Wie kommt man dem Werk eines Künstlers bei, dessen ikonische Scherenschnitte die Wände jeder zweiten Arztpraxis zieren? Wie gelingt es, in seinen Arbeiten tatsächlich etwas Neues zu sehen, anstatt Altbekanntes nur wiederzuerkennen? Mit solchen Fragen im Kopf habe ich kurz nach Weihnachten die über 70 Werke umfassende Matisse-Retrospektive in der Fondation Beyeler in Riehen bei Basel besucht.
Gerade in so einem Fall wie Matisse ist es die Aufgabe einer Ausstellung, einen neuen Blickwinkel auf diese alten Freunde zu eröffnen. Es braucht einen theoretischen Ansatz, einen Dialog mit einem anderen Werk oder eine Hängung, die einen nötigt, länger stehenzubleiben. Eine Idee sollte es den Besuchenden ermöglichen, zu sehen.
Genau das weiß Kurator Raphael Bouvier natürlich und entspinnt die Erzählung seiner Retrospektive anhand der vielen Reisen, die der Maler zeit seines Lebens nach Südeuropa, Nordafrika, Russland, die USA und Tahiti unternommen hat. Noch bevor man den ersten Ausstellungsraum betritt, empfängt einen deshalb zur Einstimmung das Gedicht "L’invitation au voyage" (Einladung zur Reise) des französischen Dichters Charles Baudelaire von 1857, auf das sich der spätere "Fleurs du Mal"-Illustrator in den Titeln seiner Gemälde immer wieder bezogen hat. In der Pressemitteilung liest man, dass sich die Baudelaire-Begriffe Überfluss, Ruhe und Genuss (luxe, calme et volupté) darüber hinaus als Leitgedanken bei Matisse fänden und die Quintessenz seiner Kunst zusammenfassten.
Ein Reisender auf der Suche nach dem Licht
Der Fernweh-Stimmung von Baudelaires Reimen folgend, will Bouvier mit seiner Ausstellung die Besuchenden zu einer Reise durch Matisses Schaffen einladen, in dem seinerseits die Bewegung eine wichtige Rolle spielt. Und weil der Maler – immer auf der Suche nach dem idealen Licht – ein Leben lang reiste (oder später dann, als er das krankheitsbedingt nicht mehr konnte, zumindest die Erfahrungen von unterwegs in seinen Werken verarbeitete), umspannt die Ausstellung sämtliche Schaffensphasen des Künstlers: angefangen mit den frühen, um 1900 entstandenen Bildern, gefolgt von seinen Gemälden des Fauvismus, mit denen es ihm gelang, die Farbe vom Motiv zu befreien. Dann die sinnlichen Nizza-Bilder der 1930er und schließlich die späten Scherenschnitte. Und das ist erstmal gut. Denn so wird deutlich, dass es einiges an Eklektizismus und Experiment gebraucht hat, diese eigene, unverwechselbare Bildsprache zu finden, die wir so gut kennen.
Zum Auftakt empfangen einen die allerersten Bilder, die Matisse überhaupt gemalt hat. Damals war er schon Anfang 30, denn nach seinem Jurastudium arbeitete er zunächst als Anwaltsgehilfe, bevor er zur Kunst fand. Neben dem von Impressionismus und niederländischer Stilllebenmalerei beeinflussten Gemälde "La desserte" (Der gedeckte Tisch, 1896/1897), auf dem Matisse eine Frau zeigt, die einen Blumenstrauß auf einem gedeckten Tisch platziert, hängt das nach dem Refrain des Baudelaire-Gedichts betitelte "Luxe, calme et volupté" (1904).
Matisse malte es in pointillistischer Malweise auf Grundlage eines Bildes, das er im Sommer 1904 von seiner Frau und einem seiner Söhne am Strand von Saint-Tropez anfertigte. Kein Wunder, dass er gerade hier mit dieser Technik experimentierte, denn diese Zeit verbrachte Matisse zusammen mit dem neoimpressionistischen Maler Paul Signac. Die Komposition überzeugt nicht recht, die Figuren hängen einzeln in den Seilen, ohne als Gruppe eine einheitliche Bildwirkung zu ergeben. Gut also, dass Matisse sich nicht weiterhin dem Pointillismus verschrieben hat.
