Krise bei der London Fashion Week

Hat dieser Laufsteg ein Ende?

Großbritannien steckt in einer Rezession, und das spürt auch die Mode. Gerade alternative Marken müssen schließen oder werden aus der Fashion Week gedrängt. Zu Beginn der Londoner Modewoche fragt man sich, ob es auch anders geht

Diese Saison feierte die Londoner Fashion Week ihren 40. Geburtstag. Während man selbst heimlich hofft, sich ab diesem Alter halbwegs in Stabilität und Sicherheit wähnen zu dürfen, wird zu Beginn der Modewoche nun verkündet, dass es für das Vereinigte Königreich bergab geht. Das Land befindet sich in einer Rezession. Die britische Modeindustrie beschäftigt rund 900.000 Menschen und trägt 21 Milliarden Pfund zur Wirtschaft bei, doch der Mangel finanzieller Mittel ist auch hier extrem zu spüren. 

Gerade bei den kleineren, alternativen Brands, die versuchen, sich einen Namen zu machen, sind die Auswirkungen gravierend. Und selbst die, die als etabliert gelten, werden aus der Modewoche gedrängt oder müssen ihr Label sogar schließen, wie etwa Christopher Kane im vergangenen Jahr. Während die Luxuskonglomerate Kering und LVMH, deren Modehäuser während der dominierenden Fashion Weeks in Mailand und Paris zeigen, ihre Marken pushen und platzieren, wo sie nur können, gehen die neuen, spannenden Labels ein, ohne je ihren Zenit erreicht zu haben. 

Die in London ansässige Plattform "1Granary" repräsentiert die kreative Zukunft, wie es die Publikation selbst beschreibt. Hier werden Themen diskutiert, die Modedesign-Studierende und aufstrebende Designer bewegen. Und es wird auch immer wieder nach einer nachhaltigen Alternative zur Fashion Week gesucht, die alle inkludiert und eine modische Zukunft bieten könnte. 

Sind Modewochen wirklich das Nonplusultra?

"Die LFW ist eine Brutstätte für kreative Talente - aber macht sie ihre Unternehmen kaputt?“ fragt eine bunte Tafel vor dem ersten Tag der Modewoche auf dem Instagram-Account des Netzwerks. In der Caption werden die Schwierigkeiten einer heute existierenden Marke erklärt. Was dann zu der Frage führt: Sind die Modenschauen, auf die alle hinarbeiten, wirklich das Nonplusultra? 

Die Runway-Spektakel sind extrem kostenaufwendig, kleinere Brands müssen sich meist mehrere Saisons lang finanziell davon erholen. "Während das Showprogramm ein sehr unterhaltsames und inspirierendes Fest sein kann, fühlt es sich manchmal auch wie eine Ablenkung von den dringenden Problemen unserer Branche an - und von uns allen wird erwartet, dass wir so tun, als würde hinter den Kulissen kein Feuer brennen." Wie könnte die Londoner Modewoche zu einem Event werden, das Lösungsansätze sucht, während die Kreativität gefeiert wird? 

Auch weiteren Debatten wird Platz auf "1 Granary" eingeräumt, für jeden Tag der Fashion Week eine. Etwa: Nicht nur Ästhetik ist wichtig für ein Label, nicht nur Kleider brauchen Design, auch neue, innovative Arbeitsformen. "In London wird die Arbeit in der Modebranche als künstlerisches Leidenschafts-Projekt betrachtet. Man soll es aus Liebe zur Kultur tun und sich dafür aufopfern. Aber was verpassen wir, wenn wir nur über Innovation durch Kleidung sprechen?" 

Muss die Mode ein ewiger struggle sein?

Unbezahlte Praktika und extreme Kosten durch Modestudiengänge könnte man wohl zu der gleichen Riege Problem zählen. Einem fairen, sinnvollen Lösungsansatz wird aus dem Weg gegangen. Wenn man es als Nachwuchs "nicht schafft", will man es wohl nicht genug. Auf einem weiteren Post heißt es "So viel zu tun, so viel zu sehen. (Aber kein Platz, um irgendetwas davon zu zeigen)." Und in der Caption: "So viele von uns - Designer, Journalisten, Stylisten oder Einkäufer - können in der derzeitigen Situation nichts erreichen, aber wir haben selten die Gelegenheit, das anzusprechen." Muss die Mode ein ewiger struggle sein? Muss jeder Anfang in dieser Welt einer Szene aus "Der Teufel trägt Prada" gleichen?

