Debatte
Das Bayerische Nationalmuseum zeigt auf dem Cover eines Programmhefts eine möglicherweise judenfeindliche Judas-Darstellung: ein Detail aus einer von mehreren großformatigen, um 1444 entstandenen Bildtafeln vom Altar der ehemaligen Benediktinerklosterkirche Tegernsee. "Hätte ein solches Motiv nicht eingeordnet und erläutert werden müssen, zumal wenn es so aus dem Kontext herausgelöst wird?", fragte gestern Jörg Häntzschel in der "SZ", der in der Abbildung einen Skandal sieht, der "dem Ansehen der bayerischen Museen nun national und international erneut schaden" kann. Gerade erst stand die Einrichtung wegen ihres (auch von Häntzschel aufgedeckten) Umgangs mit Raubkunst in der Kritik. "Man hätte auch irgendein anderes attraktives Ostermotiv aus den vielen Kunstwerken des Nationalmuseums zeigen können. Doch man entschied sich, auf den finsteren Judas zu zoomen, der mit der Hand den Geldsack umklammert und mit den noch finsterer aussehenden Soldaten gemeinsame Sache macht." Auch Marcus Woeller ist fassungslos in der "Welt": "Wenn ausgerechnet Kunsthistoriker die Wirkung von Bildern nicht mehr einschätzen können, dann ist das ein Grund zu Besorgnis." Stefan Trinks will in der "FAZ" nicht recht einen Skandal erkennen: "Der Judas Gabriel Anglers greift nicht etwa gierig nach dem Geldbeutel, sondern fühlt die bedrückende Last des in einer roten Schlinge um seinen Hals gelegten Sacks, mit der sein späterer Selbstmord durch Erhängen vom Künstler angedeutet wird." Der Judas-Darstellung fehle zudem "die verhöhnende Individualisierung – außer den attributiven ikonographischen Charakteristika weist er keine verzerrte Physiognomie auf, seine Gesichtszüge sind ebenmäßig".
Natasha Gural hat für "Forbes" Anselm Kiefers Amsterdamer Doppelausstellung "Sag mir wo die Blumen sind" im Stedelijk und Van Gogh Museum gesehen. "Kiefers viszerales Werk, das monumentale Gemälde, Skulpturen, Installationen, Holzschnitte, Künstlerbücher, Arbeiten auf Papier und Filme umfasst, setzt sich mit seiner Kindheit inmitten der Trümmer und der Zerknirschung des Nachkriegsdeutschlands auseinander. Er prangerte die Kleinlichkeit und Gefährlichkeit des Nationalismus an, stellte die geschändete Landschaft und Architektur dar und machte sich die Bandbreite der Emotionen zu eigen, die bei Betrachtern auf der ganzen Welt Anklang fanden." Sein Werk sei komplex und beziehe sich auf "Literatur, Poesie, Philosophie, Mythologie, wissenschaftliche Theorien und Mystik, was durch die technische Schichtung seiner massiven Leinwände und Installationen noch verstärkt wird. Blei, Stroh, Sand, verkohltes Holz, getrocknete Blumen, Bücher, Beton, Äste, Asche und Kleidung tragen zu den visuellen Erzählungen bei, die jede objektive Wahrheit der Geschichte ablehnen. Die Erinnerung - die individuelle und die kollektive - war von zentraler Bedeutung für die Neudefinition der nationalen Identität und des öffentlichen Diskurses nach dem Nationalsozialismus und dem Holocaust und schuf ein neues Paradigma der Erinnerungspolitik, das auch heute noch unsere Meinung über ein dunkles Kapitel der Geschichte prägt, das für die Überlebenden noch frisch ist und inmitten der aktuellen geopolitischen Schrecken nachhallt."
Interview
Vor mehr als 60 Jahren erklärte Timm Ulrichs sein Leben zur Kunst, bis heute verfolgt er diesen Weg kompromisslos. Am 31. März wird der Künstler 85 Jahre alt. Im Interview mit Silke Arning von SWR Kultur "Gespräch" erzählt Ulrichs, wie er einst von der Uni Hannover exmatrikuliert und zum Softeis-Verkäufer wurde und warum er mit Flugblättern und Manifesten immer aufs Neue provozierte. Des Weiteren berichtet der Künstler, wie er durch eine maoistische Studentengruppe in Braunschweig zum Kunstprofessor wurde, wie gründlich er seine fast selbstzerstörerischen Kunstaktionen plante und warum seine Kunst immer ein Zuschussgeschäft war. Aktuell versuche er, seinen Nachlass an ein Museum zu bringen. Nein, sagt Ulrichs, er füge dem nichts Weiteres hinzu. Das Einzige, was noch fehle: "Ich müsste einen Oeuvre-Katalog erstellen über die Werke, die ich der Welt erspart habe."
Angelina Jolie möchte dort anknüpfen, wo Andy Warhol und Jean-Michel Basquiat aufgehört haben. In der Lower East Side von Manhattan baut die Hollywood-Schauspielerin das Atelier Jolie auf, schreibt die "New York Times": einen kreativen Raum und eine Galerie, die Künstler, Denker und Macher aller Art anziehen soll. Das Gebäude, das einst Warhol gehörte und von Basquiat bewohnt wurde, soll zu einem kulturellen Zentrum werden, das nicht nur Künstler, sondern auch Publikum mit Veranstaltungen, Vorträgen und Ausstellungen anzieht. "Das Architekturbüro Bonetti Kozerski, das auch das Flaggschiff der Pace Gallery in Chelsea entworfen hat, überwachte eine Renovierung, bei der die Wände mit Graffiti von Al Diaz, der zusammen mit Basquiat den SAMO©-Tag schuf, erhalten blieben", berichtet Melena Ryzik. "Auch Basquiats frühe Comics sind dort noch immer zu sehen - ein Portal zu einem anderen New Yorker Erbe. Die Fassade verändert sich ständig, da die Tagger immer wieder ihren Tribut hinterlassen. In Gesprächen in diesem Monat zeigte sich Jolie frustriert darüber, dass das Atelier als eine weitere exklusive Boutique in der Innenstadt betrachtet wird. 'Der Akt des Schaffens sollte für jeden zugänglich sein', sagte sie."
Bildkultur
J. D. Vance ist Vorlage für viele Memes, in der "taz" fragt sich Leon Holly, wie der US-Vize-Präsident zur Witzfigur wurde. Er findet eine Antwort bei einer Kollegin: "'Sein rundes Gesicht und seine dichten Wimpern haben einen gewissen Anime-Charakter, der sich vielleicht für infantilisierende Karikaturen anbietet', sinniert die New-Yorker-Autorin Jessica Winter. Auf einer tieferen Ebene würden die Edits aber auch von Vance' 'essenzieller Wandelbarkeit' zeugen, seiner Bereitschaft, politische Positionen zu ändern, wenn es gerade opportun scheint. Der Never-Trump-Vance aus dem Jahr 2015, der den jetzigen Präsidenten mit Hitler verglich, war übrigens glattrasiert."