Die Londoner Fashion Week begann mit der "Vogue World: London": einem nach seinem Debüt letztes Jahr in New York zum zweiten Mal abgehaltenen Spektakel aus Mode, Kunst und Supermodels der 1990er-Jahre. Die Show wurde unter der Leitung von Anna Wintour und Edward Enninful von einem internationalen "Vogue"-Team in Szene gesetzt, "kuratiert" von Regisseur Stephen Daldry. Alle britischen Modegrößen und Stars stürmten den roten Teppich und gaben sich dem Theater hin, dessen Finale "eine Laufsteg-Extravaganz mit den Highlights der Herbst-/Winterkollektionen 2023" bildete, wie die "Vogue" selbst schrieb.
Bleiben wir gleich bei dem Modemagazin, denn es verkündete die vielleicht aufregendsten Neuigkeiten, als die Londoner Modewoche in vollem Gange war. Im vergangenen Juni, sechs Jahre, nachdem Enninful zum Chefredakteur der britischen "Vogue"-Ausgabe ernannt worden war, erklärte das Magazin seinen Abgang. Während er auf einen internationaleren Posten rutschen soll – vielleicht endlich jemand, der Anna Wintour in ihre Alleinherrschaft herausfordert? – wartete die Modewelt gespannt auf eine Nachfolge. Am Montag dann wurde die Journalistin Chioma Nnadi als neue "Head of Editorial Content" bekannt gegeben, nachdem sie bereits 13 Jahre lang für die Publikation tätig war. Sie wird als erste Schwarze Frau an der Spitze des branchenführenden Magazins stehen.
Es ist kaum möglich, über die Londoner Modewoche zu berichten, ohne Jonathan Andersons J.W.-Anderson-Show zu erwähnen. Saison für Saison schafft es der irische Modedesigner und Loewe-Creative-Director, comichafte Illusionen zu kreieren, die mit dem schmalen Grad zwischen Tragbarkeit und modischem Kunstwerk spielen. So eröffnete die Frühling/Sommer-2024-Kollektion ein aus Knete geformter, schwarzer Hoodie mit passender weißer Shorts, die eckig und steif um den Körper des Models geformt waren, ihn kaum zu berühren schienen. Plasticine, das britische Play-Doh, wird noch immer in Andersons Heimat Nord-Irland hergestellt, was ihn auf einen die Jugend wiederentdeckenden Pfad führte. "Was passiert, wenn man sich auf die Reduktion konzentriert? Es ging nicht um eine Menge Tricks. Es war eine Art Reinigungsmittel", erklärte er der "Vogue".
Auf Knete folgten – Müllbeutel? An den Hälsen der Models zugebundene, voluminöse und mit glänzendem Plastik überzogene Tops in Abfallsack-Blau und -Gelb. Aus aufgeplatzten, übergroßen Satin-Bomberjacken sprangen weiße Federn, genau wie aus den Hosenbunden der aus Jackenärmeln entstandenen Cargo-Pants.
Reifröcke definierte Anderson neu, indem er Hoolahoop-Ringe unter die Lagenröcke von Strickkleidern schob. Das kindliche Kapuzen-Element fand sich an kurzen Hoodie-Kleidern aus festem Arbeitsstoff, Moto-Lederjacken und feinen, transparenten Sweater-Blusen. Strickkleider aus Plastikgarn, Röcke, wie aus glitzernden Papierstreifen zusammengesetzt, weite Peplum-Shorts und aufgesteckt wirkende, boxige Blazer transportierten Andersons Liebelei zwischen dem Abstrakten und Kleidsamen. Ein Augenzwinkern in jeder Naht. Gepaart wurden die Looks mit beigen geflochtenen Slippern, die die Großeltern des Designers getragen hatten, und die so die Kollektion voller Kindheitserinnerungen abrundeten.
