Medienschau

"Die Wirklichkeit war viel poetischer als das Fiktive"

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Erste Berichte von der Art Cologne, Priester Abbé Pierre mit erigiertem Penis und Kulturkampf um das Wort "Oberindianer" im Humboldt Forum: Das ist unsere Presseschau am Freitag

Debatte

Bei einem Chor-Festival im Berliner Humboldt Forum soll demnächst das Lied "Sonderzug nach Pankow" von Udo Lindenberg gesungen werden, allerdings ohne das in diesem Song vorkommende Wort "Oberindianer", mit dem der Sänger einst Erich Honecker gemeint hat und das der Chor für diskriminierend hält. Rechte Kulturkämpfer und die "Bild" haben daraufhin Zensur und "Cancel Culture" gewittert. Jens Balzer hat sich für die "Zeit" mit dem Dramaturgen und der Chorleiterin unterhalten. "Als Chorleiterin bekommt man mit, ob die Sängerinnen und Sänger sich wohlfühlen und bei der Sache sind – und hier war es so, dass die Proben nach der letzten Debatte motiviert, gelöst und freudvoll waren. Umso irritierter waren wir darüber, was dann an den folgenden Tagen passierte." Kein Wort davon, dass der Impuls von den Chören selbst kam, "und schon gar keine Erwähnung der ausführlichen Diskussionen über dieses Thema. 'Sprachpolizei, wie stellen die sich das bloß vor?', sagt Kaspar von Erffa. 'Dass Hartmut Dorgerloh, der Intendant des Humboldt Forums, hier mit der Polizeikelle reinkommt und sagt: Wer 'Indianer' singt, der wird sofort verhaftet? Das ist doch absurd, so gehen wir hier nicht miteinander um.'" Der Fall erinnert an die Skandalisierung der Umbenennung von zwei August-Macke-Gemälden im Münchner Lenbachhaus, die ebenfalls durch die "Bild" angestoßen wurde.

Kulturkampf und kein Ende: Raoul Löbbert schaut sich in der "Zeit" mit etwas Abstand noch einmal den Antrag der anhaltinischen AfD gegen die Stiftung Bauhaus an. Er findet es "bizarr", wie AfD-Wortführer Hans-Thomas Tillschneider "in seiner Rede den ehemaligen Leiter der Stiftung Bauhaus Dessau Philipp Oswalt für dessen 'fulminante Kritik des Bauhauses' im Buch Marke Bauhaus von 2019 lobt. Oswalt ist ein streitbarer Kopf, sein Weggang aus Dessau verlief 2014 alles andere als harmonisch. Gegenüber der ZEIT sagt Oswalt, er fühle sich von der AfD verzerrt wiedergegeben. Ihm sei es nicht um eine Diskreditierung des Bauhauses gegangen, sondern darum, zu zeigen, wie weit Anspruch und Wirklichkeit in der Praxis auseinanderlagen. In Marke Bauhaus zeigt Oswalt das an der Wagenfeld-Lampe, einem der berühmtesten Bauhaus-Objekte überhaupt. Ein Industrieprodukt für jedermann sollte das sein, doch am Ende wurde es ein sündhaft teures Prestigeobjekt. Die AfD macht Oswalt zum Gewährsmann. Doch der sagt: 'Die Antragsbegründung ist hanebüchen und Symptom einer ideologisierten Betrachtung eines in rechtslastigen Kreisen üblichen Moderne-Bashings.'"

Die "FAZ" berichtet über einen Streit um eine Statue mit dem Titel "Silentium" des Künstlers James Colomina, die den toten Priester Abbé Pierre mit erigiertem Penis zeigt. Über Jahrzehnte missbrauchte der katholische Geistliche Minderjährige. Die Skulptur "zeigt eine weiße Kunstharz-Figur auf einem Sterbebett aus Metall. Zu sehen ist nur der dem Kopf des Geistlichen nachempfundene Kopf. Der Rest des Körpers befindet sich unter einem weißen Laken, das sich im Unterleibsbereich derart hebt, dass es einen erigierten Penis nahelegt. Ausgestellt wurde das Werk für nur zwei Tage in einer entweihten Kirche in Toulouse. Auch das erhitzte manche Gemüter, während andere die Installation als unmissverständlichen Kommentar zum Reizthema Missbrauch in der katholischen Kirche sahen."

