Als vor knapp zwei Monaten in Istanbul das private Kunstmuseum Istanbul Modern der Industriellen-Familie Eczacıbaşı mit einem weithin gerühmten Bau des italienischen Architekten Renzo Piano neu eröffnet wurde, war die Stimmung am Bosporus noch bestens. Wenige Tage nach dem Wahlsieg von Recep Tayyip Erdoğan feierte die liberale Kunstöffentlichkeit in einem Akt von beschwingtem Eskapismus einen ihrer letzten verbliebenen Fixpunkte. Nun droht am Bosporus eine kulturpolitische Kernschmelze.
Begonnen hatte der Kunst-Gau, als die private Istanbuler Kultur- und Kunststiftung IKSV (die ebenfalls den Eczacıbaşıs gehört) bekanntgab, die 1955 geborene, Londoner Kunstwissenschaftlerin, Kuratorin und Kritikerin Iwona Blazwick zur Kuratorin der 18. Istanbul-Biennale im September 2024 zu ernennen. Was wie eine gute Entscheidung aussah: eine Frau, noch dazu mit einer beeindruckenden Vita von der Tate Modern über die Whitechapel Gallery bis zur Chefin des Public Art Panel der Royal Commission of AlUla in der gleichnamigen saudi-arabischen Wüstenoase. Doch die Berufung entpuppte sich schnell als intransparenter Willkürakt.
Insider wussten schon Monate vorher, dass Blazwick der Frau vorgezogen worden war, die das Advisory Board der IKSV der Stiftung als neue Kuratorin vorgeschlagen hatte: die in Deutschland geborene, in Berlin lebende türkisch-niederländische Kuratorin Defne Ayas. An kuratorischer und intellektueller Brillanz steht Ayas, Jahrgang 1976, ihrer Londoner Kollegin in nichts nach. Biennalen von Gwangju über das Baltikum bis Shanghai pflastern ihren Weg. In ihren sechs Jahren als Direktorin des Rotterdamer Kunstinstituts Witte de With setzte sie eine kontrovers diskutierte Dekolonisierung des renommierten Kunsthauses durch. Seit 2019 heißt es Melly: Der Name einer jungen Arbeiterin asiatischer Herkunft auf einem Bild des Künstlers Ken Lum ersetzte den Namen des Kolonialoffiziers, nach dem das Institut zuvor benannt war.
Unerhörter Vorgang
Ayase sitzt in den Advisory Boards renommierter Häuser wie dem Stedelijk in Amsterdam oder dem Istanbuler Sabancı-Museum. Und sie hat Erfahrung mit der IKSV. 2015, im Jahr der 100. Wiederkehr des Völkermords an den Armeniern, kuratierte sie den Künstler Sarkis im türkischen Pavillon auf der Venedig-Biennale mit der Ausstellung "Respiro". Weil Rachel Dink, die Witwe des 2007 ermordeten, armenischen Journalisten Hrant Dink in ihrem Katalog-Essay das Wort "Genozid" erwähnte, ließ das türkische Kulturministerium die Verbreitung der Publikation stoppen. Sarkis verarbeitete die verbliebenen Exemplare zu einem Kunstwerk. Obwohl bislang von der Stiftung nicht öffentlich bestätigt, liegt der Verdacht nahe, dass die IKSV Ayas ablehnte, weil sie es von vorne herein ausschließen wollte, dass sich ein Eklat wie damals wiederholen könnte.
Teile der Ausstellung von 2015 sind derzeit in einer von dem Kurator Emre Baykal kuratierten Sarkis-Retrospektive im Istanbuler Arter-Kunstmuseum zu sehen. Ayas selbst bereitet derzeit unter dem Titel "7 Tage, 7 Nächte" eine weitere Ausstellung des Künstlers in der Kunsthalle Baden-Baden vor, die Ende Oktober eröffnet. Das ambitionierte Profil Ayas‘ dürfte der Grund dafür gewesen sein, dass sich das Advisory Board im Januar 2023 einstimmig für sie und ihren eingereichten Biennale-Vorschlag entschied. Seine Mitglieder: Die Istanbuler Kuratorin Selen Ansen vom Arter Kunstmuseum, der spanische Kurator Agustín Pérez Rubio, der Künstler Sarkis Ruben, die Kuratorin Yuko Hasegawa und: Iwona Blazwick. Doch die IKSV weigerte sich, Ayas zu akzeptieren.
