Bis in die muffigste Leipziger Studenten-WG sickerte vor etwa 15 Jahren wohl das Gerücht, Brad Pitt sei in der Stadt gesichtet worden. Genauer: auf dem Gelände der Baumwollspinnerei, einem ehemaligen Fabrikgelände im Stadtteil Plagwitz also, auf dem sich Anfang der 2000er viele Künstler*innen ihre Ateliers einrichteten. Pitt in Plagwitz? "Angeblich mit Privatjet gelandet."
Man munkelte, auch der Hollywoodstar brauche jetzt unbedingt ein Gemälde von Neo Rauch. Vielleicht hatte er den Tipp aus der Zeitung. 2002 schrieb die einflussreiche US-Kritikerin Roberta Smith jedenfalls in der "New York Times", Neo Rauch sei ein "Maler, der aus der Kälte kam" – und spätestens hier begann die Mythenbildung. Bis in die 2000er-Jahre, so schien es, hatte sich in Leipzig etwas erhalten, das im Westen schon lange totgesagt war: die figurative Malerei. Unter dem Begriff "Neue Leipziger Schule" sollte es eine Reihe Künstler*innen, darunter eben auch Neo Rauch, von nun ab bekanntermaßen zu internationalen Erfolgen bringen.
Die "New York Times" scheint Leipzig immer noch zu mögen. Im Januar diesen Jahres listete sie die Stadt als Top-Reiseziel für das Jahr 2020 auf. Nun brach in diesem Jahr nicht unbedingt die große Reiselust aus, Leipzig wurde von Touristenströmen verschont und es ist zu vermuten, dass auch die Maler*innen, deren Werke jetzt unter dem Titel "Antipoden? – Neueste Leipziger Schule" im Mädler Art Forum ausgestellt werden, womöglich dort blieben, wo sie sich allem Anschein nach schon länger gut eingerichtet haben: in ihren Leipziger Ateliers (nur einer der ausgestellten Künstler arbeitet in Berlin).
Ein Lichtblick: der Ausstellungskatalog
Von der kulturellen Lebendigkeit Leipzigs mag des Weiteren zeugen, dass die Ausstellung nicht auf etablierte Museumsleute zurückzuführen ist, sondern auf ein Uni-Seminar, das der Professor für Kunstgeschichte Frank Zöllner mit einer Handvoll Studierender veranstaltete. Die jungen Ausstellungsmacher*innen traten in direkten, persönlichen Austausch mit den Künstler*innen, etwas das an deutschen Kunstgeschichtsinstituten erschreckend selten geschieht. (Ja, es ist tatsächlich kein bisschen schwer, ein komplettes Studium der Kunstgeschichte zu absolvieren, ohne sich je mit lebenden Künstler*innen auseinandergesetzt zu haben.) Die Texte im Katalog wurden nach Atelierbesuchen und persönlichen Interviews verfasst.
Nicht nur deshalb bildet das Buch zur Ausstellung einen erfrischenden Beitrag im oft doch eher dröge gehaltenen Genre der Ausstellungskataloge. Auch die grafische Gestaltung von Anne Dietzsch sticht positiv hervor, und so tröstet der Katalog zumindest ein bisschen über die Tatsache hinweg, dass auch diese Ausstellung ihre Türen Pandemie-bedingt erst im nächsten Jahr öffnen kann.
Präsentiert werden der Öffentlichkeit dann 42 Werke von zwölf jungen Maler*innen, die alle an der Hochschule für Graphik und Buchkunst (HGB) in Leipzig studiert haben. Alle, bis auf einer, wurden in der ehemaligen DDR geboren. Alle waren Kinder, als Deutschland wiedervereint wurde. Trotz biografischer Überschneidungen wird schnell deutlich, dass hier zwölf eigenständige, individuelle Künstler*innen am Werk sind. Jede*r bringt andere Qualitäten mit, jede*r hat seine persönliche Ausdrucksweise. Warum dann der Titel "Neueste Leipziger Schule"? Möchte man womöglich nur auf ein werbewirksames Label aufspringen?
