Debatte
Claudia Roths Entwurf zur Reform der Erinnerungskultur (siehe Medienschau von gestern) sei ein Schritt in die richtige Richtung, meint Sozial- und Kulturanthropologie-Student Elias Aguigah in einem Gastbeitrag für den "Spiegel". "Doch eine simple Erweiterung der deutschen Erinnerungslandschaft um einen weiteren Bereich wird deren Schwächen nicht beseitigen. Was weiterhin fehlt, ist eine selbstkritische Perspektive, die die Instrumentalisierung des Gedenkens zumindest thematisiert. Doch dafür haben Roths Ideen zu wenig Bezug zur aktuellen politischen Realität. Damit die Regierung nicht bei reiner Symbolpolitik verbleibt, müsste das Erinnern in konkrete politische Maßnahmen eingebettet werden. In Bezug auf NS-Verbrechen sollten das die Einführung von Entnazifizierung und Antifaschismus als staatliche Leitmotive sein. Um nicht zahnlos zu wirken, müsste die Erinnerung an koloniale Verbrechen hingegen mit antikolonialer und antiimperialistischer Politik kombiniert werden." In der "Welt" ahnt Sven Felix Kellerhoff dagegen einen "Showdown" zwischen Claudia Roth und Vertretern der Gedenkstätten bei einem Runden Tisch voraus. Aus Hintergrundgesprächen mit größtenteils nicht namentlich zitierten Personen leitet der Autor ab, dass viele der Teilnehmer auf Zeit setzen würden, da sie nicht annehmen, dass Roth einer neuen Bundesregierung nach der nächsten Wahl noch einmal angehören würde. Das Hauptkonfliktthema ist auch hier der Umgang it der Kolonialvergangenheit: "Gleichzeitig hält Roth an einem neuen Schwerpunkt für das nationale Gedenkkonzept fest – dem 'woken' Lieblingsthema Postkolonialismus. Zwar bestreitet die Kulturstaatsministerin jederzeit, mit dieser Erweiterung die Bedeutung der Themen NS-Verbrechen und SED-Diktatur reduzieren zu wollen. Aber genau das ist angesichts begrenzter Mittel und nicht beliebig erweiterbaren Interesses beim Publikum die unausweichliche Folge. Die weiterführende Frage ist ohnehin, wie man mit dem Thema deutscher Kolonialismus um 1900 umgehen soll. Niemand, der von der Sache etwas versteht, bestreitet den genozidalen Charakter im Krieg gegen die Hereros im damaligen Deutsch-Südwestafrika (Namibia). Aber ebenso klar ist, dass dieses Geschehen 1904/05 in den Kontext der europäischen Kolonialpolitik gehört und eben keinen Weg nach Auschwitz weist, wie Anhänger des Postkolonialismus gern behaupten – denn dabei handelt es sich um ein leicht durchschaubares „Argument“ im Ringen um Alimente aus Steuermitteln."
Stefan Trinks hat sich die Debatte über die Documenta und ihre Zukunft im Bundestagskulturausschuss für die "FAZ" angeschaut. Darin wurde darüber diskutiert, wie eine Wiederholung des Antisemitismus-Eklats von 2022 verhindert werden soll und ob die kürzlich beschlossenen Reformen dafür ausreichen: "Auch wurde gefragt, ob die grassierende postkoloniale Ideologie strukturell nicht auch bei der nächsten Ausgabe antisemitische Äußerungen befördern würde und ob die wiederholt geforderte künstlerische Freiheit auch beinhalte, dass, anders als bei der Documenta 15, auch jüdische Künstler eingeladen würden, damit der 'Krisenfall Documenta wieder ein Beispielfall' (Helge Lindh, SPD) werden könne." Dass die nächste Ausgabe der Schau wie geplant 2027 stattfindet, scheint hingegen keineswegs festzustehen. "Abschließend überraschte Staatsminister Gremmels in der zweiten parlamentarischen Fragerunde mit der Aussage, eine gelingende Documenta 16 mit einer intensiven Kunst- und Problemvermittlung stehe im Vordergrund, weshalb im schlimmsten Fall auch eine Verschiebung auf 2028 infrage käme."
