Debatte
Marcus Woeller ist in der "Welt" nicht damit einverstanden, dass der Preis der Nationalgalerie neuerdings an alle vier Nominierten geht und nicht an einen Gewinner oder Gewinnerin: "Mit der Überbetonung des Kollektiven wird eine qualitative Entscheidung diskreditiert; die Jury delegitimiert sich selbst. Das entwertet nicht nur einen bedeutenden Kunstpreis, sondern missachtet das Interesse des Publikums am künstlerischen Wettkampf. Vor allem aber schwächt das die kritische Urteilskraft des Kunstbetriebs, die nicht nur nach den Erfahrungen einer kollektiv verantwortungslosen Documenta dringend gestärkt werden sollte."
Die südafrikanische Performancekünstlerin Tracey Rose wirft dem Kunstmuseum Bern vor, es "habe ihre Ausstellung 'zensiert'", berichtet der Schweizer "Bund". "Sie habe ihr Video 'A Muster of Peacocks' von 2012 nicht zeigen dürfen, weil darin die Äusserung 'Stop the Muslim Holocaust' vorkomme. Sie sei verabscheuungswürdig behandelt worden. 'Ihr widert mich an', schreibt sie an die Leitungscrew um Direktorin Nina Zimmer, die sie schliesslich als 'Parasiten' bezeichnet, die ihre Stellung nicht verdient hätten." Auslöser der Beschimpfung war nun eine Podiumsdiskussion des Museums zum Thema Kunstfreiheit, welche die vorangegangene Debatte aufgreifen sollte, bei der Rose aber nicht eingeladen gewesen sei. Den Zensur-Vorwurf weist Direktorin Zimmer zurück: "'Wir haben ihre Ausstellung, die zuvor in Kapstadt und in New York zu sehen war, für Bern neu zugeschnitten', sagt sie. 'Wir haben ihr empfohlen, die Arbeit 'A Muster of Peacocks' nicht zu zeigen, weil sie im aktuellen politischen Umfeld falsch verstanden werden könnte. Darauf hat sie sich entschieden, unserem Rat zu folgen.' Auch habe Tracey Rose bereits seit der Ausstellungseröffnung von der geplanten Podiumsdiskussion gewusst. 'Sie hat nie ihr Interesse an einer Teilnahme geäussert. Für Nina Zimmer liegt der Wut auch ein Missverständnis zugrunde: 'Es ging an diesem Anlass nicht konkret um die Kunst von Tracey Rose.'"
In besseren Zeiten hätte man es vielleicht als lokale Posse fern der internationalen Kunstzentren wahrgenommen, doch das versuchte Eingreifen der CDU in eine Ausstellung in Osnabrück ist jetzt auch der britischen "Art Newspaper" einen Artikel wert. Kurz vor Eröffnung der Ausstellung "Kinder, hört mal alle her!" hatte die Osnabrücker CDU am Samstag durch ihren Fraktionsvorsitzenden Marius Keite per Pressemitteilung Teile der Ausstellung als nicht hinnehmbar bezeichnet und zum Boykott sowie zur Schließung der Familien-Ausstellung aufgerufen. Damit war insbesondere eine Performance von Sophia Süßmilch gemeint, die in einer Kirche stattgefunden hatte und in der die Künstlerin sich auf kannibalistische Motive in der Kulturgeschichte bezieht, auf das Märchen "Hänsel und Gretel" zum Beispiel, oder Francisco de Goyas "Saturn verschlingt seinen Sohn". Der Artikel mit der Überschrift "'Absolutely unacceptable': centre-right politicians in Germany call for boycott of family-themed art show' von Hili Perlson geht auch auf die Reaktionen der gemeinsame Ratsfraktion der Grünen und der Volt-Partei ein: "Die ästhetische Bewertung überlassen wir gerne anderen, aber nicht die Verteidigung der Kunstfreiheit." Perlson zitiert auch die SPD nach einem Besuch der Ausstellung: "'Wie kann es sein, dass eine Ratsfraktion meint, so radikal in die Kunstfreiheit eingreifen zu können und zum Boykott der Kunsthalle aufruft', so der kulturpolitische Sprecher Heiko Schlatermund, kulturpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Rat der Stadt Osnabrück. 'Ob uns als verantwortliche Politiker etwas gefällt oder nicht, ist keine Frage der Ästhetik - unsere Aufgabe ist es, Kunst und Kultur zu ermöglichen.'" Der "Art Newspaper" erklärten die Co-Direktorinnen der Kunsthalle, Juliane Schickedanz und Anna Jehle, dass die Institution durch die Presse von dem Brief erfahren habe. Sie hätten die Vertreter aller politischen Parteien eingeladen, in die Ausstellung zu kommen und in Dialog zu treten. Die Einladung sei angenommen worden.