Abstraktion und Figuration als Synthese
Die Anfänge der sogenannten Leipziger Schule reichen bis in die 1960er-Jahre zurück. Anders als die Bezeichnung vermuten lässt, handelt es sich dabei nicht um eine bestimmte Lehrmethode oder Stilistik. Unter dem Begriff werden die Werke unterschiedlichster DDR-Maler subsummiert, die vor allem eines eint: Ihre Tätigkeit an der HGB Leipzig. Maler wie Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer, Werner Tübke oder Sighard Gille zählen dazu. Künstler, die bemüht waren, die staatlichen Vorgaben vom sozialistischen Realismus nach Möglichkeit zu unterwandern. In den Jahren nach der Wiedervereinigung wurden die Künstler der DDR als reaktionär abgestempelt und zum postulierten Tod der Malerei kam die westliche Diffamierung des Figurativen. Abstraktion und Figuration – zwei ideologisch aufgeladene Pole, scheinbar unvereinbar. Ein Diskurs, der in den Werken der Neuen Leipziger Schule Widerhall fand, zum Beispiel in Neo Rauchs Gemälden "Unerträglicher Naturalismus" (1998) oder "Abstraktion" (2005).
Die neue Generation der HGB-Absolvent*innen hat diese Debatte eindeutig hinter sich gelassen. Figuration und Abstraktion stehen gleichberechtigt nebeneinander, müssen keine Antipoden sein, können Synthesen eingehen.
Zum Beispiel in den Werken Henriette Grahnerts (*1977). Subtiler Humor findet sich darin. Grahnert vermag es, mit reduzierten Mitteln die Imagination der Betrachter*innen anzuregen: Was verbirgt zum Beispiel die weiße Fläche im Bild "Kleines Deckchen"? Es verwundert nicht, dass Grahnert auch als Objektkünstlerin arbeitet, ihre Gemälde zeugen von der Materialität des Malens – Kleckse, Rinnsale, ihre Formen behaupten sich nahezu plastisch auf der Leinwand.
Auch Kristina Schuldt (*1982) verbindet figurative Elemente mit abstrakten Formen. In gemalten Fragmenten aus Posen, angedeuteten Körperpartien und Mustern treten ihre Motive kraftvoll auf, und lassen vermuten, dass hier auch das Thema einer starken, weiblichen Körperlichkeit verhandelt wird.
Mit großformatigen abstrakten Zeichnungen wiederum ist Claus Georg Stabe (*1984) vertreten. Zarte Farben, filigrane Flächen, die an Siebdruck oder Holzschnitte erinnern und doch ausschließlich mit Kugelschreibern zu Papier gebracht wurden. Ihrem Entstehungsprozess wohnt erkennbare Entschleunigung inne.
Die Motive von Malte Masemann (*1979) wiederum mögen von allen gezeigten Gemälden stilistisch noch am ehesten an Rauch erinnern, doch könnten sich ihre Sujets von dessen träumerischen Motivwelten nicht stärker unterscheiden. Inspiration findet Masemann in historischen Fotoaufnahmen. Seinem Gemälde "Der Architekt" liegt eine Fotografie des Leipziger Architekten Arwed Rossbach aus dem Jahr 1897 zugrunde. Analog wird hier also ein fotografischer Typus ins Feld der Malerei befördert, und dort zugleich ironisch gebrochen. Das reziproke Verhältnis der visuellen Repräsentationsformen Malerei und Fotografie scheint hier ausgelotet zu werden. Hochaktuell.
In Zeiten in denen wir uns täglich neuen Bilderfluten aussetzen und an immer kurzweiligere Betrachtungsweisen gewöhnen, ist es schließlich naheliegend, zum x-ten Mal in der Geschichte den Tod der Malerei auszurufen. Genauso naheliegend ist es, diesem angeblichen Sterben zum x-ten Mal die Stirn zu bieten, und das Gegenteil zu beweisen.
Wann, wenn nicht jetzt, wäre die Sternstunde der Malerei, fragt Frank Zöllner denn auch sinngemäß in seinem die Ausstellung begleitenden Essay "Antipoden? Vom Tod der Malerei ins Zeitalter der Malerei?" Darin bietet er einen Überblick über den die gesamte Moderne durchziehenden Topos vom angeblichen "Tod der Malerei".
