Kürzungen im Kulturetat

Das Berliner Kettensägenmassaker

Demonstration des Bündnisses "Unkürzbar" gegen die geplanten Sparmaßnahmen im Kulturetat, Berlin-Mitte, Sonntag, 15. Dezember
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Demonstration des Bündnisses "Unkürzbar" gegen die geplanten Sparmaßnahmen im Kulturetat, Berlin-Mitte, Sonntag, 15. Dezember

Wer die neoliberale Zerschlagung von sozialen Systemen beklagt, muss gar nicht bis zu Javier Milei oder Elon Musk schauen. Auch die spektakulären Kulturkürzungen in Berlin sind Zeichen eines Paradigmenwechsels

Mehr Javier Milei und Elon Musk wagen. Auf dieses Kürzel ließ sich bringen, was Christian Lindner Anfang des Monats im "Handelsblatt" zu Protokoll gab. Dabei hätte der FDP-Chef gar nicht bis ins ferne Amerika schauen müssen, als er seinen Neid über die "disruptive Energie" der wildgewordenen Deregulierer artikulierte, die öffentlichen Ausgaben und Behörden mit der Axt zu Leibe rücken wollen.   

Denn da ist ganz in der Nähe das spektakuläre 130-Millionen-Spar-Fallbeil in der Kultur, mit dem der schwarz-rote Senat in Berlin in einer Hau-Ruck-Aktion die Kulturszene in der deutschen Hauptstadt aufgemischt hat wie seit 1993 nicht mehr, als der damalige Kultursenator Ulrich Roloff-Momin das Schillertheater schloss. Die Pläne erinnern verdächtig an das Kettensägemassaker, mit dem der rechtslibertäre argentinische Staatspräsident gerade den Sozialbereich und die Kulturszene seiner Heimat zu Kleinholz verarbeitet.

Die derzeit zu hörende Beschwichtigung, dass der politisch unerfahrene Berliner Kultursenator Joe Chialo, der medienkompatible Grüßaugust der örtlichen Beton-CDU um den Spandauer Kunstignoranten Kai Wegner, ja nicht wisse, wie man Politcoups parlamentarisch raffiniert einfädelt, greift zu kurz - so wie bei seinem Vorschlag, die Berliner Landesbibliothek in das Kaufhaus Galleries Lafayette in der Berliner Friedrichstraße umzutopfen. Ja, die aktuelle Kürzungsliste ist im Detail nicht auf Cialos Mist gewachsen – entschieden hat sie die Koalitionsspitze offenbar ohne ihn und über seinen Kopf hinweg, wie der CDU-Politiker bei einer Diskussion mit Carolin Emcke in der Berliner Schaubühne berichtete. Doch wer sich so ausbooten lässt, hat sein Ressort definitiv nicht genügend verteidigt. Widerstand ist nicht spürbar.

Wer oder was soll eigentlich diese Exzellenz sein?

Schon seit seinem Amtsamtritt hatte der ehemalige Metal-Sänger und Türsteher mit den Vokabeln "Exzellenz", "Wettbewerb" und "Eigenverantwortung" um sich geworfen, mit denen er die Kulturszene dieser Tage zur Weißglut treibt. Immer ohne genau zu sagen, wen und was er damit eigentlich meint. Die Berliner Symphoniker? Die Berlinische Galerie? Sicher nicht Thomas Kilppers exzellenten Artspace After the butcher im weniger coolen Lichtenberg.

Aufhorchen ließ auch Chialos Satz, die kulturellen und wirtschaftlichen Aspekte müssten "noch besser miteinander verheiratet werden". Berlins Clubszene, die Gaming-Branche, Theater oder Museen wolle er zukünftig zusammendenken und so die "Kulturhauptstadt nach vorn bringen". Stand das international bejubelte Kunst- und Kultureldorado mit einer geschätzten Population von 8000 Künstlerinnen und Künstlern etwa hinten an? 

Damals hatte man solche Sprüche noch für die unvermeidliche Marotte eines Neulings gehalten, der irgendwie Terrain und eine eigene Idee markieren muss, um ernst genommen zu werden. Ein Echo ähnlicher Floskeln aus der Zeit von Klaus Wowereits Kulturstaatssekretär Tim Renner klang an: Der war Musikmanager wie Chialo, nur etwas verstrubbelter als der stets cool gewandete Nachfolger. 

Vergessen sind alle Parolen

Die Berliner Sehnsucht nach Exzellenz ist keine Erfindung von Chialo. Renner hatte 2015 aus der von der Szene heiß geliebten Volksbühne mit dem polyglotten Kunstkurator Chris Dercon einen interdisziplinären, international strahlenden Event-Schuppen machen wollen. Mit seiner umstrittenen Personalie hatte er dem damals schon taumelnden Castorf-punchbag einen Schlag verpasst, von dem er sich bis heute nicht erholt hat. 