Der Philosoph Peter Sloterdijk hat die Zeit des Mauerfalls als "eine verwunschene Zeit" erlebt. "Ich habe kaum etwas gelesen, wochenlang gab es für mich keine Filme mehr, kein Theater", sagte er dem "Tagesspiegel". "Unter publizistischen Gesichtspunkten war es die glücklichste Phase meines Lebens. Zum ersten Mal und einzigen Mal hatte ich das Gefühl, dass die Wirklichkeit interessanter ist als alle Literatur und Kultur." Es sei "eine enorme Zeit" gewesen, sagte Sloterdijk weiter. "Der Zauber der Aktualität war so stark, dass nichts daneben bestehen konnte. Alle Fernsehkameras der Welt wurden benötigt, um Menschen zu filmen, die sich umarmten, und das an der Grenze zwischen dem einen Deutschland und dem anderen", sagte Sloterdijk. Niemand habe es wirklich verstanden. Die Berliner Mauer fiel vor 35 Jahren. Am 9. November 1989 gab der Sprecher des Politbüros der SED, Günter Schabowski, am Ende einer Pressekonferenz eher beiläufig das Inkrafttreten einer neuen Reiseregelung für DDR-Bürger bekannt. Kurz darauf geht die Eilmeldung um die Welt: "DDR öffnet Grenzen" - in den folgenden Stunden strömten Menschen in Scharen an die Grenzübergänge. Menschen lagen sich jubelnd in den Armen, erklommen die Mauer, tanzten am Brandenburger Tor. "Die Wirklichkeit war viel poetischer als das Fiktive", sagte Sloterdijk nun. Erst als er in der Weihnachtszeit dann "wieder mal einen 'Tatort' oder so" gesehen habe, habe er gemerkt: "Es ist vorbei". Er sei danach "nach beiden Seiten enttäuscht" gewesen: "von mir selbst und von der Geschichte".

Kunstmarkt

Die 57. Ausgabe der Art Cologne sei ein Spiegelbild einer schwierigen Marktlage, findet Christiane Fricke im "Handelsblatt", auch wenn man das der Kunstmesse nicht sofort ansehen mag. "Tatsächlich nehmen nur 152 Galerien teil. Der Rest sind Verlage, Institutionen und Initiativen. Hug spricht von 'rund 170' Ausstellern. Vor zwei Jahren waren es noch 190. Unkenrufen zum Trotz melden große Galerien bereits nach wenigen Stunden ordentliche Verkäufe. Darunter Thaddaeus Ropac, der unter anderem Georg Baselitz‘ fetziges Ölgemälde 'Gestern und heute' (2020) für 875.000 Euro abgeben konnte. Sprüth Magers vermittelte Walter Dahns Spray-Bild 'Baselitz Pop', ein typisches 'Bad Painting' aus den 1980er-Jahren für 120.000 Euro. Doch die Galerie hat von Dahn noch mehr auf Lager. Das signalisieren die Leihgaben zu seiner großen Einzelschau, die zurzeit im Haus Mödrath bei Kerpen läuft. Bei Sprüth Magers sind unter anderem zwei Arbeiten von Rosemarie Trockel verkauft: die sechsteilige, mit Acryl auf Papier skizzierte Serie 'Cologne Nightingale' für 95.000 Euro und ein anspielungsreiches Wandrelief für 150.000 Euro. Noch zu haben waren Trockel-Arbeiten auf Papier aber bei der Galerie Crone am gestrigen frühen Nachmittag." Auch "Handelsblatt"-Kollegin Susanne Schreiber war auf der Messe unterwegs. Unsere Highlights der Art Cologne finden Sie hier

Das besondere Kunstwerk

Während der Aufnahmen zu "Songs of a Lost World", dem gerade erschienenen ersten Album von The Cure seit 16 Jahren, schlug Frontmann Robert Smith eine Künstlermonografie auf, die er zuvor geschenkt bekommen hatte, aber noch nicht vorher in die Hand genommen hatte. Diese eine Skulptur weckte sein Interesse: "Ich sah diesen Kopf, der aus einem Felsen herauskam", sagte Smith dem britischen Musikmagazin "NME". Und er wusste: "Das ist das Albumcover." Es handelte sich um die Arbeit "Bagatelle" des slowenischen Künstlers Janez Pirnat (1932-2021). "Ich klappte den Laptop auf, sah im Internet nach und stellte fest, dass er an diesem Tag gestorben war. Janez Pirnat war tatsächlich an dem Tag gestorben, an dem ich nach ihm gesucht hatte! Normalerweise glaube ich nicht an dieses 'Oh, es sollte so sein' - aber es war ein sehr merkwürdiger Zufall, der die Idee zementierte, dass dies das Albumcover sein muss." Deshalb ziert "Bagatelle" jetzt das Album, mit dem die britische Rockband diese Woche auch an der Spitze der deutschen Charts landete. Es ist die erste Nummer eins in Deutschland in knapp 50 Jahren Bandgeschichte. 

Cover des Albums "Songs Of A Lost World" von The Cure
Foto: Universal

Cover des Albums "Songs Of A Lost World" von The Cure mit der Arbeit "Bagatelle" des slowenischen Künstlers Janez Pirnat