Man kann sich auch mit der Schreibmaschine schuldig machen. Der Bundesgerichtshof in Leipzig bestätigte im August das Urteil im Fall der früheren Sekretärin am Konzentrationslager Stutthof. Irmgard F. leistete Beihilfe zum Mord in mehr als zehntausend Fällen, so lautete das Urteil des Landgerichts Itzehoe vom Dezember 2022. Die inzwischen 99-Jährige ging in Revision, allerdings ohne Erfolg. Das Urteil ist rechtskräftig: Zwei Jahre Jugendstrafe auf Bewährung, denn zur Tatzeit war sie zwischen 18 und 19 Jahre alt.
Der Fall Leni R. liegt ganz anders. Erstens müsste man von einer "Schneidetischtäterin" sprechen. Zweitens hat die Fotografin und Filmemacherin nichts von Konzentrationslagern und Massenmord gewusst – behauptete sie jedenfalls bis fast zuletzt. Sie ist nämlich drittens schon tot.
Leni Riefenstahl starb im September 2003 im Alter von 101 in ihrem Haus in Pöcking am Starnberger See. Bis auf ein paar "Fehler" in der Vergangenheit wollte sie sich nichts vorwerfen lassen. Sie war die einzige weibliche Regisseurin im "Dritten Reich", eine Künstlerin von Hitlers und mit Einschränkungen auch von Goebbels' Gnaden. Trotzdem galt sie, die 1952 nach vier Spruchkammerverfahren endgültig Entnazifizierte, nicht wenigen als Unschuld in Person. Mick Jagger, Andy Warhol, George Lucas, Quentin Tarantino, Jodie Foster oder Madonna brachten ihre Bewunderung zum Ausdruck. In einem "Emma"-Artikel von 1999 zeigte sich auch Alice Schwarzer begeistert von ihr. Gibt es die: Faschofeministinnen? War Magda Goebbels dann die Simone de Beauvoir des Führerbunkers?
Riefenstahl-Doppelstrategie
Wie kann das alles sein? Oder anders formuliert: Wie hat Riefenstahl das geschafft? Schließlich wusste die Scheinnaive sehr wohl, was sie wollte und tat. Zum ihrem Selbstentnazifizierungsprogramm gehörte auch immer: mächtige Bewunderer um sich scharen, Kritikerinnen ausschalten. Letztere hat sie, wenn irgend möglich, mit Unterlassungsklagen mundtot gemacht. Dass es diese Riefenstahl-Doppelstrategie gab, ist wahrscheinlich nichts Neues. Aber so richtig nachgedacht hat man darüber nie. Zeitweilig war sie unter dem Radar, dann wieder hip. Jetzt kommt ein Dokumentarfilm in die Kinos, der mit neuer Vehemenz nach Leni Riefenstahl fragt. Und der auch den heute Lebenden Fragen stellt: Wer wir sind, wie wir die Welt sehen, wie wir sein wollen.
Sechs Jahre hat Andres Veiel mit seinem Team an "Riefenstahl" gearbeitet. Was man dem Film – und das ist als Lob gemeint – nicht ansieht. Er ist ein Kunstwerk, das frei von Kunstanstrengung ist. Am Anfang des Projekts stand die unangenehme Einsicht der TV-Moderatorin und Journalistin Sandra Maischberger, dass auch sie sich von der liebenswürdigen Greisin hatte einwickeln und belügen lassen, wie die "Riefenstahl"-Produzentin am Rand einer Pressevorführung in Berlin erzählte. Da "viele Fragen offenblieben", bemühte sich Maischberger 2017 um den Nachlass in den 700 Kisten, die an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz überstellt worden waren. Sie bot der Stiftung eine aufwendige, von Fachleuten unternommene Inventur des Nachlasses an, um im Gegenzug einen Dokumentarfilm produzieren zu können. Schon 2018 stieg Andres Veiel, der schon 2017 mit dem Film über Kunst und Ökonomie "Beuys" überzeugte, in das Projekt ein.
