2019 schuf das zerstörerische Werk von Wasser, Feuer und menschlicher Gewalt ein neues Bewusstsein vom Wert kulturellen Erbes. Während der Kultursektor sonst in Rechtfertigungsdruck gerät, sobald er bei der Verteilung von Geldern in Konkurrenz zu anderen Wohlfahrtsbereichen tritt (Was ist mit Kita-Plätzen, was mit Krankenhausbetten?), brachten die jüngsten Katastrophen seine ganze identitätsstiftende Kraft zum Vorschein.
Nach dem Brand der Pariser Kathedrale Notre-Dame spendeten nicht nur Tycoone wie Pinault und Arnault für das über 850 Jahre alte gotische Bauwerk, sondern auch Normalverdiener. Staatschef Emmanuel Macron versprach eilfertig, die Kirche bis 2024 wieder aufzubauen. Auch als im November Flutwelle um Flutwelle Venedig überschwemmte, war die Bestürzung über die Bilder der Zerstörung allgegenwärtig. Und als am 25. November Juwelen aus dem Grünen Gewölbe in Dresden gewaltsam entwendet wurden, nannte Sachsens Innenminister Roland Wöller die Tat einen "Anschlag auf die kulturelle Identität aller Sachsen und des Freistaats Sachsen insgesamt". "Nicht nur die Staatlichen Kunstsammlungen wurden bestohlen, sondern wir Sachsen!", stimmte auch Ministerpräsident Michael Kretschmer mit ein.
Man kann sich wie Jan Böhmermann über dieses Pathos lustig machen. Aber dennoch erinnert dieses Entsetzen an ein häufig übersehenes öffentliches Gut, das nicht nur den Sachsen oder der Nation gehört, sondern – leider kommt man kaum um Pathos herum – der Menschheit. Und es erinnert daran, dass vermeintlich Ewiges nicht außerhalb der Zeit existiert.
Wird genug getan? Hermann Parzinger, Chef der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, forderte nach dem Einbruch ins Grüne Gewölbe eine Taskforce für mehr Sicherheit in Museen. Drei Wochen zuvor schlugen deutsche Museumsdirektorinnen und -direktoren in einem offenen Brief eben ein solches Instrument vor, nur für mehr Nachhaltigkeit in Museen: eine Taskforce, die sich einzig den klimapolitischen Herausforderungen in Ausstellungshäusern widmet.
Wir wissen zu wenig darüber, was mit dem Klimawandel auf das Kulturerbe zukommt und wie wir Vorsorge treffen können. Es fehlen in Deutschland Studien und Forschungsstellen zu diesen Fragen. Wir müssen Prioritäten klären: Was wollen wir auf alle Fälle schützen, auf was können wir zur Not verzichten? Was müssen wir wie dokumentieren? Und wie rekonstruieren wir zerstörtes Kulturerbe: möglichst originalgetreu oder von der Gegenwart aus gedacht?
2019 mit seinen dramatischen Katastrophenbildern können wir als Warnung verstehen, uns mit diesen Fragen endlich zu beschäftigen. Die neue EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nannte dann auch das Beispiel Venedig-Flut, als sie Klimaschutz zum "existenziellen Thema für Europa und die Welt" erklärte. Darauf bezog sich wiederum der katholische Patriarch von Venedig, Francesco Moraglia, in seinem Weihnachtsbrief und schlug vor, die Lagunenstadt zum Sitz für eine internationale Agentur zur Erforschung des Klimawandels zu machen. Die Stadt erlebe täglich die Fragilität und die Leiden durch die globalen Veränderungen.
Kulturelles Erbe hat die Fähigkeit, uns nicht nur an unsere Vergangenheit zu erinnern, sondern auch an die Zukunft.