Mit Slogans wie "LFW ist eine Plattform. Keine Verpflichtung", "Mode hasst es, über Geld zu sprechen (und über Versagen)" und "Warum unterstützt Mode nur die Designer?" stellt "1Granary" oft ignorierte Fragen während der heißesten Phase des Jahres für die Londoner Szene. Und nennt einen Ansatz, der ihnen gefällt: die Copenhagen Fashion Week. 

Verbindliche Mindeststandards für die Modehäuser

Die kleinere, nischige, skandinavische Modewoche kann keine etablierten europäischen Marken wie Chanel oder Versace vorweisen, dafür jedoch ein Konzept, das überzeugt und in die Zukunft weist. Die 18 Punkte umfassende Nachhaltigkeits-Agenda ist ein essentieller Teil des Erfolgs, wie es die CEO des Formats, Cecilie Thorsmark, erklärt. "Wir haben unsere Nachhaltigkeitsstrategie im Jahr 2020 ins Leben gerufen und haben seitdem die Ziele, die wir uns gesetzt haben, erreicht. Ein wichtiger Meilenstein in dieser Hinsicht war das Inkrafttreten unserer Nachhaltigkeitsanforderungen im Februar 2023, was bedeutet, dass alle Marken auf dem offiziellen Showplan der Copenhagen Fashion Week verbindliche Mindeststandards erfüllen und diese dokumentieren müssen."

Es geht lange nicht mehr darum, ob, sondern wie Nachhaltigkeit am besten in die Brands und ihre Präsentationen integriert werden kann. "Modewochen haben eine zentrale Rolle in der Industrie, wir haben eine gewisse Macht, die wir bewusster einsetzen müssen", so Thorsmark. Während ihrer Eröffnungsrede zur dänischen Fashion Week im Januar sprach sie nicht nur über Privilegien, sondern auch darüber, diese sinnvoll einzusetzen – anstatt weiterhin die Augen zu verschließen oder hinter einer festgetackerten Sonnenbrille zu verstecken. 

"Während die Modewochen faszinieren und inspirieren, muss die Konsumkultur, die sie erzwingen, angesprochen werden. Es liegt in unserer Verantwortung, die Diskussion darüber zu fördern, wie wir Mode auf neue Art und Weise zelebrieren und die Branche zu besseren Maßnahmen anregen können." Damit spricht sie die anderen Fashion Weeks direkt an - und "1Granary" und vielen weiteren Kreativen und Modeliebenden aus der Seele. Gerade denen, die nicht zur Ein-Prozent-Elite gehören. 

Viel mehr kreatives Rohmaterial

Gerade London wäre der perfekte Ort für innovative Neuerungen und angepasste Standards, werden doch hier neue Talente quasi am Fließband ausgebrütet und versucht, ihnen eine Bühne zu bieten. Central Saint Martins heißt die hier ansässige, wohl berühmteste Modehochschule der Welt. Größen wie Alexander McQueen, John Galliano, Stella McCartney oder Zac Posen gehören zu den Absolventen. 

CSM, wie die Einrichtung abgekürzt wird, hat sogar ihren eigenen Fashion Week-Slot, in dem die Masterstudierenden ihre Abschlusskollektionen zeigen dürfen, die außerdem in der digitalen Modewochen-Bibel "Vogue Runway" festgehalten werden. Ein besonderer Augenschmaus, da die Werke der jungen Designer noch nicht unbedingt den kommerziellen Industrieansprüchen gerecht werden wollen, sondern viel mehr kreatives Rohmaterial aufzeigen. Emotionen, Träume, Ziele, überdurchschnittlich gut kreiert und wiedergegeben von internationalen aufstrebenden Modeschaffenden. Doch wie geht es weiter, wenn die Absolventen flügge werden und das Nest verlassen?

Wenn sie Glück haben, kommen sie wieder in den Brutkasten. Einen "gemeinnützigen Inkubator" nennt sich die im Jahr 2000 von Modedesignerin Lulu Kennedy gegründete Organisation Fashion East. Aufstrebende Designerinnen und Designer können sich bewerben und ein Unterstützungspaket gewinnen, einschließlich Präsentationen auf der Londoner Modewoche, Stipendien und fachlicher Betreuung. 

