Debatte
Im Mai 2015, als die kubanischen Behörden Tania Bruguera unter Hausarrest gestellt hatten, organisierte die Künstlerin in ihrem Haus in Havanna eine kollektive Lesung: Von ihrem Wohnzimmer aus lasen Bruguera und rund 50 weitere Aktivisten 100 Stunden durchgehend aus Hannah Arendts 1951 erschienenem Hauptwerk "The Origins of Totalitarianism" ("Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft"). Mit Lautsprechern wurde die Lesung auf die Straße übertragen, die Behörden schickten Baubrigaden, um die Worte mit ihren Presslufthämmern zu übertönen. Am Ende wurde Bruguera verhaftet – "Da konnte jeder sehen, wie Totalitarismus funktioniert", kommentierte sie damals trocken. Im Hamburger Bahnhof in Berlin wird Bruguera ihre Lese-Performance vom 7. Februar, 19 Uhr, bis 11. Februar, 23 Uhr, erstmals in Europa aufführen und in Bezug auf die räumliche, örtliche, politische und soziale Situation adaptieren. "Wir leben in einer Welt, die durch die Banalisierung von Wissen und von einer Demontage der Institutionen gekennzeichnet ist", sagt die Künstlerin im "taz"-Interview mit Tom Mustroph. "Manches, was Hannah Arendt schrieb, wurde mit der Zeit revidiert. Aber vieles, was sie über Nationalstaaten, über Antisemitismus, über Imperialismus beobachtete, ist immer noch nützlich." In dem Gespräch geht es auch um eine Bilanz der Documenta 15, an der Tania Bruguera teilgenommen hat: "Was ich an ihr mochte, war, dass hier Künstler und Projekte eingeladen waren, die nicht lamentierten und sich auch nicht als Opfer präsentierten, sondern sagten: Ich komme aus diesem Teil von Afrika, Asien oder Lateinamerika und wir haben hier dieses spezifische Problem, und ich zeige auch, wie wir versuchen, das zu lösen."
Apropos "Demontage der Institutionen", die Tania Bruguera oben beklagt: Die "Bild" schimpft – gemeinsam mit der CSU – über angeblichen "Woke-Wahnsinn" im Münchner Lenbachhaus. Was ist passiert? Das Museum hat bei zwei Gemälden von August Macke – Darstellung nordamerikanischer Ureinwohner – die Titel folgendermaßen geschrieben: "I******* auf Pferden" und "Reitende I******* beim Zelt". Man müsse bei dem I-Wort damit rechnen, "dass Menschen vor diese Bilder treten und sich dadurch erinnert fühlen, was mit ihren Vorfahren passiert ist", sagt Direktor Matthias Mühling richtigerweise. "Außerdem könne jeder sehen, 'was auf den Bildern zu sehen ist'. Durch die Sternchen laufe man nicht Gefahr, 'Menschen zu verletzen'. Distanzieren möchte sich der Direktor von der Änderung nicht – er würde das nächste Mal aber keine Sternchen mehr nutzen, sondern eher einen Strich über das Wort ziehen." Inzwischen hat die lästige Skandalisierung schon international Schlagzeilen gemacht. Zzzzzz!
Mittendrin stehen in den Bildern von van Gogh, Frida Kahlo oder Gustav Klimt: Das versprechen die immersiven Ausstellungen. Leicht zugänglich und bloß nicht elitär sollen die Events sein, bei denen Besucher Teil der Bilder werden können. "Doch ist das noch Kunst oder schon reines Entertainment?", fragen die "Tagesthemen". Eine Antwort gibt der Künstler Mischa Kuball: "'Es ist für mich Spektakel, aber die Welt braucht das.' Kuball glaubt, dass Menschen unterschiedliche Formen des Zusammenkommens brauchen. 'Ich bin Fußballfan und weiß, was das für eine Energie produziert. Ich würde mir mehr Vermittlung wünschen und auch eine bessere kritische Einordnung.'"
Porträt
"Die Kunstwelt vor und nach Thelma Golden" ist Calvin Tomkin langes Porträt der Kuratorin und Direktorin des Studio Museum Harlem im "New Yorker" überschrieben. "Golden erkannte, dass die Kunstgeschichte, die sie bis dahin gelernt hatte, unvollständig war, weil die Kunst von Schwarzen in der ihr zugewiesenen Lektüre meist fehlte. Als sie einem ihrer Kunstgeschichtsprofessoren am Smith College sagte, sie wolle über schwarze Kunst schreiben, zog er einen Katalog mit schwarzen Gemälden von Frank Stella hervor. (Sie stellte klar, dass sie schwarze Künstler meinte, und er riet ihr davon ab.) In der akademischen Welt lehrte kaum jemand Golden etwas über schwarze Kunst, aber sie war damit aufgewachsen. Mehrere Freunde ihrer Eltern waren ernsthafte Sammler, und sie hatte in der schwarzen Presse über Faith Ringgold, Charles White und andere Künstler gelesen. In der Smith-Bibliothek fand sie den Katalog für 'Two Centuries of Black American Art', David Driskells bahnbrechende Ausstellung von 1976 im Los Angeles County Museum of Art. Die Bibliothek verfügte auch über ein Buch von 1973 mit dem Titel 'The Afro-American Artist: A Search for Identity' von Elsa Honig Fine. 'Ich habe jeden Künstler in diesen Büchern studiert', erzählte mir Golden. 'Ich habe sie sozusagen auswendig gelernt.'"