Vergessen sind nun alle Parolen wie "Kultur ist die Schwerindustrie Berlins". So störrisch Chialo sich trotz des größtmöglichen Widerstandes gegen seine Pläne und offenkundigen Widersinns im Detail als De-Industrialisierer gebärdet, muss man vermuten, dass es genau darum geht: Eine Neuordnung des Kulturbereichs unter neoliberalen Vorzeichen. 

Der Regierende Bürgermeister spielt die Hochkultur der Oper populistisch gegen die Supermarkt-Kassiererin aus, als ob die nicht von den heruntersubventionierten Eintrittspreisen profitierte; CDU-Finanzsenator Evers klagt über den "unendlichen Strom an Subventionen in den Kulturbereich", Chialo bemüht das angeblich erfolgreiche Geschäftsmodell des privaten Clubs Berghain, der die Pandemie nicht etwa dank BMW überlebte, sondern weil Chialos Vorgänger Klaus Lederer von der Linkspartei Covid-Knete locker machte.

Eignungstest für die Operation Merz

Es ist ein unverfrorener survival-of-the-fittest-Zynismus. Chialo will einer Szene, die auf der Basis des strukturellen Prekariats - vulgo: Selbstausbeutung - arbeitet, erst den finanziellen und infrastrukturellen Boden unter den Füßen und das Atelier-Dach über dem Kopf wegziehen und dann auch noch mehr Leistung einfordern.

Derlei Sprüche sind nicht nur ein Beleg für das grundlegende Unverständnis verantwortlicher politischer Akteure, das System immaterieller Kreativ- von der Wertschöpfung industrieller Arbeit zu unterscheiden. Sie sind ein Indiz für einen Paradigmenwechsel. 

Chialos beharrlich vorangetriebene Berliner Flurbereinigung war der Eignungstest für die Operation Blackrock-Merz im kommenden Frühjahr. Die ihm nachgesagten Ambitionen auf das Amt des Kulturstaatsministers im Bund hat der sonst nicht mundfaule Joe nie dementiert.

Kritik, aber auch Inklusion und Partizipation

Wer so rüde den eintrittsfreien Museumssonntag und die Plattformen streicht, die für kulturelle Bildung sorgen, die das kulturferne, diverse Publikum an die Institutionen heranführen, radiert nicht nur das sichtbare Erbe des beliebten Klaus Lederer aus, der der Berliner Kulturbehörde erstmals seit Jahrzehnten wieder ein eigenständiges, progressives Profil gegeben hatte.

Er leitet auch Wasser auf die Mühlen der AfD, die vor genau einem Jahr die Streichung genau dieser Einrichtungen beantragt hatte. Und er will ganz offenbar einen Schlussstrich unter das Prinzip "Kultur für alle" ziehen: Jener epochalen Aufgabe, die der legendäre Frankfurter Kulturdezernent und SPD-Mann Hilmar Hoffmann, der Gründer der Oberhausener Kurzfilmtage, Mitte der 1970er-Jahre in der Mainmetropole mit seiner aufsehenerregenden Kulturpolitik auf die Tagesordnung setzte. 

Das weltweit bewunderte Museumsufer am Main, vom Filmmuseum bis zum progressiven Historischen Museum, vom Kommunalen Kino bis zum Mitbestimmungsmodell am Schauspiel Frankfurt unter dem Brecht-Schüler Peter Palitzsch – all diese Frankfurter Leuchttürme waren nur der sichtbare Ausdruck einer Idee, die auf Kritik, aber auch Inklusion und Partizipation setzte. 

Alles andere als berlinspezifisch

Im Gleichklang mit dem ultraprogressiven hessischen Kultusminister Ludwig von Friedeburg, einem ehemaligen Direktor des zuvor von Theodor W. Adorno geleiteten Frankfurter Institutes für Sozialforschung, verstand sie Kultur als öffentliche Daseinsvorsorge. In dem emanzipatorischen Sinne der Beförderung einer allseits gebildeten, ästhetisch produktiven Persönlichkeit. 

Fast alle Großstädte in der alten Westrepublik kopierten diese Frankfurter Schule. Ihre kulturelle Hegemonie war so groß, dass selbst der konservative CDU-Politiker Walter Wallmann, der die jahrzehntelange SPD-Hochburg 1977 für die Union eroberte, sie samt ihrem Urheber in der Stadtregierung hielt. Hoffmann katapultierte sein "Kultur für alle"-Ruhm 1993 schließlich an die Spitze des Goethe-Instituts.

