Die Londoner Modewoche begann mit einer Gedenkfeier für die im Dezember letzten Jahres verstorbene Mode-Königin Vivienne Westwood. Viele der geladenen Gäste trugen der Designerin getreu Tartanmuster, wilde Farb-Kombinationen, aparte Kopfbedeckungen und eine Menge weiterer selten gesehener Accessoires: Boxhandschuhe zum Beispiel.
So läuteten sie eine offiziell der Dame Westwood gewidmete Fashion Week ein. "Sie war außergewöhnlich - sie hat die britische Kultur verändert, und ich habe das Gefühl, dass wir erst jetzt das ganze Ausmaß ihres Wirkens zu schätzen wissen", erklärte der nordirische Designer und Loewe-Creative-Director Jonathan Anderson dem "Guardian". Wie auch Westwood selbst haben viele der großen britischen Namen wie Stella McCartney und Victoria Beckham die Londoner Modewoche für Paris verlassen, wo sie die nötige Aufmerksamkeit für Marken ihrer Größenordnung erlangen können. "Ich glaube an eine schöpferische Zukunft für dieses Land, aber es wird eine Menge schwerer Arbeit erfordern", so Anderson über das Vereinigte Königreich und seine kleinere, etwas nischigere, rebellische Modewoche, auf deren Newcomer das Land setzt.
Conner Ives wurde bekannt mit seinen zweigeteilten T-Shirt-Kleidern und ist ein Meister, wenn es darum geht, nostalgische Mode aus den 1990er- und 2000er-Jahren zu zitieren. Der Central-Saint-Martins-Alumni hatte sich für seine zweite Kollektion unter eigenem Namen von Paul Thomas Andersons Film "Magnolia" (1999) inspirieren lassen, nach dem die Kollektion auch benannt war. "Was ich an diesem Film liebe, ist, dass er wirklich unglaubliche Facetten der Menschheit zeigt. Ich denke, die Arbeit mit der Idee einer Besetzung von Archetypen, die verschiedene Ideen repräsentieren, ist die Nische von Conner Ives, die ich nicht verlieren möchte."
So trafen sich in den 30 Looks eine "Soccer Mom" in hellgrauem Jersey-Kostüm mit "Proud Mom"-Print und Swarovski-Strass und ein an Kate Moss' Festival-Looks erinnerndes Ensemble mit gigantischer Fellweste. Die Braut war aus dem Film "The Parent Trap" (1998) entsprungen. Dazwischen fanden sich Conner-Ives-Classics wie lange Fransentops, Kleid-über-Jeans-Kombinationen und aus unterschiedlichen Materialien zusammengesetzte Slip-Dresses, die darauf aufmerksam machten, dass Ives nachhaltig arbeitet und kaum primäre Textilien einsetzt.
Eine Kirche scheint genau die richtige Kulisse für eine Simone-Rocha-Modenschau. Theatralisch, puppenhaft, barock und etwas sinister könnte man die Entwürfe der gebürtigen Irin nennen, deren Kollektionen oft auf traditionellen Feierlichkeiten und der Folklore ihrer Heimat basieren. Lughnasadh ist das dritte der vier großen irischen Feste, markiert den Herbstbeginn und war damit ein perfekter Inspirationsquell für Rochas Hebst-Winter-2023-Show, die in der Westminster Central Methodist Hall stattfand.
Ein roter Faden in Form von kleinen roten Schleifen unter den Augen, an den Ohren oder in der Drosselgrube der Models (die ertastbare Kuhle zwischen den Schlüsselbeinen) führte durch die Kollektion wie ein feines Rinnsal Blut. Bast wurde in transparente Röcke und Puffärmel gefüllt, staffierte sie aus, war zur Tasche und sogar ganzen Kleidern geflochten. Romantisch-prinzessinnenhaft begegneten sich bestickte und transparente Roben, kurzärmlige Spitzen-Hemden und aus Perlen geknüpften Krägen. Dagegen standen von Kopf bis Fuß schwarze Fusionen aus bodenlangem Rock und Oversized-Jacken an männlichen Models, schwarze Leder-Kostüme und Rochas bekannte Ballon-Kleider aus schwarzem Tüll.