Die äthiopische Designerin und Central-Saint-Martins-Absolventin Feben zeigte ihre vierte Laufsteg-Kollektion in London. Unter dem Titel "Temple" widmete sie sich für den kommenden Frühling der Frage, wie sich Körperlichkeit in die Geschichte einer Identität einfügt. "In meinen jüngeren Jahren war ich von Bildern sehr dünner Körper umgeben, was mir das Gefühl gab, dass mein Körper nicht gefeiert werden könnte - dies ist also eine Art 'Fick dich' an diese überholten Ideale", erklärte die Designerin vor der Show.
Der Körper als heiliger Tempel
Ein Siebdruck ihres nackten Körpers zierte weiße Jersey-Kleider. Skulpturale, die Silhouette verformende Entwürfe liefen zwischen solchen, die mit gekonnt eingesetzter Transparenz Hautpartien entblößten. Perlengeknüpfte Tops und Kleider, die in Schnüren endeten, gesteppte, zusammengezurrte Stoffe und umschmeichelnde Seide repräsentierten die reiche Materialvielfalt, mit der Feben ihre Botschaft in Kleidungsstücke übersetzte. "Ich hatte die Absicht, eine Ähnlichkeit mit der weiblichen Anatomie zu schaffen", sagt sie. "In gewisser Weise soll es ein Gefühl des Unbehagens hervorrufen, aber letztlich feiert es die Schönheit des weiblichen Körpers - ihren heiligen Tempel."
Inspirieren ließ sich Feben von der Künstlerin Carrie Mae Weems. In ihrer "Museum Series" platzierte Weems ihren Schwarzen und auch schwarz gekleideten Körper außerhalb von Institutionen, die Tempeln gleichkamen. "Das hat mich dazu gebracht, darüber nachzudenken, wo ich meinen eigenen Körper platziere, etwa auf Kleidern oder auf dem Programm der London Fashion Week."
Der in Georgien geborene und in London ansässige Modedesigner David Koma träumte schon früh davon, Königin Elisabeth II. einzukleiden. Für seine Frühling-Sommer-Kollektion erfüllte er sich diesen Wunsch insofern, dass er eine von der im vergangenen Jahr verstorbenen Majestät inspirierte Kollektion anfertigte. Besonders Archivbilder von Elisabeth II. während ihres Militärdienstes in den 1940er-Jahren hatten es dem Modedesigner angetan. Ihm gefiel der Dialog zwischen ihrer Weiblichkeit und einem dunkleren, avantgardistischeren Vibe, den sie in Uniform und zwischen Militärfahrzeugen verbreitete.
Wie schon in New York spielte das Motiv der Rose eine Hauptrolle in der Kollektion. In der englischen Kultur hat die, ja, Königin der Blumen eine symbolische Bedeutung, die auf ihre Verwendung als Friedenssymbol während der Tudorzeit Heinrichs VIII. zurückgeht. Beginnend mit dem tiefsten Dunkelblau changierte Komas Farbpalette über Hellgrün, Flieder, Pink, Jeansblau, Schwarz, Orange und Gelb bis zu in Weiß gehaltenen, ultrafemininen Looks.
Die Rose führte als aufgesetzte Blüte und Print durch die Kollektion, besetzte lederne Overknee-Stiefel, wurde zu Halsband und Armreif geformt, machte als Perlenstickerei durchsichtige Tüll-Kleider tragbar. Seine zweite Inspirationsquelle, die Figur Rebecca aus dem Film "The Girl on a Motorcycle" von 1968, wurde in ledernen Bomberjacken sichtbar, einem von Komas Markenzeichen. Die Kleider eng, entblößend und die Weiblichkeit der Tragenden betonend, blieb sich David Koma treu, während er die königliche Madame würdigte.
Simone Rocha war für die zweite große Nachricht der Londoner Modewoche verantwortlich: Die irische Modedesignerin wurde von Jean Paul Gaultier als seine nächste Gast-Couturier ernannt und wird im kommenden Januar bei der Pariser Haute-Couture-Week eine einmalige Kollektion zeigen. Gaultier hatte sich nach seinem Rücktritt 2020 entschieden, sein Erbe durch die Visionen unterschiedlicher Designer fortführen zu lassen.
