Medienschau

"Eine Theologie des hyperdialektischen Sowohl-als-auch"

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Weiter Diskussion um Garnisonkirche, Emil Nolde wird gemeinfrei und der Papst ruft zum Lesen auf: Das ist unsere Presseschau am Freitag

Debatte

"Wahrzeichen des Terrors", "57 m verlogene Scheiße" oder auch schlicht: "TNT" – so lauteten einige der Slogans, mit denen rund 100 Demonstranten die Eröffnung des umstrittenen Garnisonkirchturms in Potsdam begleiteten. Peter Richter berichtet in der "SZ" vom Protest draußen wie auch vom Festakt drinnen, bei dem Bundespräsident Walter Steinmeier "geradezu eine Theologie des hyperdialektischen Sowohl-als-auch" predigte.  "Es geht in Potsdam schon immer auch sehr buchstäblich um das Abräumen von Dingen, die anderen Vorstellungen im Weg stehen", schreibt Richter. "Im Fall des eigentlichen Kirchenschiffs der Garnisonkirche wäre das im Moment das 'Rechenzentrum', das in der DDR in den 70er-Jahren leicht seitlich davon errichtet wurde, als strikt rationaler Bürobau mit sozialistisch-futuristischem Wandschmuck." Steinmeier habe sich in seiner Rede sowohl zum alt-neu-preußischen Turm wie auch zum "Rechenzentrum" bekannt, doch das von ihm angepriesene dauerhafte Aushalten von Ambivalenzen habe nicht nur Freunde. "Bei den Betreibern der Rekonstruktion ist oft genug die Hoffnung spürbar, dass der Kirchturm durch schiere ästhetische Evidenz am Ende auch noch den Rest durchsetzen möge. Von der anderen Seite her erklärt eine Aktivistin morgens im Rundfunk, dass es keinen Sinn ergebe, etwas wieder aufzubauen, von dem man sich dann inhaltlich wieder distanziert."

Bitte lesen!

Romane setzen "in einer Stunde alle möglichen Freuden und Unglücke in uns frei, für die wir im Leben ganze Jahre bräuchten, um sie auch nur im Geringsten zu kennen, und von denen sich uns die intensivsten nie offenbaren würden, weil die Langsamkeit, mit der sie auftreten, uns daran hindert, sie wahrzunehmen". Dieses Proust-Zitat führt Papst Franziskus in einem Brief über die "Bedeutung der Literatur in der Bildung" an, den er bereits am 17. Juli vom Heiligen Stuhl herab in die Welt sandte. Gustav Seibts Einordnung des Papstbriefes in der "SZ" erfolgte auch schon vor geraumer Zeit, doch sind beide dermaßen scharfsinnig (und betonen eben den Wert der Langsamkeit), dass sie hier unbedingt noch einmal erwähnt werden sollen. Papst Franziskus, so Seibt, wendet sich in dem Brief "nicht nur an Geistliche, sondern an alle Christen, und je länger man liest, denkt man: an alle heutigen Menschen. Denn er beginnt mit einer elementaren Feststellung zur aktuellen Lage des Lesens im gegenwärtigen Medienumfeld. Leser nämlich seien viel aktiver als Rezipienten audiovisueller Produkte, die 'vollständiger' seien und weniger Zeit lassen." Ein Leser von Buchstaben müsse immer etwas aus seiner eigenen Vorstellungskraft hinzutun, dafür brauche er Zeit. "Literatur, das schreibt der Papst mehrfach, ist das Medium der Langsamkeit (er beschreibt Lektüre mit einem alten Bild als 'Wiederkäuen'), der aktiven Teilnahme, die ganz unvermeidlich auf die eigenen Erfahrungen des Lesenden und dessen Leben zurückgreifen muss." Lektüren erweiterten die Vorstellungsmöglichkeiten und seien zudem Horizonterweiterungen hinein in fremde Kulturen, bezeugten die "Polyphonie der Offenbarung" gegen fundamentalistische Engstirnigkeit. "Man entkommt dabei der Unmittelbarkeit heranstürmender Eindrücke, dem Reflexhaften der Kommunikation", so Seibt. "Man stelle sich vor, das ganze Twittern und Posten würde auf Langsamkeit umgestellt: Dann würde man dabei ja denken! Das wäre ein erheblicher Beitrag zur Verbesserung der Welt." In seinem Brief zitiert Franziskus zitiert etliche Klassiker des 20. Jahrhunderts wie T. S. Eliot, Jorge Luis Borges, Paul Celan. "Aber das sind keine Bildungsreminiszenzen, sondern Beweise von intellektueller Anschlussfähigkeit. Der Kern bleibt moralisch", schreibt Seibt und zitiert aus dem Papstbrief: "Indem sie dem Leser einen weiten Blick auf den Reichtum und das Elend der menschlichen Erfahrung eröffnet, erzieht die Literatur den Blick zur Langsamkeit des Verstehens, zur Demut der Nicht-Vereinfachung, zur Güte, nicht so zu tun, als könne man die Wirklichkeit und die menschliche Existenz durch ein Urteil kontrollieren."

