Künstlerin Julie Wolfthorn

Ein Blick, der durch Jahrhunderte geht

Anfang des 20. Jahrhunderts war die Malerin Julie Wolfthorn eine prägende Figur des Kulturlebens, dann wurde sie von den Nazis deportiert und starb 1944 im Ghetto Theresienstadt. Nun ist ihr erstaunliches Werk endlich wieder in Berlin zu sehen

Julie Wolfthorns Werke sind erstaunlich. Ob in dem sorgfältig ausgearbeiteten Ölgemälde "Mme. Yvonne Wilhelm", in der mit schnellen Pinselzügen in Öl auf Pappe gefertigten Arbeit "Besuch (Li und Finck)" oder in der zarten Kreidezeichnung "Carl Eduard Eeg als Gitarrenspieler": Die von ihr porträtierten Personen machen den Eindruck, als würden sie in der nächsten Sekunde aus dem Bildraum heraustreten, in dem sie scheinbar nur für einen kurzen Augenblick verweilen. 

Und dann ist da bei jedem ersten Blick auf ein Porträt ein kurzer Moment der Überraschung, der einen überkommt, wenn man einer Person unerwartet begegnet. Er ist dem Erschrecken ähnlich. Die Dargestellten sind so präzise, so charakteristisch wiedergegeben, dass man meinen möchte, diese Menschen des letzten und vorletzten Jahrhunderts zu kennen, ihre Gesichtszüge schon hundertmal gesehen zu haben, ihre Bewegungen vorhersagen zu können. Ja, so lebendig sind Wolfthorns Porträts, ganz gleich, ob sie in Öl auf Leinwand, als Aquarell oder als Lithografie gearbeitet sind.

Vieles lässt sich über ihr Werk sagen (das neben den Porträts auch Akte, Landschaftsszenen und Gebrauchsgrafik umfasst): über den virtuosen Einsatz der Farbe, der den Bildern Tiefe verleiht und die Motive geradezu leuchten lässt, über die Lebendigkeit der Plein-Air-Arbeiten, über die verschiedenen Stile, denen Wolfthorn sich virtuos bedient. Mal impressionistisch, mal expressiv, mal dem Jugendstil, mal der Neuen Sachlichkeit zugewandt. Aber irgendwann bleibt ein Rest, der sich nicht in Worte fassen lässt. Das ist dann das Staunen.

Ausbildung an der "Berliner Mal- und Zeichenschule für Damen"

Die Ausstellung "Vergessen Sie uns nicht – Julie Wolfthorn zurück in Berlin" im Verein der Berliner Künstlerinnen präsentiert nun anlässlich des 160. Geburts- und 80. Todestages zahlreiche Werke der Malerin und Grafikerin und gibt einen Einblick in die Geschichte dieser besonderen Frau und ihres besonderen Werkes. Kuratiert wurde die Schau von der Kunsthistorikerin und Wolfthorn-Expertin Heike Carstensen, die in ihrer 2011 veröffentlichen Dissertation "Leben und Werk der Malerin und Graphikerin Julie Wolfthorn (1864-1944). Rekonstruktion eines Künstlerinnenlebens" ein Werkverzeichnis aufstellte.

Julie Wolf wird 1864 in der westpreußischen Stadt Thorn als fünftes Kind in eine jüdische Familie geboren (um sich von den vielen Künstlern gleichen Namens abzuheben, wird sie später ihren Nachnamen um ihren Geburtsort erweitern und diesen auch nach der Heirat mit dem Maler und Kunstschriftsteller Rudolf Klein im Jahr 1904 behalten). Nach dem Tod ihrer Eltern wächst sie ab dem siebten Lebensjahr bei ihrer Großmutter auf, die 1883 mit den Kindern nach Berlin zieht. Hier nimmt Julie um 1890 ihre Studien der Malerei und Grafik auf. 