Rocha arbeitet an ihrem eigenen Erbe schon seit elf Jahren kontinuierlich. Wenn die Rose die Königin der Blumen ist, dann ist Rocha die Königin der Rosen. Wie niemand sonst wusste sie auf der London Fashion Week, die langstieligen Blumen in ihren Entwürfen auf stimmige Art und Weise einzusetzen. "The Dress Rehearsal" war der Titel ihrer Kollektion, die Rocha im English National Ballet Headquarter zeigte. Den Beginn machte ein in Puderpink gehaltener Look, dessen Basis praktischer Natur war und in die Richtung eines kurzen Anoraks ging. Gefertigt war das Ensemble mit Rock aus rosa Nylon und verziert mit fluffigen Rosenköpfen aus dem gleichen Material. Selbst in der Hand hielt das Model die Stoff-Blume.
Der zweite Entwurf mutete als transparent-seidener Parka an, in dessen Torso echte Rosen eingearbeitet waren. Es folgten schwarze und senf-goldene, monochrome, voluminöse Nylon-Looks mit übergroßen Schleifen und gewickelten Rosenköpfen. Weiße und mintfarbene Tüllkleider, die wie in Zuckerguss getunkte, mit Spitze besetze Wolken über den Laufsteg schwebten, bewahrten durch ihre weiten, boxigen Formen vor dem Zuckerschock.
Die im perfekten Barbie-Pink gehaltenen Seidenkleider glichen durch gekonnte Drapierungen Rosenblüten, die an den Hälsen der Models durch die rote Rocha-Schleife verziert wurden. Schluppen, überdimensionale Perlen und Strass-Steine fanden sich auch auf dem sportlich-märchenhaften Schuhwerk der Models, die Simone Rochas erste Kollaboration mit der Schuhmarke Crocs präsentierten. Sie fassten den Spagat, den Rocha zwischen cool und romantisch, sportlich und feminin, kokett und melancholisch meistert, perfekt zusammen.
Der Rock aus metallenen Pailletten wog 20 Kilo, "aber er macht den unglaublichsten Sound", beschrieb Marco Capaldo, Gründer und Creative Director von 16Arlington, seinen vorletzten Look. Im Mai hatte Capaldo den BFC/Vogue Designer Fashion Fund gewonnen. "Es gibt mir das Gefühl, dass wir auf dem richtigen Weg sind, wenn wir versuchen, eine neue Luxusmarke in London aufzubauen", erklärte er der "Vogue". Capaldo ist mit Pailletten und federnen Partykleidern bekannt geworden, diese Saison hatte er eine noch raffiniertere, durchdachtere Kollektion präsentiert, die eine weite Palette an "Day-to-Night"-Looks anbot.
Die roten und cyanblauen Elemente – fischschuppenartige Pailletten-Kleider, Federn, die in Plastikmäntel eingearbeitet waren – erinnerten ihn an das Verschwimmen von getönten Halogenscheinwerfern auf der Autobahn oder an Regentropfen auf einer Windschutzscheibe. Ein Paar Highheels deutete mit seinem Besatz die sich ewig drehenden Bürsten einer Autowaschanlage an. Als Überthema nannte Capaldo David Lynchs Klassiker "Lost Highway". "Ich habe mich von den Dialogfetzen und der Art der Beleuchtung inspirieren lassen", erklärte er.
Die Kollektion “There is no such thing as a bad coincidence" verband mondäne, dem Nachtleben entsprungene Stücke mit Kleiderschrank-Klassikern. So gekonnt vereint, dass fast jeder Look auf einer Fashionweek-Afterparty wie auch auf den Fluren eines Bürokomplexes angenommen werden würde. Frederica "Kikka" Cavenati, Mitbegründerin von 16Arlington und Partnerin Capaldos, war im Jahr 2021 plötzlich verstorben, Capaldo führt die Marke nun allein weiter. Die nach ihr benannte "Kikka"-Bag wurde von den Models fest an den Oberkörper gepresst. "Um Kikka nahe zu haben", sagte Capaldo.