Wenn am Donnerstag dieser Woche das Berliner Abgeordnetenhaus den Haushalt für das kommende Jahr beschließt, geht es auch um die Zukunft dieser nie endenden, alles andere als berlinspezifischen, vielmehr zutiefst humanistischen, universalistischen Idee. Deren Bedeutung nimmt in einer Gesellschaft, die seit Hilmar Hoffmanns Zeiten noch größer und noch diverser geworden ist, eher zu als ab.

Siechtod der Avantgarde

Es ist ein Trauerspiel, dass sich die (nicht nur Berliner) SPD angesichts dieses Richtungsentscheids in Schweigen hüllt oder hinter Kindergärten und Polizeiwachen an Berlins Kottbusser Tor verschanzt; gerade die Partei, die auf dem Wege des Massenstreiks, vor allem aber aus der Arbeiterkulturbewegung des 19. Jahrhunderts heraus zur politischen Kraft wuchs, . 

Programmatisch wie kulturpolitisch ist die Partei der Intellektuellen wie Carlo Schmidt und Willi Eichler, in der ein Mann wie der ehemalige Berliner Wissenschaftssenator Peter Glotz 1983 das SPD-Kulturforum aus der Taufe hob, gleichsam scheintot, in Berlin im Speziellen mausetot. Nur der Kulturforums-Vorsitzender, der Hamburger Kultursenator Carsten Brosda, war "fassungslos", dass der SPD-Koalitionspartner in der Hauptstadt Kunst und Kultur derart breitflächig abmäht. 

Jedenfalls: Die hiesige Szene beschwört zu Recht die kulturelle Verarmung der Stadt. Eine, in der die Komische Oper mit dreistelligen Millionenbeträgen weiterrenovieren darf, aber Avantgardepole wie das Künstlerhaus Bethanien, das Zentrum Kunst und Urbanismus, der mustergültig critty politti Schinkelpavillon und das Savvy Contemporary, Bonaventure Ndikungs in jahrelanger Kleinarbeit aufgebauter postkolonialer Artspace, dem Siechtod preisgegeben werden. Diese Orte bringt Chialo nicht "voran", er reißt sie ein.

Kultur ist ein Wert an sich

Die Szene sollte sich aber dringend von der defensiven, das senatorische Exzellenz-Gefasel nur legitimierenden Argumentation verabschieden, Kultur sei ein wachstumsfördernder Standortfaktor, toller Tourismusgenerator und unentbehrlicher Kitt des "gesellschaftlichen Zusammenhalts". Seit anderthalb Jahren rätselt die Stadt, was die zwiespältige Formel, die der Senator seiner Kulturbehörde anhängte, bedeuten könnte. Die Kunst muss vielmehr in die Offensive gehen. Kultur, daran musste ausgerechnet die frühere CDU-Kulturstaatsministerin Monika Grütters erinnern, ist zuallererst ein "Ausdruck von Humanität". Sie ist ein Wert an sich – jenseits ihrer Rolle als Katalysator irgendeiner "Umwegrentabilität". 

Kunst ist kein Exzellenz-Cluster für’s McKinsey-Rating. Van Gogh war nie auf so etwas albernes wie "Exzellenz" aus. Seine pastosen, zu Lebzeiten samt und sonders unverkäuflichen Obsessionen, die die Kunstwelt heute so bewundert und selbst als Seidenschals erwirbt, haben sich nie "gerechnet". Seine Kritik der Arbeiten des Pariser Salons 1885 offenbarte die Triebkraft dieses malerischen Überzeugungstäters: "Sie geben mir nichts zu fühlen oder zu denken, weil sie offenbar ohne eine gewisse Leidenschaft gemacht sind". Die creative industries, die heute viele fälschlich für die wahre Kunst halten, schöpfen diese kreativen Urkräfte nur ab.

Vor allem sind aber Kunst und Kultur, daran erinnern Christoph Schlingensiefs Aktionskunst und Milo Raus politisches Theater, Ai Weiweis Anklage-Installationen und Yael Bartanas Verwirrspiele der Erinnerung, der geistige Sprengsatz, der eine Gesellschaft verwirren und provozieren, sie anstoßen will, sich selbst zu reflektieren. 

Wozu braucht eine Gesellschaft Kunst und welche?

Für den Erhalt dieser kritischen, demokratischen Ressource, die jedermann und -frau auf dem Planeten und nicht nur in Berlin zugänglich sein sollte und deren kreative und reflexive Potenzen entfalten hilft, lohnt sich der größtmögliche (Protest-)Einsatz. 

Gerade zu Zeiten, in denen die Internationale der Autokraten ihren "disruptiven Politikwechsel" weg von der Demokratie, hin zur völkischen Kultur durchdrücken will, wäre es umso dringlicher, die lange vernachlässigte Debatte voranzutreiben: Wozu braucht eine Gesellschaft Kunst und welche? Was heißt und zu welchem Ende betreiben wir eigentlich Kulturpolitik?