Beim Eintreten machen alle Besucherinnen und Besucher dieselbe - orthopädisch nicht ganz gesund aussehende - Bewegung. Der Blick geht nach oben, der Kopf in den Nacken, und manchen steht tatsächlich der Mund offen. Aus einem Getreidesilo in der südnorwegischen Küstenstadt Kristiansand ist eine Betonkathedrale geworden. Das Architekturbüro Mestres Wåge mit Sitz in Oslo und Barcelona hat in Kooperation mit den Firmen Mendoza Partida und BAX Studio den Großteil der inneren Struktur aus dem denkmalgeschützten Gebäude am Hafen herausgeschnitten. An der Decke des rund 20 Meter hohen Foyers sind noch die Reste der durchtrennten Zylinder des Silos zu sehen, die wie eine brutalistische Wabenstruktur in den Raum ragen. Um die zentrale Halle herum erheben sich drei Stockwerke mit offenen Galerien, die auf jeder Höhe andere Blickachsen durch das Haus eröffnen - und die nebenbei auch die Ausstellungen des neu eröffneten Museums beherbergen. Doch nach diesem eindrucksvollen architektonischen Auftakt fällt es fast ein wenig schwer, sich auf die Kunst zu konzentrieren.
Wenn es um spektakuläre Kulturbauten geht, kann man Norwegen gerade eine gewisse Manie attestieren. In Oslo haben seit 2021 das ausladende Munchmuseet und das noch größere neue Nasjonalmuseet eröffnet. Und nun hat auch das rund 300 Kilometer weiter südlich gelegene Kristiansand einen Anziehungsort für Architekturenthusiasten und Kunstpilgerinnen.
Das Kunstsilo auf der Insel Odderøya erfüllt alle Anforderungen an ein neues Wahrzeichen und prägt die Silhouette des sonst eher bescheiden auftretenden Ortes schon jetzt. Aus dem wellenförmig verglasten Dachgeschoss schweift der Blick über den Fjord und das benachbarte Konzert- und Kulturhaus Kilden. Auf der anderen Seite des Museums entstehen luxuriöse Wohnungen, teils mit eigenem Bootsanleger. Ähnlich wie in Oslo ist der Bau des neuen Kunstquartiers also mit der Gründung eines ganzen Stadtviertels verbunden, das sicher nicht zu den ärmsten des ohnehin gut situierten Landes gehören wird. Auch der Containerhafen, auf dem derzeit noch geschäftig gearbeitet wird, soll verlegt werden.
Apropos Geld: Das inhaltliche Herz des Museums ist die Sammlung des norwegischen Finanzmanagers und Chefs des staatlichen Ölfonds Nicolai Tangen, die vor allem aus Werken des nordischen Modernismus besteht. 2015 vermachte der Multimillionär einen Großteil seiner Schätze seiner Heimatstadt. Das Kunstsilo mit seinen Baukosten von rund 60 Millionen Euro (ein fast bescheiden klingender Betrag, wenn man die 600 Millionen Euro für das geplante Berlin Modern dagegenhält) ist nun ein privat-öffentlicher Gemeinschaftskraftakt, für den auch Steuergeld verwendet wird. Nicht alle im 100.000-Einwohner-Städtchen Kristiansand waren von dem Geschenk begeistert, das die Gigantisierung der norwegischen Kunstwelt weiter vorantreibt. Schon vor der Eröffnung wurden Bedenken laut, dass der kulturelle Mittelbau zunehmend hinter den großen Vorzeigeprojekten zurückstecken müsse.
Kein Munch, nirgends
Was in der ersten Ausstellung des Kunstsilos zu sehen sein würde, war für viele Norweger eine Überraschung - denn was genau Nicolai Tangen über Jahrzehnte zusammengesammelt hatte, war größtenteils unbekannt. Obwohl das Museum noch zwei weitere regionale Sammlungen beherbergt (Sørlandssamlingen und Christianssands Billedgalleri) und künftig auch Kooperationen eingehen will, konzentriert sich die erste Schau "Passions of the North" ganz auf die Tangen-Werke. Gut 600 Gemälde, Fotografien und Skulpturen wurden aus dem Bestand ausgewählt und geordnet nach Stil und Epochen auf die Etagen verteilt. Ausgehend von einem "Tivoli"-Gemälde des Norwegers Reidar Aulie aus den 1930er-Jahren wurde außerdem ein sehr aufwendig produzierter, aber auch etwas spektakeliger Videoraum geschaffen.
