Galerist gegen Schriftsteller

Im Spiegelkabinett der Kunst

Der Berliner Galerist Johann König will einen Roman verbieten lassen, weil er sich darin wiedererkennt. Literatur steht vor dem Richter. Doch das Recht sollte der Kunst dienen. Und beide sind der Wahrheit verpflichtet

Die Wahrheit über die Wahrheit herauszufinden ist schwierig: Um einen Wahrheitsbegriff wird eifrig und seit Jahrtausenden gestritten. Richter sollten indes ein pragmatisches Verhältnis zur Wahrheit haben, sie können sich Grundlagengrübeleien nicht leisten. Die Wahrheit zu finden, muss immer möglich sein, denn Menschen sind geschädigt und Urteile müssen gesprochen und gut gerechtfertigt werden. Die Mühlen der Justiz mahlen bekanntlich langsam, und Skeptizismus wäre Sand in den Mahlwerken.

Dichter haben ein anderes Verhältnis zur Wahrheit. Ihnen geht es nicht um eine Übereinstimmung des Geschriebenen mit der Wirklichkeit. Ein literarischer Text ist keine Urteilsbegründung. Auch Literaten wollen vielleicht etwas beweisen. Doch sie suchen eine andere Wahrheit, eine abstraktere. "Literatur ist ein Spiegelkabinett aus Realität und Fiktion", schrieb Maxim Biller einmal im Streit um seinen autobiografischen Roman "Esra". Dessen Veröffentlichung wurde 2003 kurz nach dem Erscheinen untersagt, weil eine Ex-Freundin und ihre Mutter sich in dem Werk wiedererkannten. Der Verlag ging gegen dieses Urteil an, bis zum Verfassungsgericht – doch "Esra" blieb verboten.

An den exemplarischen Fall erinnern sich jetzt wieder viele, denn der Berliner Galerist Johann König und seine Frau Lena glauben, dass Figuren in dem Roman "Innerstädtischer Tod" von Christoph Peters Ähnlichkeiten mit ihnen haben, sie sehen deshalb ihre Persönlichkeitsrechte verletzt und streben eine einstweilige Verfügung gegen den weiteren Vertrieb des bereits im September erschienenen Buches an. Wieder kollidieren zwei Welten, Recht und Kunst. Es wird um Persönlichkeitsrechte, um die Freiheit der Kunst, um die vernünftige Abwägung zwischen beiden gestritten. Das Landgericht Hamburg wird entscheiden müssen, bis zu welchem Grad Romanen die Spiegelung der Wirklichkeit erlaubt ist. 

Eine Distanz, die einen neuen Blick ermöglicht

"Literatur ist ein Spiegelkabinett" – Maxim Billers Bild trifft es gut: Die durch Literatur gespiegelte Realität wird zur Fiktion.  Literatur ist ein Spiegel, die dargestellten Figuren, die Handlung, der Erzähler sind Spiegelbilder. Die Lesenden erfahren neue Wahrheiten in diesen Bildern – über die Wirklichkeit und über sich. Sie gewinnen Abstand zu seinem Alltag, sie vermögen, von sich selbst abzusehen. Eine Distanz, die einen neuen Blick ermöglicht.

"Innerstädtischer Tod" erzählt von dem ambitionierten Künstler Fabian Kolb, der eine Ausstellung in der renommierten Berliner Galerie Konrad Raspe vorbereitet, die den Durchbruch bringen soll. Doch vor der Eröffnung wird der Galerist plötzlich mit schweren Vorwürfen ehemaliger Mitarbeiterinnen konfrontiert. 

Auch Johann König sah sich Vorwürfen ausgesetzt: 2022 ist in der "Zeit" ein Artikel erschienen, in dem mehrere Frauen teils anonym von übergriffigen Verhalten und sexueller Belästigung durch den Galeristen Johann König berichten. Der bestreitet die Vorwürfe und erwirkte mehrere einstweilige Verfügungen gegen die Zeitung, der Artikel ist mit Änderungen und Streichungen jedoch weiter verfügbar. In dem jetzt von König und der mittlerweile selbst berühmten Anwaltskanzlei Schertz Bergmann eingereichten Antrag gegen "Innerstädtischer Tod" werden "ausnahmslos alle Passagen, die sich um das Ehepaar Raspe, Fabian Kolb und die Galerie drehen, moniert", schreibt der "Tagesspiegel", etwa dass Konrad Raspes Galerie wie die König Galerie ihren Sitz in einer aufgelassenen Kirche hat. Oder dass Lena König wie die Galeristenfrau im Roman tatsächlich älter ist als der Galerist, zwar nur neun Monate und nicht wie im Roman fast zehn Jahre.