Mowalola ließ den Albtraum aller Eltern wahr werden und tiefsitzende Jeans tatsächlich über die Boxershorts hinaus in die Kniekehlen rutschen. Oder eher gesagt Jeansröcke. Die halben, in der Mitte des Beines beginnenden Kleidungsstücke kombinierte die in Nigeria geborene Modedesignerin Mowalola Ogunlesi mit an MoMA-Merch erinnernde Hoodies, auf denen der Name des Museums jedoch durch "MoWA" ersetzt wurde.
Generell vibrierte die vom Big Apple inspirierte Kollektion vor New Yorker Referenzen: Logos von McDonalds und den Yankees fanden sich auf schräg sitzenden Caps und Gürtelschnallen. NBA und Marlboro-Zeichen zitierende Prints waren zu erspähen. Ein grünes Leder-T-Shirt glich dem Einband eines Passes der Vereinigten Staaten, auf provokanten Tanktops las man "Insert Disc here" mit einem Pfeil Richtung Schritt, auf einem anderen "Sue Me". "Es geht um den Zusammenbruch der Gesellschaft. Ich stelle mir vor, was die Menschen in der Endzeit tragen werden", erklärte die Designerin backstage. An Julia Fox erinnernde, den Torso entblößende Leder-Ensembles durften da genauso wenig fehlen wie bedruckte Hosen mit ausgeschnittenen Taschen, Oversized-Bomberjacken und bodenlange Bondage-Kleider. Als "den Inbegriff von Kultur" lobte Modekritikerin Kim Russel aka The Kimbino die 39 Looks.
Die Show, der wohl am stärksten entgegengefiebert wurde, war die von Burberry, unter der neuen Leitung von Daniel Lee. Nachdem der Creative Director das etwas eingestaubte italienische Modehaus Bottega Veneta zu einem der begehrtesten Marken gemacht hatte, sollte er nun den gleichen Prozess für das ebenfalls renovierungsbedürftige britische Modehaus einleiten. "Ich habe mir die drei wichtigsten Codes des Hauses angeschaut, nämlich das Karo, den Springer und die Gabardine, und versucht zu verstehen, wie wir uns inspirieren lassen können, um sie weiterzuführen“, erklärte der Designer gegenüber "Vogue Runway".
Was auf den ersten Blick wirkte, wie eine einmal quer durch ein Karo-Muster gezogene Herbst-Winter-Kollektion, enthielt viele Lee-typische Details, die den alten Kern der Marke auf moderne Art und Weise zu neuer Stärke mutieren ließen. Funktionalität, die Burberry laut Lee ausmacht, wurde gleich in den ersten zwei Looks in Form von in karierten Woll-Hüllen steckenden Wärmflaschen transportiert, dem unumstritten praktischsten Accessoire für die kalte Saison.
Daniel Lee ruhte sich keine Sekunde auf dem Steckenpferd-Trenchcoat des Haues aus, sondern präsentierte entspannte Silhouetten aus weit sitzender Hose mit Zip-Taschen und kariertem Strick, britsihness aufs Korn nehmende Fellhüte, einen Kleider und Jacken überziehenden Entenprint sowie ein Rosenmuster, das zu einem neuen Klassiker werden könnte. Die Highlights waren eine gehäkelte Entenmütze und die als Cape getragenen Wolldecken, vor allem aber ihr stechender Blauton, der wohl das Burberry-Blue werden könnte, was das Bottega-Green schon ist
Niemand versteht "Naked Dressing" so gut wie LVMH-Preis-Gewinnerin Nensi Dojaka. Berühmt wurde sie für ihre Kleider aus transparenten Lagen, die an den richtigen Stellen zur Undurchsichtigkeit gestapelt sind und bei denen meist ein wohlplatzierter Riemen für oder gegen die Tragbarkeit zu entscheiden scheint. Oft als Abendkleidung gelabelt, überraschte ihre Herbst-Winter-Kollektion mit erstmals gesehenen Denim-Details.
Selbst eine weinrote Jogginghose kombinierte sie mit einem durchsichtigen Rollkragen-Oberteil mit rosa BH-Aufsatz. Die in der Mitte der Show gezeigten Looks sprachen eine legerere Sprache – Catsuits, Ballerina-Leggings und dichte Materialien wie Samt deuteten einen möglicherweise zu erwartenden Themenwechsel an, eine Ära nach der Transparenz. Dojakas Inspiration ergibt sich nicht etwa aus vergangenen Dekaden oder Begegnungen auf Reisen – es geht ihr immer um den weiblichen Körper und die Psychologie hinter seiner kontrollierten Entblößung. Ein Spiel, das sie vor allem mit einem roten Cut-Out-Abendkleid an Model Mariacarla Boscono gewann.