"Sie war ein Genie, aber ein politischer Trottel"
Man gewinnt den Eindruck, dass schon die junge Riefenstahl von einem übermenschlichen Ehrgeiz getrieben war. Vom Ausdruckstanz über die Schauspielerei (in Arnold Fancks Bergfilmen) und die Spielfilmregie bis zum Dokumentarfilm probierte sie alles aus, was Erfolg versprach. Sie war nicht in allen Disziplinen von großem Talent gesegnet. Aber wenn Veiel sie in zwei Fotosequenzen als mit Filmstreifen hantierende Souveränin der Filmmontage zeigt, wird deutlich, dass in der Organisation von Material wahrscheinlich ihre Stärken lagen. Außerdem hatte sie einen guten Blick für das Talent der anderen, vor allem der Kameraleute. Aus dem Feld des "Dokumentarischen" zeigt Veiel dann auch die längsten Ausschnitte: Aus "Triumph des Willens" – vom Nürnberger Parteitag 1935 – und aus dem zweiteiligen "Olympia"-Projekt, das während der Spiele 1936 in Berlin gedreht wurde. Nur: Ausgerechnet diese technisch und ästhetisch gelungensten Riefenstahl-Filme sind gleichzeitig natürlich hochproblematisch, weil sie Teil der NS-Propagandamaschine waren.
Ohne ihre Hitler-Begeisterung ist Leni nicht zu haben. Vom "Führer" hat sie sich nie distanziert, und so blieb sie auch in der Nachkriegszeit dem Nationalsozialismus treu. Dies aber in einer verschlagenen Art und Weise, die der Zeit angepasst war, die jedes öffentliche Wort abwägte und sich in Talkshows und Interviews gerne zum Verleumdungs-Opfer stilisierte. Riefenstahls zahlreichen aus dem Nachlass zutage beförderten Mitschnitte von Telefongesprächen – in denen sie viel moralische Unterstützung und Applaus von Ewiggestrigen bekommt – gewähren einen mitunter bestürzenden Einblick in ihr Mindset und die Resonanz, auf die Riefenstahl bauen konnte.
"Sie war ein Genie, aber ein politischer Trottel", befand der irische Filmexperte Liam O’Leary. Die 2022 verstorbene Filmemacherin und Autorin Nina Gladitz, die Riefenstahl mit ihrem Buch "Karriere einer Täterin" ein vernichtendes Zeugnis ausstellte, drehte das Zitat um: "Keine Ausnahmekünstlerin, aber ein politisches Genie". Doch: Hätte sie als vermeintlich langfristige Taktikerin die vielen Zeugnisse ihrer faschistischen Weltanschauung nicht aus dem Nachlass tilgen müssen?
Leni, die Täterin
Sie hat ihre Vergangenheit schöngefärbt, Lügen erzählt, Menschen fürchterlich ausgenutzt. Aus dem Schicksal des Filmemachers und Fotografen Willy Zielke wird bei Nina Gladitz fast eine Verschwörungserzählung. Nach Gladitz soll Riefenstahl erst die Karriere des Konkurrenten zerstört haben, um sich dessen beachtliche Skills im weiteren Verlauf der NS-Zeit zunutze zu machen; sie habe dafür gesorgt, dass der seelisch labile Mann in die Mühlen der Psychiatrie geriet, gleichzeitig aber sichergestellt, dass er für Riefenstahls Zwecke verfügbar blieb. Hier fällt die Beweisführung streckenweise lückenhaft aus.
Keine Zweifel bleiben aber in der Causa der von Riefenstahl für den "Tiefland"-Dreh aus dem "Zigeuner"-Lager Maxglan bei Salzburg ausgewählten und als Statisten missbrauchten Sinti und Roma. Später behauptete die Regisseurin, sie hätte alle nach Kriegsende wiedergesehen – in Wahrheit wurde mehr als die Hälfte ihrer "Schützlinge" ermordet. Gladitz drehte unter Mitwirkung der Opfer den Dokumentarfilm "Zeit des Schweigens und der Dunkelheit", der nach einer Ausstrahlung 1982 im Giftschrank des WDR verschwand, inzwischen kann man den tief bewegenden Film auf Youtube anschauen.