Kunstmarkt

Emil Noldes Gemälde, Grafik und Zeichnungen werden 2026 gemeinfrei. Das hat Auswirkungen auf die Nolde-Stiftung, berichtet Susanne Schreiber im "Handelsblatt": "Der Direktor möchte keine Zahlen nennen. [Christian] Ring räumt aber ein, dass die Gebühren bislang zehn Prozent des Stiftungsetats ausmachen. Sie fallen immer an, wenn eine Galerie, ein Auktionshaus, ein Autor, ein Buch- oder Postkarten-, Plakat- oder Merchandisingverleger ein Motiv abdrucken möchte. Fällt diese Einnahmequelle weg, müssen andere erschlossen werden." Aus Sicht von Auktionator Robert Ketterer bewirkt das Auslaufen der Schutzfrist einen Vorteil für Käufer und Verkäufer, "da der Kauf um vier Prozent günstiger wird und die Gebote dadurch höher ausfallen könnten."

Nachruf

Freddy Langer erinnert in der "FAZ" an den mit 87 Jahren verstorbenen Fotografen Werner Bokelberg, der für den "Stern" den Glamour erfand und mit ikonischen Aufnahmen von Romi Schneider, Salvador Dalì, Jim Morrison oder Uschi Obermaier Zeitgeschichte bannte. "Zu einer Zeit, als der 'Stern' noch vierhundert Seiten hatte, das Dreigestirn Stefan Moses, Robert Lebeck und Thomas Höpker den deutschen Fotojournalismus neu erfand und mit Reportagen von überall auf dem Globus die Welt frei Haus auf die bundesrepublikanischen Nierentische der Nachkriegszeit lieferte, war Werner Bokelberg in derselben Redaktion zuständig für Glamour und Prominenz. Dass deshalb nicht alle ihn übertrieben ernst nahmen, kümmerte ihn wenig, vielmehr gelang es ihm mit seinen Darstellungen schöner Frauen und exzentrischer Männer fast schon ein eigenes Genre zu schaffen – lange bevor Fotografen wie Annie Leibowitz oder Anton Corbijn über den Umweg ihrer Prominentenporträts selbst in die Regie der Berühmten aufstiegen." Bokelberg wurde 1937 in Bremen geboren. Von 1962 bis 1972 arbeitete er als "Stern"-Fotograf, später widmete er sich der Werbefotografie und war an vielen großen Kampagnen beteiligt. Er lebte und arbeitete in Hamburg, Paris und New York. Berühmtheit erlangten unter anderem seine Bilder von Pablo Picasso mit Strohhut oder von Uschi Obermaier mit nacktem Oberkörper und mit wallender Mähne in ihrer 68er-Kommune. Für eine Reportage inszenierte er Romy Schneider in ihrem Luxus-Appartment in Paris.

Ausstellung

Zwei Schweizer Ausstellungen – im Museum Rietberg und im Völkerkundemuseum – erzählen; wie Benin-Bronzen in ein Land ohne Kolonien kamen – und warum sie es bald wieder verlassen könnten. Giorgo Scherrer beschreibt in der "NZZ" die grundsätzlich unterschiedlichen kuratorischen Ansätze: "Für Dekonstruktion hat sich das Völkerkundemuseum entschieden. Dort werden den Benin-Bronzen nach und nach die historischen Bedeutungsschichten abgezogen: die Verbindung nach Zürich, der koloniale Kontext, die Vorgeschichte in Benin. Bis am Schluss nur noch das Handwerk da ist – in Gestalt eines heutigen Messinggiessers, der seine Kunst zeigt." Das Rietberg versuche hingegen, eine neue Geschichte mit zwei Perspektiven zu erzählen: jener der afrikanischen Kunst- und Kulturgeschichte. Und jener des westlichen Blicks auf die Benin-Bronzen. "Erst ihr Wechselspiel ist es, das die Vergangenheit der Objekte mit ihrer Gegenwart verbindet – und ihrer ungewissen Zukunft. Dort steht jene Frage, zu der jede Geschichte über die Benin-Bronzen unweigerlich führt: Zurückgeben oder nicht?"