Interview
Pussy-Riot-Gründerin Nadya Tolokonnikova zeigt eine Einezlausstellung im Museum OK Linz, und Tobias Timm hat die heute in Los Angeles lebende Künstlerin, Aktivistin und Sexarbeiterin für ein "Zeit"-Interview getroffen. "Wenn etwas Schreckliches passiert, kann ich entweder mit einer Depression darauf reagieren und nichts tun. Oder aber mit Zorn. Nach dem Zorn kommt das Adrenalin. Die Wut klärt meinen Verstand. Ich verwandle sie in Schönheit, in Kunst, in eine politische Aktion. Viele Amerikaner denken, dass etwas zwangsweise schlecht sein muss, wenn es Propaganda ist. Aber ich glaube, dass es gute Propaganda von guten Künstlerinnen und Künstlern geben kann. Ich will nicht nur politische Kunst machen, ich will auch weiterhin Transparente für Demos beschriften." Politik sei ihr "Treibstoff", sagt die 34-Jährige.
Wäre schön, Nadya Tolokonnikova mal mit Jonathan Messe zusammenzubringen. Seit Jahrzehnten pocht der Berliner Maler auf die Eigenständigkeit und Souveränität der Kunst, so auch jetzt in der "NZZ", wenn die Interviewer Thomas Ribi und Lucien Scherrer nach politischer Kunst fragen: "Das gibt es überhaupt nicht. Es gibt Politik als Motiv in der Kunst. Ich kann eine politische Debatte malen, aber das Bild selber strahlt das nicht ab. Die Natur ist nicht politisch organisiert, sie bildet keine Parteien, genauso wie sie keine Tempel hat. Und das kann die Kunst auch nicht. Das ist nicht auf der Liste der Kunst. Also wenn ich politisch sein will, muss ich Politiker werden. Es ist sonst Etikettenschwindel." Meese versteht man da vielleicht besser, wenn man an Systemtheorie denkt, die Gesellschaft als in Teilsysteme wie Religion, Kunst, Medizin, Recht und Politik ausdifferenziert versteht. Jedes Teilsystem übernimmt für die Gesellschaft exklusiv eine bestimmte Funktion. Deshalb könne er als Künstler auch den Hitlergruß zeigen: "Ich bin kein Politiker, kein religiöser Führer, kein Guru. Ich bin Künstler. Ich versuche, Dinge zu entkontaminieren, etwas Neues zu schaffen. Ich will die Verbote aus der Welt kriegen. Mit Humor Sachen wieder zukunftsfähig machen." Meese musste sich wegen des Hitlergrußes vor über zehn Jahren wegen Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen mehrmals vor Gericht verantworten, alle Ermittlungen und Verfahren wurden entweder eingestellt oder endeten mit einem Freispruch.