Der unerhörte Vorgang: Blazwick, schon in den Jahren 2015, 2017, 2019 und 2022 Mitglied des Advisory Board, wurde vom Direktorium der IKSV zur Kuratorin ernannt, nachdem es das unbotmäßige Gremium aufgelöst hatte, das, bis auf Hasegawa, aus Protest gegen die Nichtberücksichtigung von Ayas zurückgetreten war. Als Blazwick die Berufung annahm, fiel sie dem Board, dem sie selbst angehörte und Ayas empfohlen hatte, somit in den Rücken. Die IKSV, die die Entscheidung listig in der Sommerpause bekanntgegeben und den Rücktritt der Board-Mitglieder nie öffentlich kommuniziert hatte, hatte jedoch offenbar nicht mit der wachen Kunstszene gerechnet.
Prinzipienlose Fehlentscheidungen
Künstlerinnen und Künstler wie Köken Ergun, die Kuratorin und Kunsthistorikerin Duygu Demir oder die Documenta-Teilnehmerin Banu Cennetoğlu bemängelten in den sozialen Medien, dass die IKSV zum ersten Mal in ihrer Geschichte nicht die Namen der Jury veröffentlichte. "Könnte es sein, dass sie (Blazwick, Red.) sich selbst berufen hat? Ist das ein Muster?" – so oder ähnlich lauten die Tweets und Posts.
Ins Visier der Kritik an den prinzipienlosen Fehlentscheidungen der IKSV geriet dabei auch der Fall von Esra Sarigedik Öktem. Die Istanbuler Kunsthistorikerin, die sich nach langen Jahren als Direktorin der mondänen Istanbuler Galerie Rampa mit dem Bürosarigedik selbstständig gemacht hatte, war als Kuratorin des türkischen Pavillons für die Venedig-Biennale auserkoren worden. Nach Füsün Onur 2022 sollte mit Gülsün Karamustafa im nächsten Jahr eine weitere der legendären Leitfiguren der modernen türkischen Kunst in der Lagunenstadt vorgestellt werden.
Dass eine Galeristin eine von ihr vertretene Künstlerin "kuratiert", war an sich schon eine falsche Entscheidung, selbst wenn Öktem von Karamustafa selbst nominiert worden war. Dass die Stiftung in ihrer Pressemitteilung zu der Personalie die kommerzielle Tätigkeit Öktems, die jedem bekannt war, noch nicht einmal erwähnte, schlug dem Fass aber den Boden aus.
Ebenso autoritär wie der Staatschef
Dass Öktem vor wenigen Tagen angesichts des immer heftigeren Biennale-Streits den Fehler im letzten Moment selbst erkannte und per Instagram-Post aus ihrem Urlaubsort Bodrum ihr Mandat aus Sorge um einen Interessenskonflikt und im "Bewusstsein für die Präzedenzfälle und Vermächtnisse, die wir künftigen Generationen hinterlassen" niederlegte, half ihr zwar selbst. Auch wenn sie kurze Zeit später mit der nachgereichten Erklärung Verwirrung stiftete, ihre Entscheidung sei nicht als Kritik an der Ayas-Entscheidung zu verstehen. Jedenfalls vergrößerte das nur die kunstpolitische Kernschmelze am Bosporus.
Wenige Monate vor ihrer Eröffnung standen plötzlich die beiden Prestigeobjekte der IKSV auf der Kippe. Und eine Institution hatte sich ins Abseits manövriert, die, obwohl vom Geld teils problematischer Großindustrieller finanziert, für die türkische Kunstszene von zentraler Bedeutung ist. Das geschieht in einer Zeit, in der die Regierung immer stärker Druck auf kritische Kunstschaffende ausübt. "In der Türkei wurzeln Forderungen nach institutioneller Transparenz in der Furcht, vor einem allgegenwärtigen Schweigen, das das Land bald in Geiselhaft nehmen könnte" erläutert der türkische Kunstkritiker Kaya Genç seine Kritik des Vorgangs.
Mit der intransparenten Entscheidung der IKSV agierte diese ebenso autoritär wie der Staatschef, der nach Belieben Spitzenbeamte, etwa in Museen oder Universitäten, einsetzt oder feuert. Erst kürzlich ernannte Erdoğan den Urheber des Kinderliedprojektes "Opa Tayyip lebe hoch" zum Generaldirektor der Abteilung Schöne Künste in seinem Palast.
Zu radikal?