Da es Frauen zu diesem Zeitpunkt (und bis 1919) nicht erlaubt ist, an staatlichen Kunstschulen zu studieren, ist ihre Ausbildung anderweitig organisiert: Zunächst nimmt sie Privatunterricht in Berlin, dann lernt sie ab Anfang der 1890er-Jahre in der Académie Colarossi in Paris sowie in der Künstlerkolonie Grez-sur-Loing. Ab 1895 besucht sie die Berliner Mal- und Zeichenschule für Damen von Curt Herrmann.

Engagement für Künstlerinnenrechte
 
Mitte der 1890er -Jahre beginnt sie in Berlin und München auszustellen, es folgen Präsentationen in Hamburg, Weimar, Mannheim und Darmstadt sowie in weiteren deutschen Städten und im Ausland. Im Sommer 1897 arbeitet sie in der Künstlerkolonie in Worpswede; es ist das Jahr ihres beruflichen Durchbruchs, den sie mit einem lebensgroßen Pastell ihrer Freundin Ida Dehmel erzielt. (Die Arbeit kann aufgrund ihres Zustands nicht reisen und ist nicht in der Ausstellung zu sehen.)
 
Als beflissene Netzwerkerin und engagierte Künstlerin ist sie Mitglied zahlreicher Vereinigungen, in denen sie sich früh für Frauenrechte engagiert. Sie kämpft für den Zugang von Frauen zum Kunststudium, für die Verbesserung der Situation von Künstlerinnen und die Professionalisierung des Berufs. Unter anderem ist sie Mitglied und Vorständin im Verein der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin sowie im 1913 von Käthe Kollwitz mitbegründeten deutschlandweiten Frauenkunstverband. Ende 1903 eröffnet sie ein Atelier für Mal- und Zeichenunterricht, das vermutlich bis 1912/1914 existiert. 

1905 gründet sie mit 11 weiteren Künstlerinnen, darunter Käthe Kollwitz und Sabine Lepsius, die erste überregionale weibliche Ausstellungsgemeinschaft, die Verbindung Bildender Künstlerinnen Berlin-München, um innerhalb der marginalisierenden Kunstwelt Ausstellungsmöglichkeiten für Frauen zu schaffen. Die Gründerinnen nennen die Verbindung das "weibliche Pendant" zur Berliner Secession, zu deren Gründungsgemeinschaft Wolfthorn neben vier weiteren Künstlerinnen im Mai 1898 ebenfalls gehört.

Ein Teil des Werks wurde unsichtbar

Ab 1897 veröffentlicht Wolfthorn regelmäßig in der bedeutenden Münchener Kulturzeitschrift "Jugend". Sie ist nun nicht nur Teil des reformerischen Berliner Kunst- und Kulturlebens, sondern prägt es aktiv mit. Sie ist Anfang des 20. Jahrhunderts eine der gefragtesten Künstlerinnen, porträtiert zahlreiche Personen der damaligen gehobenen Gesellschaft: den Dichter und Schriftsteller Richard Dehmel sowie seine Frau Ida, die Schriftstellerin Hedwig Lachmann, den Politiker und Schriftsteller Gustav Landauer und die Verlegerin Marta Baedeker. 

Letztere scheint sich jedoch nicht ganz wohl damit gefühlt zu haben, das Werk einer jüdischen Künstlerin zu besitzen. Die untere Kante der Leinwand ihres Porträts war eingeknickt und auf den Keilrahmen genagelt, sodass Wolfthorns Signatur nicht zu sehen war. Erst bei der Restaurierung 2016 kam sie wieder ans Licht. Der Blick auf die Arbeit "Marta Baedeker" (um 1929), die Teil der Ausstellung ist, veranschaulicht, dass für diese Vertuschung ein nicht unerheblicher Teil des Werks unsichtbar gemacht wurde.
 