Ausstellung
Der Preis der Nationalgalerie geht neue Wege. Erstmals werden mit Pan Daijing, Daniel Lie, Hanne Lippard und James Richards gleich vier Kunstschaffende mit der Auszeichnung für Gegenwartskunst gewürdigt. "Wir wollen damit Kunst und Interaktion fördern, nicht den Wettbewerb", begründete Till Fellrath, Co-Direktor der Nationalgalerie der Gegenwart im Berliner Museum Hamburger Bahnhof, die Neuerung am Dienstag. "Laut Nationalgalerie und Jury setzt der Gedanke dieser Mehrfachwahl (beim britischen Turner-Prize hatte man zunächst auch diesen Weg gewählt, ist aber bald darauf wieder davon abgerückt) auf den 'kollektiven Austausch' und weist die Kritik einer 'Verwässerung' des Preises aus Wokeness-Gründen zurück", berichtet Ingeborg Ruthe in der "Berliner Zeitung". "Zugleich nämlich kann die Sammlung der Nationalgalerie durch das neue Reglement auf einen Streich vier ganz neu entstandene, auf ihre Weise durchaus charismatische Werke ankaufen. Und das tut dem Bestand des Hauses Hamburger Bahnhof mit seinem Fokus aufs Juvenile natürlich ausgesprochen gut." Die neu entstandenen Arbeiten sind von diesem Freitag an bis zum 5. Januar zu sehen. "Es ist ein spannender Jahrgang", urteilt Birgit Rieger im "Tagesspiegel", "auch wenn die Ausgewählten nur einen Ausschnitt des aktuellen Kunstgeschehens repräsentieren. Alle Wohnhaft in Berlin, alle international gut mit Institutionen vernetzt, die meisten bereits mit einschlägigen Preise wie Ars Viva oder Villa-Aurora-Stipendium ausgezeichnet. Wollte man einen inhaltlichen roten Faden finden, wäre es der Fokus auf den Körper als Schnittstelle zur Welt. Alle arbeiten multimedial, sprechen viele Sinne an, oft spielt Sound eine Rolle."
Theaterkritiker Peter Kümmel ist in der "Zeit" mitgerissen von Florentina Holzingers Performance "SANCTA" in Schwerin: "Holzingers Darstellerinnen sind stets nackt. Aber wir, die zusehen, sind es ja eigentlich auch: Nacktheit ist ein Zustand, der nicht behoben, sondern nur camoufliert werden kann. Holzingers Thema ist der Mensch, der sich befreit – und sich dabei womöglich selbst in Fetzen reißt. Das Risiko muss in Kauf genommen werden. Eigentlich will sie zeigen, dass Nacktheit (nicht nur im körperlichen Sinn) das Kostbarste ist, das wir besitzen. Nebenbei: Es zogen sich auch zwei, drei Chorsängerinnen aus. Eine von ihnen lächelte, als fühlte sie sich zum ersten Mal gesehen. Wilder Jubel im Saal."
Architektur
Im Gespräch mit Götz Hamann und Tobias Timm spricht Architekt Rem Koolhaas in der Printausgabe der "Zeit" über internationale Politik, China über Katar bis Osteuropa: "Die sechs Gründungsstaaten der EU haben es versäumt, eine tiefe Verbindung mit den EU-Mitgliedern in Osteuropa einzugehen. Dort hat sich seit dem Ende der Sowjetunion der Gedanke verfestigt, man sei, statt Freiheit zu gewinnen, in einer europäischen Zwangsjacke gelandet, mit Regeln, die enger und manchmal sogar dümmer seien als die in der realsozialistischen Diktatur. Hinzu komme ein erhobener Zeigefinger gegenüber den Osteuropäern. Sie würden sich nicht angemessen benehmen. Das empfinden übrigens auch viele meiner Gesprächspartner in der übrigen Welt als unangenehm – und unpassend."
Nachruf
In der "Neuen Zürcher Zeitung" erinnert Maria Becker an den Fluxus-Künstler Ben, bürgerlich Benjamin Vautier, der im Alter von 88 Jahren gestorben ist. "Es ist nicht schwer zu erkennen, zu welchem Künstlertypus Ben Vautier gehört. Bis zuletzt war er daran, seine Kunst auszuweiten und alle Dinge des Lebens darin unterzubringen. Es gab eigentlich nichts, das im enzyklopädischen Panoptikum von Vautier keinen Platz hatte: Bilder, Skulpturen, Filme, Fotos, Kitsch, Objekte des Alltags, Aktionen, die Kunst seiner Freunde, der Strand von Nizza, die Philosophie und vor allem er selbst. Es ist uferlos, die Dinge seines Werks aufzuzählen. Vautier sorgte allerdings dafür, dass sein Universum nicht chaotisch ist. Er archivierte es, organisierte es, indem er es in Ober- und Unterthemen einteilte, und gab zu allem ein gültiges Statement."