In dem öffentlichen Streit kulminiert der seit Jahren aufgestaute Unmut über Bige Örer. Viele machen die Direktorin der Istanbul-Biennale für die opake power politic des Hauses verantwortlich. Dass Örer, bislang selten als Kuratorin in Erscheinung getreten, selbst die Füsün-Onur-Ausstellung "Once upon a time…" in Venedig 2022 kuratiert hatte, hatte schon damals für Stirnrunzeln gesorgt. Blazwick gilt als gute Bekannte von Öger, die zwar der Istanbul-Biennale vorsteht, einen Großteil ihrer Zeit aber in ihrem Wohnsitz in London verbringt. Sollte die nächste türkische Biennale, so fragten viele sarkastisch, auf dem kurzen Dienstweg in Großbritannien vorbereitet werden?
Intrigen, Personalmauscheleien und Seilschaften gehören im internationalen Kunstbetrieb zum Alltag. Was den Istanbuler Streit über die Stadt hinaus exemplarisch macht, ist der eklatante Mangel an Transparenz und Berechenbarkeit: Tugenden, die Museen und Biennalen im Rahmen der neuen Diskussion über Macht und Herrschaft im Kunstbetrieb von sich selbst verstärkt einfordern.
Die Reaktion der IKSV, sie sei eine private Stiftung, die sich nicht rechtfertigen müsse, ist zwiespältig. Es stimmt, dass nirgendwo in ihrer Satzung steht, dass die Empfehlungen des Advisory Boards für ihre Gremien bindend wären. Angesichts der fehlenden öffentlichen Kunst- und Kulturpolitik erfüllt sie aber mit ihrem weitgespannten Programm quasi öffentliche Aufgaben und erhält teils öffentliche Förderung. Ihr ethische Standards und Transparenz im Umgang mit Künstlerinnen und Kuratoren und Programmentscheidungen abzuverlangen, ist daher alles andere als unbillig, zumal es der Regierung gerade daran oft fehlt.
Offenbarungseid dieser Institution
Der Eklat ist auch ein Beispiel dafür, wie sich Kunstinstitutionen nicht den Schneid abkaufen lassen sollten. Die 1987 gegründete Biennale, neben dem renommierten Jazz-, Film- und Theaterfestival eines der vielen von der IKSV geförderten Kulturevents, hat sich spätestens seit den "Orient/ations"-Biennalen von René Block 1995 oder der Ausgabe von Vasıf Kortun und Charles Esche 2005 einen Ruf als eine besonders experimentelle, kritische und eigenwillige Biennale erworben. Wenn es stimmt, was kolportiert wird, dass Defne Ayas von der IKSV abgelehnt wurde, weil sie sie als "zu radikal" ansah, lässt sich das getrost als Offenbarungseid dieser Institution werten. Biennalen wurden nicht erfunden, um auf Nummer sicher zu gehen.
Seit Jahr und Tag wird auch Kritik an der Zurückhaltung der Stiftung zu aktuellen Streitfragen geübt. Zensur und Repression gegen Künstlerinnen im eigenen Land waren ihr bislang keine ihrer zahlreichen Pressemitteilungen wert. "Was hat die IKSV eigentlich für Osman Kavala oder Cigdem Mater getan?" fragt Defne Ayas im Gespräch. Sie spielt damit auf den Fall des seit sechs Jahren inhaftierten Kunstmäzens und Gründers der Stiftung Anadolu Kültür, Osman Kavala und der türkischen Filmproduzentin Cigdem Mater an, die 2018 als eine von 13 sozialen Aktivistinnen verhaftet worden war.
Der nie substantiell belegte Vorwurf: Versuchter Sturz der Regierung. Weder von der Stiftung noch von den vielen Wirtschaftsbossen im blauen Zwirn, die sich auf Pressekonferenzen gern als "Main Sponsors" der Künste gerieren, war jemals ein Wort der Solidarität mit dem Millionärskollegen Kavala zu vernehmen.
Zweifelhaftes politisches Signal nach Saudi-Arabien
Stattdessen gibt die IKSV mit der Berufung von Iwona Blazwick ein zweifelhaftes politisches Signal nach Saudi-Arabien, wo die Kuratorin mit ihrer Funktion in AlUla seit 2022 die "Vision 2030" mit umsetzen hilft, mit der Kronprinz Mohammed bin Salman, der saudi-arabische de-facto-Herrscher sein Land reformieren will. Rockkonzerte, Formel-Eins-Rennen, Fußball und vor allem die Bildende Kunst spielen darin eine entscheidende Rolle.