Befreiung durch den Fauvismus
Schon im nächsten Raum geht es los mit den ersten "Kloppern", mit denen Matisse die Malerei revolutionierte und die seitdem so oft reproduziert worden sind, dass es schwerfällt, überhaupt noch etwas in ihnen zu sehen. Stattdessen lässt man sich nur allzu leicht von den ach so schönen Farben und Formen einlullen. Mit Revolution hat das nichts mehr zu tun.
Da ist zum Beispiel "La fenêtre ouverte", das Matisse 1905 im kleinen französischen Fischerdorf Collioure malte, nahe der Grenze zu Spanien. Das kleinformatige Gemälde, eine Leihgabe der National Gallery of Art in Washington, ist ein wahres Feuerwerk an ungemischten, intensiv leuchtenden Farben und spontan gesetzten Pinselstrichen. Es zeigt ein geöffnetes Fenster mit Blick auf den Hafen des Dorfes. Die Farben geben nicht die Originaltöne des Motivs wieder, sondern, so formulieren es zumindest die Professoren in der Kunstgeschichtsvorlesung, die Empfindungen des Malers: Das Meer zum Beispiel ist nicht blau, sondern pink. Statt den Eindruck räumlicher Tiefe durch Schatten zu erzeugen, unterteilt Matisse diese Komposition in kontrastreiche Flächen, die je nach Bildbereich durch eine unterschiedliche Pinselführung strukturiert sind.
Von den dünn aufgetragenen Grün- und Rosatönen des Innenraums über die pulsierenden Striche, die das efeubewachsene Gitter und die Topfpflanzen bestimmen, bis hin zur ruhigen, durch Linien bestimmten Wiedergabe der Boote stellt dieses kleine Bild alle Regeln auf den Kopf, die bis dato in der Malerei galten. Das führte Kritiker wie Louis Vauxcelles dazu, die Gemälde von Matisse und seinem Kollegen André Derain angesichts ihrer schockierenden Farbwirkung bei ihrer Präsentation im Pariser Salon d’Automne als fauves (wörtlich "wilde Tiere") zu bezeichnen. Mit dem Fauvismus, einer von 1904 bis 1908 andauernden und damit wahrscheinlich der kürzesten Kunstbewegung der Moderne, befreite sich Matisse von den Nachahmungsversuchen der postimpressionistischen Malweisen und erfand etwas, das zuvor niemand gewagt hatte.
Exotisierung des "Anderen"
Im selben Saal hängt das Stillleben "Les tapis rouges" (1906), das ebenfalls in Collioure entstanden ist. Rot und blau gemusterte Stoffe füllen den Bildraum fast vollständig. Anhand dieses und der in den folgenden Jahren entstehenden Motive wird deutlich, wie Ornamente und die Haptik von Stoffen den im von Weberei geprägten nordfranzösischen Bohain-en-Vermandois aufgewachsenen Maler zu flachen Kompositionen führten.
Die Textilien und handgefertigten Objekte, die Matisse auf seinen Reisen kaufte, zum Beispiel 1906 in Algerien, dienten ihm dazu, in seinem Atelier "orientalisch" geprägte Interieurs einzurichten und zu malen. Die Problematik, dass Matisse in seinen Bildern eine westliche, männliche Perspektive unsichtbar voraussetzt und den sogenannten Orient als sichtbares "Anderes" exotisiert, thematisieren die Texte in der Ausstellung kaum. Allerdings räumt die Kunsthistorikerin Alix Agret in ihrem Katalogbeitrag ein, dass sich Matisse selbst nur selten zur Frage der Kolonialisierung geäußert habe – auch nicht während seiner Aufenthalte in Algerien und Tanger. Seine Korrespondenz offenbare typische Vorurteile der Zeit, trotzdem zeugten einige seiner Bemerkungen von seinem Wissen um die Komplexität der kolonialen Verhältnisse. Tatsächlich muss seine Vorstellungswelt auch von der damaligen Mode "orientalischer" Filme geprägt gewesen sein. Von denen wurden einige in Nizza gedreht, wo Matisse in den 1920er-Jahren lebte.
