Dafür, dass die "Mona Lisa" inzwischen rund 520 Jahre alt ist und seit über zwei Jahrhunderten in einem Museum angestarrt wird, macht sie immer noch überraschend viele Schlagzeilen. Gerade hat ein italienischer Kunsthistoriker behauptet, er wisse nun endlich, vor welcher Brücke in der Toskana da Vincis "La Gioconda" so verschmitzt vor sich hinlächle. Und am gestrigen Dienstag landete die wohl berühmteste Porträtierte der Kunstgeschichte sogar in den internationalen Twitter-Trends, weil ein User verkündete, dem "Rest" des Gemäldes auf die Spur gekommen zu sein. Wer dem eher ungewöhnlichen Phänomen auf den Grund gehen wollte (Twitter interessiert sich in Sachen Kunst normalerweise allerhöchstens für Documenta-Skandale und NFT-Drops), landete schnell bei einem sehr zeitgenössischen Phänomen: Künstlicher Intelligenz und ihrer Fähigkeit, fiktive Bilder herzustellen.
Vor einigen Tagen hat auch der Softwarekonzern Adobe neue KI-Features seines Programms Photoshop veröffentlicht. Eines davon wurde vollmundig als "magisch" und eine "Sensation" angekündigt. Die Funktion "Generative Fill" kann Bildausschnitte spekulativ erweitern, sodass sich die Algorithmen sozusagen "vorstellen", wie es jenseits der Fotoränder weitergehen könnte.
Dieses visuelle Fabulieren nutzten techaffine Menschen dann wiederum, um berühmte Gemälde "komplettieren" zu lassen. Am meisten Aufsehen erregte besagte "Mona Lisa", die auf der KI-optimierten Version plötzlich nicht mehr die dominante Figur vor ein bisschen Himmel und Felsen ist, sondern fast unauffällig in einem Postkartenpanorama aus Berggipfeln, Flussschlingen und Schäfchenwolken sitzt. Man kann natürlich darüber staunen, wie künstliche Intelligenz inzwischen gefällige Landschaftsmalerei imitieren kann (auch wenn es da Vinci bei genauerer Betrachtung des virtuellen Pinselstrichs wohl gegruselt hätte und der Unterleib der Figur in diffusem braunen Schlamm feststeckt).
Doch statt großer Ehrfurcht ruft die smarte "Mona Lisa" eher Ernüchterung hervor. Den "Rest" von einem Kunstwerk zeigen zu wollen ist ganz einfach die falsche Frage, schließlich gibt es nicht umsonst so etwas wie Komposition und die Entscheidung eines Künstlers für einen ganz bestimmten Bildausschnitt (die "Mona Lisa" ist sogar ein Schulbuchbeispiel für den besonders harmonischen "Goldenen Schnitt"). Und selbst, wenn es eine solche Erweiterung geben sollte, wählt die KI hier treffsicher die langweiligste aller Möglichkeiten: noch mehr von dem, was schon da ist. Wenn die Maschine doch wenigstens verraten würde, was die Geheimnisvolle zum Lächeln bringt! Wenn sie ihre Präferenz in puncto Schuhmode zeigen könnte! Doch alles, was dem Originalgemälde Spannung und Anziehungskraft verleiht, verschwimmt im seichten Genuschel des Hintergrunds.
Spannender ist es da schon, der KI nur einen Teil eines Kunstwerks vorzusetzen und das "Vorstellungsvermögen" der Algorithmen mit dem des Künstlers zu vergleichen. Twitter-Nutzer Maddox hat das mit dem Gesicht der "Mona Lisa" probiert - und ziemlich groteske Ergebnisse zwischen Historienporno und Gruselkabinett erzielt. Das Magische an "Generative Fill" ist also nicht, dass das Tool menschengemachte Motive expandiert, sondern dass aus dem Zusammenspiel von Künstlern und KI etwas Entstehen kann, was irritiert und uns im besten Fall etwas über Bilder im Allgemeinen beibringen kann. Was offensichtlich nicht schaden kann, denn inzwischen kursiert im Netz auch ein KI-generiertes "Foto" von Leonardo Da Vinci und seinem Modell, das von einem Unbekannten im Atelier des Malers aufgenommen sein soll. Das Datum ist 1504.