Der Philosoph und Bestsellerautor Peter Sloterdijk sieht in Europas Ländern verstärkt Stadt-Land-Konflikte statt Klassenkämpfe, wie es oft im 20. Jahrhundert hieß, am Werk. "Der Populismus ist großteils die Rache des Landes an der Stadt", sagt der 76-Jährige in einem "Zeit"-Interview mit Peter Neumann. "Das wird nie deutlicher, als wenn Bauern mit ihren Traktoren den Bundestag einkreisen." Daraus ließe sich eine Geschäftsidee ableiten, sagte Sloterdijk. "Mieten Sie so viele Traktoren, wie Sie können, und gründen Sie eine Traktorenverleihfirma für Protestgruppen." Es gebe viele Gruppen in der Gesellschaft ohne Druckmittel. "Mieten Sie 500 Traktoren und verleihen Sie die an nicht sehr protestfähige Gruppen, etwa die Krankenpfleger. Massenversammlungen allein tun es nicht, aber so eine Traktorenparade hat Power." Sloterdijk, der zum Teil in der Provence lebt, sagte, in Frankreich, aber auch Deutschland sei der Stadt-Land-Gegensatz lange unterschätzt worden. "Und dann tauchten die 'Ländlichen' plötzlich wieder in der Gelbwesten-Bewegung auf. Es waren ja die Bewohner der tiefen Provinzen, die den Hauptstädtern eine Lektion erteilten. Sie wollten klarmachen: Wo sie sind, ist ein Automobil kein Luxusobjekt, sondern das allerelementarste Arbeitsinstrument. Deshalb stellt sich durch die kleine Preissteigerung beim Treibstoff die Existenzfrage." Sloterdijk lehrte zuletzt als Gastprofessor am Collège de France und hielt Vorlesungen über Europa. Präsident Emmanuel Macron schätzt den deutschen Philosophen, zitierte ihn gar im April in seiner zweiten Europa-Rede an der Universität Sorbonne. "Macron ist der Mann, der Scholz am meisten auf die Nerven geht, weil er sein Umkehrbild darstellt", sagt Sloterdijk über Bundeskanzler Olaf Scholz. "Scholz ist der Zögerer – er tut nichts, wenn er es nicht im Windschatten der Amerikaner machen kann." Für Macron habe Politik dagegen nach wie vor mit Handlungsfähigkeit zu tun. "Und zwar einer Handlungsfähigkeit, die nicht auf die Provokation wartet, sondern von sich aus den Ton setzt." Das zeige sich auch in der angesetzten Neuwahl zum französischen Parlament nach dem Desaster von Macrons liberalen Kräften bei der Europawahl, meint Sloterdijk. Macron werfe "den Wählern ihre eigene Verantwortungslosigkeit vor die Füße". Das könne ein nützlicher Schock sein. "Es gibt zu viel unpolitischen, doch politisierten Trotz, der durch mediale Belohnung hochgefahren wird. Wir haben es in Europa inzwischen allenthalben mit Trotzdemokratien zu tun."
Ausstellung
Die "Dresdner Neuesten Nachrichten" berichten, dass die Ausstellung "Das Jahr 1983" im Dresdner Albertinum verschoben wird, weil es Unstimmigkeiten mit der externen Kuratorin Zoé Samudzi gibt: "Dem Vernehmen nach soll es Meinungsverschiedenheiten um sensible Sprache und Kontextualisierung von Begriffen gegeben haben. Man befinde sich weiter in Gesprächen. Zoé Samudzi ist eine simbabwisch-amerikanische Soziologin, bekannt für ihr Buch 'As Black as Resistance'. Die von ihr kuratierte Ausstellung sollte in der Reihe 'Sequenzen: Verflochtene Internationalismen' Verbindungen zwischen Solidaritätsbemühungen der DDR und der Unabhängigkeitsbewegung in Namibia in den Blick nehmen."
Das besondere Kunstwerk
Das Polizeifoto von Justin Timberlake nach einer Alkoholfahrt zeigt mehr als nur eine prominente Festnahme, meint Oliver Schmitt in seiner Bildanalyse für den "Spiegel": "Das sieht doch aus wie Martin Schoeller! Zu prägnant ist der Stil: zwei Lampen von vorn, dazwischen die Kamera auf Augenhöhe des Porträtierten – genau mit diesen charakteristischen Lichtreflexen fotografiert auch der gebürtige Münchner seine Objekte. Sogar Justin Timberlake hatte er schon einmal vor der Linse ."