Leni, die Täterin. Veiel lässt "Tiefland" und das Schicksal der betroffenen Familien in natürlich nicht unerwähnt. Vor allem aber nimmt "Riefenstahl" die Ereignisse in Konskie in Polen unter die Lupe, wo sie als Leiterin eines "Sonderfilmtrupps" 1939 (nicht nur) Augenzeugin eines der ersten Wehrmachtsverbrechen wurde. Sie bestritt das, aber Fotos, die Riefenstahl mit schreckgeweiteten Augen zeigen, beweisen, dass sie dabei war, als Juden auf dem Marktplatz erschossen wurden. Veiel geht aber noch weiter, indem er einen weiteren Zeugen zitiert, der gehört haben will, dass Riefenstahl beim Dreh auf dem Marktplatz gerufen haben will, die Juden – Leute, die sie nicht in der Filmaufnahme haben wollte – müssten "weg". Es ist denkbar, dass die Filmemacherin das Massaker auf diese Weise mit ausgelöst hat.
In Herrenmenschen-Attitüde
"Riefenstahl" ist ein Film, der seine Hauptfigur keineswegs aus dem Sicherheitsabstand einer Guido-Knopp-Doku betrachtet. Er holt sie vielmehr in die Gegenwart. Das ausgewählte Material wirkt oftmals wie ein Spiegel aktueller Ereignisse. Wenn Rudolf Hess im "Triumph des Willens" etwa sagt, "der Führer ist unser Garant des Friedens", sind auch Putins Angriffskrieg und die häufig verdrehten Diskurse neueren Datums gemeint. Ebenso diskutiert "Riefenstahl" auf dem Feld des Postkolonialismus mit. Ab 1962 reist Riefenstahl mehrmals in den Sudan zum Volk der Nuba, um vor allem die kräftigen Krieger und junge, schöne Frauen vor die Linse zu bekommen. Mit seltenen Dokumentarszenen zeigt Veiel die Regisseurin in Herrenmenschen-Attitüde, wenn sie zum Beispiel ihre Modelle mit einem Stock traktiert, um bestimmte Bilder von ihnen zu bekommen.
Im Kern von "Riefenstahl" geht es um einen pervertierten Schönheitsbegriff, der die Kehrseite des Schönen, Überlegenen und Siegreichen – das vermeintlich Unwerte, Kranke, Schwache und auch das Fremde ausblendet. Nach diesem Prinzip lässt sich auch über die NS-Zeit wohlwollend hinwegsehen, um sie als "Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte" (Alexander Gauland) zu marginalisieren. Doch "Riefenstahl" zieht noch größere Kreise, obwohl die Gegenwart, ihre Trends und Krisen auf den ersten Blick in Andres Veiels meisterhaftem Dokumentarfilm keine Rolle zu spielen scheint.
Angesichts eines Outtakes aus "Speer und Er. Nachspiel – die Täuschung" von Heinrich Breloer, in dem die greise Jahrhundertfigur laut über faltenmildernde Lichtsetzung nachdenkt, könnte man von ihrem Werk aus, das nicht zuletzt in ihrem "Olympia"-Film den Kult um perfekte Körper zelebriert, durchaus Parallelen zu Instagram-Filtern, Schönheitswahn und Bodyshaming ziehen. Leni Riefenstahl ist womöglich nicht unschuldig daran, dass das Schöne aus der Trias des Wahren, Schönen und Guten ausgebrochen ist.
Die gedankliche Verbindung zwischen Schönheitskult, Ausgrenzungsphantasien und Überlegenheitswahn sollte uns große Sorgen bereiten, weil sie immer weitere Kreise zieht. Gerade das vorgeblich "Unpolitische" macht die Riefenstahl-Ästhetik so gefährlich. In Wahrheit ist sie hochpolitisch. Ohne einen direkten, im Film sichtbaren Kontext herzustellen – es ist immer besser, das Publikum selber Schlüsse ziehen zu lassen – verbindet Andres Veiel "Riefenstahl" mit Putin, Trump, Höcke. Der Fall Irmgard F. ist mit dem Urteil in Leipzig abgeschlossen. Der Prozess um Leni R. geht in eine neue Runde.