1839 soll der französische Historienmaler Paul Delaroche, dem Publizisten Gaston Tissandier zufolge, beim Anblick einer Daguerreotypie ausgerufen haben: "Von heute an ist die Malerei tot." In seinem Essay legt Zöllner dar, dass dieses Zitat im Laufe seiner Rezeptionsgeschichte wohl aus dem Kontext gerissen worden sei. Tatsächlich habe Tissandier (in dessen Buch das Zitat von Delaroche zu lesen ist) nachfolgend auf den Nutzen der Fotografie für die Malerei hingewiesen. Zwar schien ihr Repräsentationscharakter der Erfindung der Fotografie tatsächlich obsolet geworden, sterben tat die Malerei deshalb noch lange nicht. Im Gegenteil – Impressionismus, Symbolismus, Kubismus sind nur wenige Beispiele dafür wie sich die Malerei ins 20. Jahrhundert "rettete". Bis heute erfindet sie sich ständig neu, reagiert unermüdlich, greift technische Möglichkeiten auf, hinterfragt Althergebrachtes, entwirft Neues.
Gerade der Einfluss der Fotografie ist auf das Wirken einiger der ausgestellten HGB-Absolventen denn auch unverkennbar, etwa auch bei Benedikt Leonhardt (*1984), der bei Astrid Klein studiert hat, und damit einer Künstlerin, die unterschiedlichste Medien in ihrem Schaffen verknüpft. Flimmernde digitale Bildschirme sind die Ausgangspunkte seiner Gemälde wie etwa "Untitled (WF-RB-BO-I/PG-2)". Pastellene Farbverläufe, die einerseits an digitale Zooms erinnern, andererseits genauso gut mit Himmelsfarben assoziiert werden könnten. Die Imitation des Digitalen mit den Mitteln der Malerei birgt hier einen ganz eigenen Reiz, bewegt sich zwischen Aneignung und Verfremdung, Konkretem und Abstraktem.
Markus Matthias Krüger (*1981) wiederum besticht in seinen Landschaftsgemälden durch gänzlich andere, und doch nicht weniger technische Akkuratesse. Auf den allerersten Blick wirken seine vergleichsweise kleinformatigen Gemälde, als hätten sie so auch in einem Salon im 19. Jahrhundert ausgestellt werden können. Doch der Schein trügt. Krügers aufgeräumten Landschaften haftet eine bedrohliche Stimmung an. Im Gemälde "Brennender Baum" wählt er eine latent verstörende Vogelperspektive. Zu sehen ist eine bewaldete Landzunge in einem See, an deren Ende ein Baum lichterloh brennt.
Das Motiv weckt Assoziationen an filmische Aufnahmen, die seit geraumer Zeit immer wieder über die Bildschirme flackern: brennende Wälder, Naturkatastrophen, aufgenommen aus Helikopterfenstern. Filmische Sichtweisen und traditionell tradierte malerische Repräsentationsformen werden hier kombiniert und gleichzeitig jeweils gebrochen.
Generell ist es nachvollziehbar, dass Künstler*innen, die bestrebt sind, durch individuelles Schaffen hervorzutreten, sich der Zuordnung einer "Schule" meist nur widerwillig fügen oder klar dagegen sträuben. Von einer Schule, die spezifische Dogmen hochhält, oder nach bestimmten Techniken unterrichtet, konnte im Falle der Leipziger Schulen noch nie die Rede sein. Tatsächlich lässt sich rückblickend aber eine gewisse Leipziger Traditionslinie ausmachen, die sich auch in allen Werken dieser Ausstellung zeigt: ein unbedingtes Interesse an der Malerei und ihren Möglichkeiten. Ein Verhandeln über die Malerei mit ihren eigenen Mitteln. Eine bewusst eingenommene Haltung diesem Medium gegenüber. Die "Neueste Leipziger Schule" ist über die ideologischen Fehden ihrer Vorgänger*innen ganz gewiss hinaus und doch verhandelt sie, vielleicht mehr denn je, die Möglichkeiten der Malerei selbst.