Kunst ist geschützt, weil ein abstraktes Verhältnis zur Wahrheit hat

Vor Gericht muss nun entschieden werden: Wie viele Leser dürfen die realen oder nur vermeintlichen Vorbilder der Figuren wiedererkennen? Kann ein literarischer Text gleichzeitig zu wenig wahr sein, so dass diese Vorbilder durch Kunst diffamiert und verleumdet werden? Es wird ein Urteil darüber ergehen, ob die Kläger tatsächlich durch Literatur geschädigt werden können, also ob und in welcher Intensität Kunst die Realität zu bewegen vermag. Natürlich müssen konkrete Details zur Sprache kommen: Welche Übereinstimmungen gibt es zwischen den Figuren des Romans und den Klägern? Und wenn es Übereinstimmungen gibt: Ist Johann König spätestens nach Veröffentlichung seiner Autobiografie "Blinder Galerist" und Auftritten in TV-Talkshows eine Person des öffentlichen Lebens, die in Kauf nehmen muss, Gegenstand kritischer und verfremdeter Darstellung zu werden? Diese Art von Wahrheit interessiert ein Gericht. 

Doch was passiert, wenn diese praktikable Wahrheitsvorstellung der Justiz auf den weniger instrumentellen Wahrheitsbegriff der Literatur trifft? Die Richter sollten sich diese Entscheidung nicht zu leicht machen: Die Kunst ist schützenswert und durch die Verfassung geschützt, gerade weil sie dieses abstraktere Verhältnis zur Wahrheit hat. In ihr kann die Wirklichkeit neu erlebt werden. Schon Aristoteles hält in seiner Poetik fest, dass Dichter keine Geschichtsschreiber sind. Sie unterscheiden sich dadurch, "dass der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte." 

Literatur und Kunst allgemein stellt einen Raum zum Probehandeln zur Verfügung, ohne dass der Leser die Konsequenzen tragen muss. Der Leser kann erfahren, dass bestehende Normen gemacht und nicht gottgegeben sind, er kann an exemplarischen Figuren und ihrem Handeln nachvollziehen, wohin eine Verletzung der Verbote führt oder welche Kraft neue Gebote entwickeln könnten. Dadurch wird Literatur moralisch, ohne tatsächlich etwas vorzuschreiben. Nur durch die Annahme, dass Kunst eine eigene Sphäre bietet, kann ein Werk diese Gegenentwürfe zur Realität entwickeln. Nur weil die Literatur frei zugreifen kann auf Welterfahrung, kann sie zurückwirken auf die erfahrene Welt. 

Lösungen mit den Mittel der Literatur

Trotz dieser Freiheit behalten Dichter Verantwortung. Im Antrag auf einstweilige Verfügung heißt es: "Der Leser kann nicht erkennen, wo die Realität aufhört und die Fiktion beginnt." Christoph Peters beteuert hingegen, dass Johann König nicht das Vorbild für die Romanfigur gewesen sei. Aber hätte er nur seine Figuren etwas anders angelegt und stärker fiktionalisiert – schon hätte sich niemand gemeint gefühlt. Man könnte Peters unterstellen, wenn nicht vorsätzlich, so doch nachlässig die Freiheit der Kunst zu gefährden.

Wenn es zu einer Gerichtsverhandlung kommt, müssen die Richter die Kunst schützen und haben eine wohlüberlegte Entscheidung zu treffen: Möglicherweise gibt es einen Zwischenweg zwischen Verbot und Weitervertrieb des Romans? Im Streit um "Esra" hatte der Verlag Änderungsvorschläge gemacht. Wäre Christoph Peters dazu bereit? Würden sich die Richter wiederum darauf einlassen, könnte vielleicht sichtbar werden, mit wie wenigen Eingriffen die gleiche Geschichte erzählt werden könnte, ohne dass die Gefahr besteht, Recht zu brechen. Diese Lösung wäre durch eine Klage zwar von außen herbeigeführt, aber doch mit literatureigenen Mitteln vollzogen. Die Autonomie der Kunst bliebe gewahrt. Zu solch einem Lehrstück müssten die Richter sich mit komplexeren Wahrheits- und Fiktionsbegriffen vertraut machen. Die Auseinandersetzung damit wäre zäh. Doch am Ende könnten Recht und Literatur dadurch gewinnen.