Die Ausstellung zeigt, wie der Maler seine Bilder beeinflusst von diesen visuellen Fantasien durch das Nebeneinander von Ornamenten entwickelte. Aus diesen ergeben sich flache Systeme, die konventionelle Vorstellungen von Perspektive und Form über den Haufen werfen und eine freiere Auffassung von Räumlichkeit eröffnen. Matisse malte Bildräume auf Grundlage von Farbe und nicht auf Grundlage von Perspektive, wie auch das Gemälde "Intérieur à la fougère noire" (1948) zeigt, das sich in der Sammlung Beyeler befindet.
Frauen als "Requisiten, die er als Maler von Innenräumen benötigte"
Selbst die schwungvoll gemalten Blätter des Farns wirken in diesem Bild wie ein Muster neben Mustern. So stört es auch nicht im Geringsten, dass die Linie eines Tischbeins unbekümmert den Umriss der schemenhaft gezeichneten Sitzenden durchquert. Die wiederum wirkt im Vergleich zu den bewegt gezeichneten Gegenständen recht passiv und unbewegt – und hat noch nicht mal ein Gesicht, was eine Problematik aufwirft, der sich die Kunsthistorikerin und Kritikerin Griselda Pollock im Katalog widmet: Es gibt nämlich kaum ein Interieur von Matisse, in dem keine Frau auftaucht.
Obwohl dieser durchaus auch Männer malte, zeigt die Ausstellung ausschließlich Bilder mit weiblich zu lesenden Figuren. Das Problem mit diesen Frauen ist laut Pollock, dass sie Matisse als "Requisiten" dienten, "die er als Maler von Innenräumen benötigte". Und weiter schreibt die Kunsthistorikerin: "Wenn Matisse Figuren – Frauen – malt, so sind sie stilisiert, maskenhaft verzerrt, bar jeder Persönlichkeit oder Identität. Erschrecken auslösend in ihrer Nicht-Menschlichkeit."
Statt die Frauen in seinen Bildern als Individuen zu zeigen, malte Matisse sie als anonymisierte, exemplarische "weibliche Körper", die er benötigte, um seine Bildräume zu bevölkern. Interessant und aufschlussreich ist Pollocks These, dass die Frauen, die für Matisse Modell saßen, eigentlich eine, wenn nicht gar die Voraussetzung für das Erzeugen der von Matisse angestrebten Bildwirkung waren. Anders ausgedrückt: Ohne Frauen wäre es Matisse nicht gelungen, seine unverwechselbare Bildsprache zu entwickeln. Genauso wenig wie anderen männlichen Malern.
Eine alternative Kuration wäre spannend gewesen
Zu seiner Verteidigung muss man sagen, dass Matisse zu einer Zeit arbeitete, als Szenen mit unterwürfig und passiv dargestellten Frauen zum unhinterfragten Repertoire gehörten. Dazu kamen weitere, damals klassische Konstellationen der Unterwerfung: etwa solche aus den kolonialen Fantasiewelten des Harems (wie in Matisses Odalisken-Bildern, von denen einige in der Ausstellung zu sehen sind), Darstellungen von Bordellen, Abbildungen bürgerlicher Wohnzimmer, Privatgärten und Atelierszenen.
Nicht erst Matisse, sondern schon Jean-Auguste-Dominique Ingres und Gustave Moreau nutzten ihre Ateliers als Bühnenbilder, in denen sie "orientalistische" Fantasiewelten mit sich selbst darbietenden Frauen inszenieren konnten. Das Urteil darüber, ob ein einziger Beitrag im Ausstellungskatalog als feministische Gegenrede ausreicht, muss jede oder jeder Besuchende wohl für sich selbst entscheiden.
Aus meiner Sicht sind sogenannte Kontextualisierungen und Trigger-Warnungen nutzlos. Eine alternative Kuration hingegen, beispielsweise mit dem Fokus auf die These Pollocks, wäre spannend gewesen und hätte einen Beitrag zu einer Neubetrachtung dieses viel rezipierten Abschnitts der Kunstgeschichte leisten können, anstatt nur eine leicht verdauliche Blockbuster-Retrospektive zu bieten.