Die Wandtexte, die vielen der gezeigten Werke beigefügt sind, verweisen auf den schrittweisen Prozess der Aufarbeitung eines Oeuvres, das lange in Vergessenheit geraten war. So wurde beispielsweise das Ölgemälde "Bildnisstudie Blauer Hut" (undatiert) 2008 aufgerollt in einem Berliner Keller gefunden. Das verschollen geglaubte Porträt "Mme. Yvonne Wilhelm" (um 1929) tauchte erst im März 2014 in einer Pariser Galerie auf, wo es zum Verkauf angeboten wurde.

Brüche in einer Künstlerinnenkarriere
 
Der Bruch in ihrer Rezeption setzt mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten ein. 1933 erhält sie mit dem Ausschluss aus der Reichskammer der bildenden Künste Ausstellungsverbot, dem ab 1939 ein Berufsverbot folgt. Vermutlich 1938 fertigt sie das Porträt "Frau im grünem Kleid" an, das ebenfalls in der Ausstellung zu sehen ist. Es zeigt Paula Lutze, die Ehefrau des Stabchefs der SA und Reichsleiters der NSDAP Viktor Lutze. 

Wie es zustande kam, dass Wolfthorn die Frau eines hochrangigen Nationalsozialisten porträtierte, konnte bisher nicht recherchiert werden. Weiterhin hing bis in den Sommer 1943 eines ihrer Bilder im Reichministerium des Innern, das das Kultusministerium in der Zeit des Ersten Weltkriegs angekauft hatte. Der Verbleib der Arbeit ist nicht geklärt.

Trotz des Arbeitsverbots unterrichtet Wolfthorn auch nach 1939 weiterhin und stellt im Rahmen des Kulturbundes Deutscher Juden aus, bis dieser 1941 verboten wird und seine Mitarbeitenden verhaftet werden. Lange weigert sie sich, zu fliehen. Erst 1938, nach den November-Pogromen, kann sie sich dazu entschließen, ihre Heimat zu verlassen. Doch es ist zu spät, eine Ausreise ist nicht mehr möglich. 

"Vergessen Sie uns nicht!"

Als sie 1942 ihren Deportationsbescheid erhält, versteckt und verteilt sie ihre Bilder. An ihren Freund, den Architekten Carl Eeg, von dem zwei Darstellungen in der Ausstellung zu sehen sind, schreibt sie am 17. Oktober 1942: "Heute sende ich Ihnen den letzten Gruß. Wir warten hier auf d. Abtransport nach Theresienst. u. sind beinah zufrieden, endlich d. Ungewissheit los zu sein. Vergessen Sie uns nicht." 

Wenige Tage später wird sie, 78-jährig, zusammen mit ihrer Schwester Luise Wolf, mit der sie die meiste Zeit ihres Lebens zusammenlebte, zunächst in ein Berliner Sammellager und dann ins jüdische Ghetto Theresienstadt deportiert. Luise stirbt kurz nach der Ankunft, Julie überlebt zwei Jahre, in denen sie ihre Arbeit so weit wie möglich fortsetzt. Sie stirbt am 29. Dezember 1944. 

Dass diese Künstlerin der sogenannten "Verlorenen Generation" erst jetzt wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangt, liegt zum einen an dem Versäumnis der kunsthistorischen Forschung, die diese bedeutende Künstlerin zu lange ignorierte. Ein zweiter Grund ist die Tatsache, dass ihr Oeuvre aufgrund der Verfolgung durch die Nationalsozialisten und der daraus resultierenden Emigrationsbewegungen teilweise zerstört und zu einem großen Teil verschollen ist. Von den in Carstensens Veröffentlichung aufgelisteten 499 Werken sind 100 Bilder in Privatbesitz und um die 40 in öffentlichen Institutionen. Der Verbleib des Restes ist ungeklärt. Es gibt also viele gute Gründe, die Ausstellung "Vergessen Sie uns nicht – Julie Wolfthorn zurück in Berlin", schnellstens zu besuchen. Sie läuft noch bis zum 26. Mai im Verein der Berliner Künstlerinnen 1867 in Schöneberg.