Der politische Bann, mit dem der Kronprinzen international einige Jahre wegen seiner mutmaßlichen Auftraggeberschaft für den Mord an dem saudischen Blogger Jamal Kashoggi 2018 in Istanbul belegt worden war, lockert sich: in der Politik, aber auch im Kunstbereich. Jüngstes Beispiel: Das Museum für Moderne Kunst, welches das Pariser Centre Pompidou in AlUla mit aufbauen helfen soll. Wer fungiert als zentrale Ratgeber bei dem Prozess? Iwona Blazwick.
Ob die IKSV es intendierte oder nicht. Ihre Entscheidung transportiert einen Anschein von Opportunismus gegenüber einem potenten neuen Player der internationalen Kunstwelt. Nicht zufällig legte Staatschef Erdoğan höchstpersönlich bei einem Besuch im Juli seinen Zwist mit bin Salman wegen der Khashoggi-Ermordung bei und verhandelte mit den Saudis über finanzielle Unterstützung für seinen maroden Staatshaushalt. Die IKSV steht nicht für die Kunst der Türkei, die derzeit einen kleinen Boom an unabhängigen Art Spaces erlebt. Ihrer Szene brachte der Eklat aber die frustrierende Erkenntnis, dass im Kern einer ihrer wichtigsten Zentren wahlweise eine Art organisierte Verantwortungslosigkeit oder eine große Hasenfüßigkeit herrscht. So stehen jetzt alle Beteiligten vor einem großen Scherbenhaufen. Wer vermag, ihn zusammenzukehren?
Forderung nach Ethik-Kodex
Hätte Beral Madra, die zornige Grande Dame der Kunstszene, die die ersten zwei Istanbul-Biennalen Ende der 1980er-Jahre kuratierte, diese Autorität? Mit den Jahren ist die großbürgerliche Kunsthistorikerin zu einer immer kompromissloseren Kritikerin des oligarchengestützten Kunstsystems geworden. Könnte es Vasıf Kortun sein, der legendäre Matador der 1990er, der zusammen mit seinem intellektuellen Kompagnon Erden Kosova die Grundlagen für das international gepriesene Kunstwunder am Bosporus in den 2000er Jahren legte?
Von dem Öko- und Intellektuellen-Retreat Ayvalık an der westtürkischen Ägäis-Küste, in das Kortun sich nach seinem nicht ganz freiwilligen Abschied aus der Kunstinstitution Salt 2017 resigniert zurückgezogen hatte, ließ er wissen, er sei "schockiert", dass bisher nur Weiße und niemand etwa vom Balkan oder aus dem südmediterranen Raum die Biennale kuratiert hätten. Ein Verdikt, dass freilich auch auf Defne Ayas zutreffen würde.
Wird es die Transparenzinitiative um den Video-Künstler Köken Ergun und die (ehemalige Salt-)Kuratorin Merve Elveren sein, die sich aus Anlass des Skandals gebildet hat? Die beiden fordern von der IKSV einen Ethik-Code, der besagt, dass vormalige Board-Mitglieder sich nicht mit einem Vorschlag als Kuratorinnen bewerben können.
Wer will den Dialog führen?
Viel Erfolg dürfte ihrer Hoffnung nicht beschieden sein, dass der "Dialog darüber in den kommenden Jahren" weitergeht. Wer will ihn führen? Die jüngere Kuratorinnengeneration hat sich längst den anatolischen Staub aus den Kleidern geschüttelt und arbeitet lieber in Frankfurt, London oder San Francisco. Oder wird es am Ende Recep Tayyip Erdoğan sein, der grimmige Kurator des Autoritären?
Schon vor ein paar Jahren beklagte der Staatschef, seiner Regierung sei nicht in gleichem Maße in der Kultur gelungen, was er politisch und ökonomisch durchgesetzt habe. Jetzt hätte er die Gelegenheit, das Defizit wettzumachen.
Wird RTE, so wird der Präsident in der Alltagssprache in der Türkei gern abgekürzt, die Gunst der Stunde und die momentane Schwäche der IKSV nutzen, um die Verantwortung für den türkischen Pavillon auf der Venedig-Biennale - ein nicht zu unterschätzender Markstein der kulturellen Repräsentation des Landes nach außen - von der Stiftung in die Obhut des Ministeriums für Kultur und Tourismus zu übertragen, das daran bislang nicht beteiligt ist? Es würde ihn nur die Unterschrift unter eines seiner berühmten Dekrete kosten.