Keine Pinterest-tauglichen Matisse-Klassiker
Am meisten Spaß macht der Teil der Ausstellung, in dem sich die Auswirkungen von Matisses Italien-Reise im Sommer 1907 nachvollziehen lassen. Und das vielleicht gerade deshalb, weil diese hier gezeigten Bilder eben keine Pinterest-tauglichen Matisse-Klassiker sind, sondern ungewöhnlich, rätselhaft und irgendwie eigenartig. Vielleicht eine Sackgasse in seinem Schaffen, ein Weg, der nirgends direkt hingeführt hat, den Matisse aber nichtsdestotrotz gegangen ist, und der uns trotzdem, oder gerade deshalb, etwas über sein Schaffen verrät.
"Le luxe I" (Hallo Baudelaire-Gedicht!) ist von 1907, und damit noch in Collioure, kurz vor der Reise nach Italien, entstanden. An dem dünnen Farbauftrag lässt sich erkennen, dass Matisse zu dieser Zeit bereits anfing, sich mit Freskomalerei zu beschäftigen. Nur wenige Jahre nach seinen frühen fauvistischen Werken bediente sich Matisse hier einer ganz anderen Bildsprache – weder pastos noch ausufernd in der Wahl der Farben.
Am längsten stehen bleiben muss ich vor dem großformatigen Gemälde "Baigneuses à la tortue", das Matisse 1907/08 malte, als er bereits aus Italien zurück war. Die Szene ruft Paul Cézannes Badende wach, die Einteilung des Hintergrunds in eine ultramarinblaue obere und eine grüne untere Fläche erinnert an Giottos Darstellung der Taufe Christi in der Scrovegni-Kapelle in Padua.
Die Frage nach der Schildkröte
Die holzschnitthafte Körperlichkeit der drei Frauen ist imposant, im Gegensatz zu ihrer prähistorisch wirkenden Massigkeit sieht die Schildkröte am unteren Bildrand winzig aus, trotzdem zieht das kleine Tier meine Aufmerksamkeit auf sich wie sonst kaum etwas in der Ausstellung. Ein Detail, das hier keinen Sinn ergibt – und doch wichtiger sein könnte als es scheint.
Weder die Forschung, noch Matisse selbst geben eindeutige Hinweise, wie "Baigneuses à la tortue" zu deuten ist. Der Künstler selbst sprach wohl nur von "drei Frauen am Meer, die mit einer Schildkröte spielen". Welche Ausstellungsnarration würde sich wohl ergeben, würde man alle Bilder nochmal ausgehend von der Frage nach der Schildkröte umhängen?
Tatsächlich geht ein Beitrag im Ausstellungskatalog einem ähnlichen Problem nach. Larissa Dätwyler schreibt nämlich über die Brüche in der Matisse-Idylle, genauer über die Irritationsmomente: sowohl materiell – wie durch das Sichtbarlassen der Herstellungsspuren – als auch narrativ, eben durch solche Motive wie die Schildkröte. Gerade über diese Trampelwege und Schneisen scheint es möglich, Matisses Werk aus neuen Perspektiven zu betrachten; und so zu sehen.
Das, was in den Arztpraxen wegretuschiert ist
Auf meinem restlichen Weg durch die Schau begleitet mich die Schildkröte jedenfalls in Gedanken. Beim Betrachten der imposanten Scherenschnitte im letzten Raum fühle ich dann tatsächlich so, wie ich es bei Dätwyler am Tag nach der Ausstellung lesen werde: Das, was mich hier sehend macht, sind die Spuren des Herstellungsprozesses – das, was in den Prints in den Arztpraxen wegretuschiert ist. Die Kratzer, Unebenheiten, Klebereste und unsauberen Kanten, die zeigen, dass Matisse und seine Assistentinnen diese ultramarinblauen Frauen wirklich aus Papier ausgeschnitten und aufgeklebt haben.
Das Problem, das Thema des Reisens als Ansatz zu wählen, liegt darin, dass es keine Breschen zu schlagen vermag. Es dient vielmehr als Klammer oder als roter Faden, der alles Mögliche miteinander verbindet, dabei aber die kleinen Details, die Irritationsmomente verdeckt, die uns zum Sehen nötigen könnten. Es verhält sich mit dem kuratorischen Ansatz in Basel ungefähr so, wie Matisse einmal selbst über eine seiner Reisen geurteilt hat: "In Tahiti gefiel mir das Licht. Es war großartig und langweilig zugleich."