"Die Schauen sind ein Marketingspektakel"

Johanna Parv, Olly Shinder und Sosskyn bilden die momentan zu formende Nachwuchs-Riege. Maximilian Davis, heute Creative Director bei Ferragamo, JW Anderson oder auch Martine Rose haben das Förderprogramm einst durchlaufen und gehören nun zu den gefeiertsten Namen der Branche. Platz für Präsentation, Kostenübernahmen und spezialisierte Zuwendung helfen also, wenig überraschend, wenn es um das Aufziehen frischer Talente geht. Jedoch funktionieren die Modewochen, und so auch die Londoner, oft nicht demokratisch genug, um diese langfristig zu etablieren und auch den weniger (materiell) gesegneten eine wahre Chance zu bieten.

Mode-Reseracherin Nina Maria findet klare Worte für ihr Gefühl, wenn die Fashion Weeks wieder einmal beginnen. "Die Schauen sind ein Marketingspektakel. Theoretisch wird dadurch die Marke aufgewertet. In der Realität, insbesondere bei jüngeren Marken, werden sie dadurch in die Kategorie der roten Zahlen gedrängt", schreibt sie auf Instagram. "Manchmal schaue ich mir die Shows aus der Ferne an und frage mich, ob junge Designer in diesen schwierigen Zeiten nicht eher dazu neigen, Merchandise für ihre Marke zu machen, als neue Designs zu entwerfen." 

Sie wünscht sich einen Mittelweg zwischen Design und Kommerzialisierung, der Marken losgelöst neue Kreationen ausprobieren lässt, ohne, dass sie finanziell in den Ruin getrieben werden. Ein noch schwer zu lösendes Problem, denn durch das bisherige System wachsen traditionell erfolgreiche Brands immer weiter, Neulinge haben dagegen kaum eine Chance. 

Nostalgisches Gefühl aus der Zeit vor Covid

Umso mehr freut sich die Londoner Modewoche diese Saison über die Comebacks von den unabhängigen Labels Marques’Almeida und Dilara Findikoglu. Als "ein nostalgisches Gefühl der Londoner Mode aus der Zeit vor Covid - einer Zeit, in der aufstrebende Labels mit Hoffnung, Aufregung und Kreativität verbunden waren", beschreibt "1Granary" das Marques’Almeida-Show-Erlebnis.  Das Paar aus Marta Marques und Paulo Almeida setzt sich diese Saison vor allem mit der Altersinklusion in Casting und Mode auseinander, übersetzte jugendliche Brand-Klassiker in elegante Versionen, spielte mit Satin und Stickereien. 

Die türkisch-britische Designerin Dilara Findikoglu gehört zu den gefragtesten neuen Modemachern. Ihre Show wurde heiß ersehnt. In der vergangenen Saison hat sie ihre Teilnahme an der Londoner Fashion Week wegen fehlender finanzieller Mittel absagen müssen. Zurück im Spiel fährt sie auf, was ihre Fans an ihr lieben und kreiert ein paralleles Universum, ohne jegliche Regeln, die von hetero-patriarchalen Männern geschaffen wurden. 

"Ich wollte die göttliche, weibliche Kraft zum Ausdruck bringen, irgendwo jenseits der Zeit, jenseits der Realität und jenseits dessen, was gerade passiert," erklärt sie "Vogue Runway". Findikoglus Kollektion "Femme Vortex" präsentiert 37 Charaktere: Looks, die einen eigenen Titel tragen und von den Models wie von Besessenen interpretiert werden. Korsetts, Latex und Plexiglas-Absätze treffen auf Nadelstreifen, Leder und wie aus Wachs geformte Kleider, die in die Couture-Richtung deuten. Auf Instagram werden diese extremeren Kreationen mit dem Heiligen der Londoner Mode, Alexander McQueen, verglichen. Ein großes Kompliment. Zu hoffen bleibt, dass die Designerin auch in der kommenden Saison ihre Entwürfe zeigen darf und so die Chance bekommt, ihren wohlverdienten Platz in der Modewelt einzunehmen. Zusammen mit all den weiteren Kolleginnen und Kollegen, denen Kreativität und Talent nicht weiterhilft, solange das Mode(wochen)-Sytsem nicht weitergedacht wird.