Jonathan Anderson, der die Londoner Modewoche wiederbeleben will, ging mit gutem Beispiel voran. "Wenn ich alte Dinge sehe, hasse ich sie normalerweise, also war es schön zu versuchen, sie irgendwie zu verbessern", erklärte der Designer gegenüber "WWD". Also setzte er sich in seiner Herbst-Winter-Kollektion mit dem Archiv seiner seit 2008 bestehenden Marke JW Anderson auseinander und katapultierte ein Element aus jedem Jahr in die Jetztzeit.
Die Neuauflage wurde ein Dialog, da er seine Designs mit Farben und Formen aus dem Archiv einer seiner Helden paarte: dem Tänzer und Choreografen Michael Clark, der Popkultur und Performance miteinander vermischt und für seine modische Ehrung im Publikum saß. Die Schau begann mit Dudelsack-Musik, auf die Print-T-Shirts aus knittrigem Leder und bunte Lederhosen folgten.
Zwischen Muff und Tubetop schienen die folgenden Oberteile angesiedelt, in denen die laufenden Models ihre Hände auf Brusthöhe versteckten. Später wurden wulstige Federboas als Tutu und Peplum eingesetzt oder hingen um die Hälse, wurden bald von architektonischen, an den Hüften zur Seite ausgeklappten Anzügen abgelöst. Michael Clark wurde als grüner Schriftzug auf Tanktops und Sweatern verewigt, auf Taschen und in einem von Tesco-Tüten inspiriertem Trikotanzug, den Clark einst getragen hatte. In seinen Shownotes vermerkte Anderson: "Im Kern ist dies eine Kollektion übers Fan-Dasein. Fantum ist eine lustige Sache: völlig persönlich, oft irrational und oft peinlich."
Chet Lo, bekannt und geliebt für seine kreischenden Strick-Kollektionen, tauchte für die kommende Herbst-Winter-Saison in düsterere Farbwelten ab. Die drei von Kopf bis Fuß schwarzen Anfangs-Looks ließen nur an den 3D-Wollstacheln erkennen, dass es sich um Lo handelte. Farbtupfer waren allein die mit Lebensmittelfarbe eingefärbten Zungen der Models, die sie während der Show der Frontrow präsentierten.
Die dunklere Stimmung ergab sich aus zwei Gründen: Lo wollte seine Designs auch außerhalb einer Technoparty tragbarer machen, gleichzeitig waren bei ihm Depressionen diagnostiziert worden, eine Erkenntnis, die er auch in seinen Entwürfen verarbeitete. "Bioluminescence" war der Titel seiner Show, womit in der Biologie die Fähigkeit von Lebewesen bezeichnet wird, selbst oder mit Hilfe von Symbionten Licht zu erzeugen. Und so leuchteten auch die Looks immer stärker, je weiter die Präsentation voranschritt: Ein veilchenblauer Rock schlich sich die schwarze Masse, die Ärmel und der Bund eines Stachel-Pullovers schienen wie in rote Farbe getränkt worden zu sein, der Saum eines Kleides in ein tiefes Meeresblau.
Christopher Kane führte einen in diesem noch kurzen Jahr schon oft gesehenen Trend fort: Tiere. Ein Print aus abertausenden gelben Küken erstreckte sich über ein hoch geschlitztes Rollkragenkleid, schier unendlich viele pinke Schweine über ein weiteres. Den Abschluss der Kollektion bildete eine mit Ratten übersäte Version.
Für seine Kollektion zitierte der Designer Erinnerungen an seine Kindheit in Glasgow in den 1980er-Jahren, gerade die an die Frauen, mit denen er aufgewachsen war. Den Alltag der Arbeiterklasse, den er erlebt hatte, kreuzte Kane mit kindlichen Wahrnehmungen wie Blumen, die aus dem Asphalt hervorsprossen. Aus den Entwürfen hervor stachen die von hinten um den Hals führenden abstrakten Krägen, die Schultern und Dekolletee komplett frei ließen – auf ungewöhnliche Art und Weise sexy. Ein lieblicher Blumenprint verzierte dunkelgraue Bustierkleider und weiße Blusen. Lacklederne Peplum-Röcke und kurze Paillettenkleider sorgten für die richtige Balance zwischen städtischer Idylle und mondänem Großstadtdschungel.