwa Leonardos "Abendmahl"). "Sind alle Geistes- und Geschichtsprodukte zur freien Entnahme gedacht? Natürlich sind sie das. Die ganze Kunstgeschichte ist eine Entnahmegeschichte, eine Anspielungs- und Verfremdungsgeschichte, und Thomas Jolly, der Regisseur der olympischen Gala, hat nichts anderes getan als die Künstler vor ihm, die in das große Regal griffen, nur dass er es diesmal nicht für die Kenner tat, sondern zur Unterhaltung der Massen. Ein solcher Transport vom musealen in den öffentlichen Raum kann nicht ohne Schäden abgehen; die Transportschäden sind aber gerade die Pointe, der Witz an der Sache."

Die "SZ" interviewt Jerzy Montag zur geplanten Bundestagsresoltution "Kampf gegen Antisemitismus", der auch die institutionelle Kunstwelt betreffen könnte. Montag war Mitglied für die Grünen im Bundestag. Er ist Rechtsanwalt und nichtberuflicher Richter am Bayerischen Verfassungsgerichtshof. Seine Großmutter, Tanten und weitere Familienmitglieder wurden als Juden in Auschwitz ermordet, sein Vater überlebte nur durch Glück. "Eine wissenschaftliche Diskussion um den Begriff von Antisemitismus läuft seit Jahrzehnten, und es ist doch interessant, dass die meisten Fachleute diese ganz besonders schwammige Definition der IHRA heute ablehnen", sagt Montag in der "SZ". "Trotzdem will der Bundestag nun genau diese Definition allen staatlichen Stellen in Deutschland empfehlen? Mir scheint das nicht klug zu sein." Sein Vorschlag: "Keine staatliche Zensur, keine staatliche Stelle, die dem Regisseur oder dem Theater von oben herab die Förderung entzieht, sondern eine offene, demokratische Diskussion, ob so etwas antisemitisch ist beziehungsweise wo genau die Grenze dessen verläuft, was als Kultur und Meinungsäußerung noch tragbar ist. Wenn wir uns darauf besinnen könnten, auf diese Weise engagiert miteinander zu streiten, würde ich das für einen Pluspunkt halten." In einem Gastbeitrag für die "Zeit" führt Jerzy Montag seine Vorstellung von einem sinnvollen Kampf gegen Antisemitismus weiter aus. 

Die Dirigentin Simone Young ist froh, dass inzwischen mehr Frauen in der Branche dabei sind, ist aber gegen eine Frauenquote. "Für mich sind Geschlecht und Herkunft nicht von Interesse. Man muss Möglichkeiten schaffen", sagte sie dem "Nordbayerischen Kurier". Sie sei "absolut" gegen die Quoten-Idee. "Wenn ich höre, dass man für eine Stelle nur an einer Frau interessiert ist, dann ist das genauso unsinnig, wie die Zeiten, wo eine Frau für eine Position nicht infrage gekommen ist." Young ist die erste Dirigentin überhaupt, die bei den Bayreuther Festspielen das vierteilige Werk "Der Ring des Nibelungen" musikalisch leitet. Außerdem wehrt Young sich gegen Zuschreibungen: "Es gibt immer noch eine falsche gedankliche Verbindung zwischen stark und männlich und zwischen sensibel und weiblich. Jeder Künstler muss beides in sich vereinen." Sie sei froh, dass jetzt mehr Dirigentinnen dabei seien. Das sei eher eine natürliche Evolution, weil seit den 1960er Jahren immer mehr Frauen in die Orchester gekommen seien. "Manchmal bin ich sogar kritisiert worden, weil ich nicht genug für die Kolleginnen getan hätte. Ich gehöre zu der Generation, die die Tür aufgemacht hat. Wir sind durchgegangen, aber das heißt noch lange nicht, dass ich jetzt die Tür für die anderen aufhalten muss."

Kunstmarkt 

Entlassungen bei White Cube: Die Londoner Galerie hat sich von fast 40 Aufsichtspersonen getrennt und begründet dies mit "Änderungen bei einigen betrieblichen Abläufen", berichtet "The Art Newspaper". Die meisten der Entlassenen seien Künstler und Studenten. "White Cube hat beschlossen, die Aufsichtspersonen vollständig aus der Galerie zu entfernen und sie durch Sicherheitspersonal zu ersetzen. 'Uns wurde gesagt, dass die Abschaffung der Rolle [der Aufsichtspersonen] einem allgemeinen Trend in ähnlichen Galerien folgt, die sich von der Einbindung der Besucher zur Besucherverwaltung wegbewegen', so die ehemaligen Mitarbeiter."

Museen

Der Enkel des Künstlers Heinrich Campendonk will Bilder von einem kleinen Museum im oberbayerischen Penzberg zurückhaben, das die größte Sammlung mit Arbeiten des Malers weltweit besitzt. "So droht nun die Trennung von Werken des expressionistischen Künstlers, die sein Enkel dem Museum leihweise zur Verfügung stellt", schreibt Ursula Scheer in der "FAZ". "Offenbar möchte der Nachfahre einen Teil des Erbes zu Geld machen. Die Gelegenheit scheint günstig, haben doch Arbeiten Campendonks auf den hiesigen Frühjahrs- und Sommerauktionen zuletzt ein regelrechtes Revival erlebt und gehörten mit sechsstelligen Summen trotz schwieriger Marktlage mit zu den teuersten der Saison."

Ingeborg Ruthe freut sich in der "Berliner Zeitung" über drei Jahre Museumssonntag in Berlin, der an jedem ersten Sonntag im Monat freien Eintritt in mehr als 80 teilnehmenden Museen bietet. "Und dieses 'Umsonst und für alle' bricht seitdem alle Besucher-Rekorde. Seit dem Start im Juli 2021 zählt das Projekt zwei Millionen Besucher in seither 80 teilnehmenden Museen, dazu mehr als 5000 Veranstaltungen wie Workshops. Am freien Museumssonntag im August 2023 wurde ein Publikum von 78.000 Menschen gezählt."

Social Media

Popliteratur-Veteran Joachim Bessing hat ein Jahr auf TikTok verbracht und erzählt davon in der "FAZ", unter anderem von den Live-Videos auf der Plattform: "Wer das noch nie ausprobiert hat, sei gewarnt: Die meditative Qualität eines Live­streams in all seiner Banalität kann einen den Tag kosten. Irgendwie wie Träumen, bloß, dass man dabei auch noch essen kann. Es gibt Lastwagenfahrer, Altenpfleger und Prostituierte. Manchmal hatte ich das fatale Gefühl, ich hätte meinen Roman längst geschrieben, derart prall war das Gefühl von all dem Leben, von all dieser nackten Existenz direkt vor meinen guten alten Augen. Übermorgen lösche ich die App."