Wer nun die ganz großen Namen der nordischen Moderne wie Edvard Munch, Hilma af Klint oder Akseli Gallen-Kallela erwartet, dürfte enttäuscht werden. Denn anders als bei der Architektur geht es bei der Bestückung des Hauses nicht um Blockbuster. Die meisten Künstlerinnen und Künstler der Ausstellung dürften außerhalb ihrer Herkunftsländer nur einem sehr engagierten Fachpublikum bekannt sein. Positionen wie Hreinn Friðfinnsson, Elina Brotherus, Asger Jorn und die Cobra-Gruppe, Anna-Eva Bergman oder Hannah Ryggen sind zwar renommiert; dass die internationalen Kunsttouristen dafür aber in Scharen nach Kristiansand pilgern, wie es sich die Verantwortlichen zu wünschen scheinen, kann man sich derzeit nur schwer vorstellen.
Die interessante Kehrseite dieser Ausstellung ist, dass es viel zu entdecken gibt - zum Beispiel Schlüsselwerke der norwegischen Konzeptkunst wie das "Gjerdeløa"-Projekt von Marianne Heske: Dafür nahm die Künstlerin 1980 eine traditionelle norwegische Holzhütte auseinander und setzte sie auf der Biennale in Paris wieder zusammen. Obwohl das logistische Mammutunterfangen eigentlich als temporäre Performance geplant war, stehen die Hütte und ein Abguss des Baus aus Kunstharz nun äußerst pittoresk und museal vor den nackten Betonwänden des Kunstsilos.
Was genau ist das Nordische?
Die übrigen, weniger raumgreifenden Exponate sind nicht nach den Herkunftsländern ihrer Schöpferinnen und Schöpfer sortiert, was für viele skandinavische Besucher eine neue Erfahrung ist. Bisher haben die Museen in Dänemark, Schweden, Norwegen, Island und Finnland die Kunstgeschichte vor allem unter nationalen Gesichtspunkten betrachtet. Hier soll hingegen die Idee einer nordischen Moderne etabliert werden, die grenzüberschreitend funktioniert.
Was jedoch genau dieses "Nordische" sein soll, das die Künstlerinnen und Künstler verbindet, bleibt in der Ausstellung vage. Denn ganz nüchtern betrachtet haben sie zunächst nur gemeinsam, dass sie in der selben Privatsammlung zu finden sind. Viele Positionen bewegen sich innerhalb der gängigen stilistischen Kategorien, die es auch im Rest Europas gibt. Man findet Kubismus, Surrealismus, Expressionismus, Informel und konkrete Kunst - mal in hervorragender Qualität, mal als eher bemühte Picasso- oder Bacon-Imitationen.
Am regional spezifischsten sind die Werke, die sich mit politischen Themen auseinandersetzen. Auf Gemälde-Clustern, die in Petersburger Hängung präsentiert werden, sieht man Matrosenaufstände, die Industrialisierung Skandinaviens und gleichzeitig die bittere Armut, die lange in den heute florierenden Hauptstädten herrschte. Auch die deutsche Besatzung während des Zweiten Weltkriegs wird thematisiert, außerdem die Verbindung zur Seefahrt und die Domestizierung sowie Glorifizierung der rauen Natur.
Ausstellung als Wunderkammer
Von solchen Bildern, an denen tatsächlich Gemeinsamkeiten und Unterschiede der nordischen Erfahrungshorizonte festgemacht werden könnten, hätte man gern mehr gesehen. Zumal, weil eine Privatsammlung naturgemäß blinde Flecken hat und beispielsweise die Kunst der indigenen Sámi aus dem Norden Skandinaviens nur ganz am Rande vorkommt. Doch es scheint, als wolle das Museum erst einmal zeigen, was es alles hat. Die Erforschung der Sammlung soll nach und nach erfolgen, die ersten Konferenzen sind bereits geplant. Insofern liefert das Kunstsilo vorerst keine tiefergehenden Antworten zur nordischen Moderne, vielmehr stellt es die Frage, ob und in welcher Form es diese überhaupt gibt.
Das kann man inhaltlich für eine so pompöse Eröffnung eines so potenten Hauses etwas dünn finden. Aber eine Ausstellung als Wunderkammer bietet gleichzeitig auch die Möglichkeit, aus ihr nach und nach Erkenntnis zu gewinnen. Eine der schwierigsten Aufgaben des Kunstsilos dürfte sein, internationales Publikum anzuziehen und trotzdem auch die regionalen Sammlungen zu ihrem Recht kommen zu lassen, damit der schicke Silo-Bau kein Fremdkörper in der norwegischen Kulturszene bleibt. Der Standort am Hafen ist dabei eigentlich keine schlechte Voraussetzung. Von der gläsernen Dachterrasse überblickt man die gesamte Stadt, aber auch das weite Meer bis zum Horizont.