Hat die Moderne in der Türkei doch noch eine Chance? Nach dem symbolträchtigen Wahlsieg Recep Tayyip Erdogans im 100. Jahr der Republikgründung schien das säkulare Lager am Boden zerstört. Alle Hoffnungen auf eine demokratische Zukunft schienen zunichte gemacht. In dieser Schockstarre kam die Neueröffnung des privaten Kunstmuseums Istanbul Modern am vergangenen Dienstag in Istanbul gerade recht. Die große Eröffnungsfeier an der Uferpromenade des hippen Stadtteils Karaköy geriet zum Lebenszeichen der Hälfte des Landes, die ihrem autoritären Dauerpotentaten in herzlicher Abneigung gegenüberstehen.
Grund zum Jubeln hat die türkische Kunstszene. Denn Architekt Renzo Piano hat mit dem Neubau des 2004 in einem heruntergekommenen Warenlager alten Istanbuler Hafen eröffneten Hauses für die Stadt am Bosporus wahrhaft ein landmark building geschaffen.
Zum Glück ist das neue Haus kein spektakuläres Renommierprojekt geworden, mit dem sich seine Betreiber, die Industriellenfamilie Eczacıbaşı, oder der Architekt ein Denkmal setzen wollten. Wie das alte Haus ist das neue Istanbul Modern ein moderates Rechteck geblieben.
Ein Gefühl von Transparenz, Zugänglichkeit und Helligkeit
Wo bislang ein klobiger Betonblock stand, den man wie auf einer Baustelle über eine Gitterrampe erklomm, steht aber nun ein luftiger, dreistöckiger, eleganter Bau, der sich mit großen Glasfronten dem gegenüberliegenden Tophane-Park und auf der anderen Seite dem Marmarameer öffnet. Am linken und rechten Ende wird der Kubus von schlanken, freistehenden Pfeilern gestützt.
Die Fassade des neuen Istanbul Modern besteht aus einer Abfolge von 3-D-geformten Aluminiumplatten, die im wechselnden Sonnenlicht eine schimmernde, irisierende Hülle bilden und an Fischschuppen erinnern. Der ganze Komplex strahlt ein Gefühl von Transparenz, Zugänglichkeit und Helligkeit aus. Und bildet den glücklichen Kontrast zu dem "Galataport" genannten Shopping-Mall-Komplex nach Dubaischem Vorbild, durch das das schöne, schäbige, von der Kunstwelt heiß geliebte "Antrepo"-Gelände zuvor ersetzt wurde. Vor ihm ankerte während der Eröffnungstage ein riesiges norwegisches Kreuzfahrtschiff.
Immerhin eine Extravaganz erlaubte sich Piano bei dem Haus: Eine einzigartige Aussichtsterrasse an der Spitze des Gebäudes schwebt über einem flachen Wasserbecken, das das gesamte Dach bedeckt und einen 360-Grad-Blick auf die Stadt und den Bosporus bietet.
"Wer Istanbul sagt, meint Wasser"
"Wer Istanbul sagt, meint Wasser. Überall ist es in dieser Stadt zu sehen", erklärte der mittlerweile 85-jährige Maestro im Pressegespräch am Dienstag seine Intention. "Ich wollte Istanbul und das Museum direkt mit dem Meer verbinden." Ein Auditorium, ein Restaurant und ein Kino, ein Museumsshop und zahlreiche Räume für die Vermittlungsarbeit komplettieren das Haus.
So wie Pianos Bau die industrielle Architektur des Vorgängerbaus und des Geländes aufnimmt, erinnert das Istanbul Modern nicht zufällig an das Centre Pompidou, das der Stararchitekt zusammen mit Richard Rogers 1977 an die Stelle der legendären Pariser Markthallen setzte. Es war der Eindruck dieses ikonischen Baus, der das Unternehmerehepaar Bülent und Oya Eczacıbaşı, Chefs des gleichnamigen türkischen Pharmakonzerns, zu Beginn der 2000er-Jahre bewog, in Istanbul ein ähnliches Haus zu bauen.
Als Nukleus diente eines der schäbigen "Antrepo"-Warenhäuser in in dem 2003 die 8. Istanbul-Biennale stattfand, die von der ebenfalls von dem Eczacıbaşı-Clan betriebenen, privaten Istanbul Stiftung für Kunst und Kultur (IKSV) ausgerichtet wird. Der Clou des 45-Millionen-Baus: Er ist garantiert erdbebensicher. Seine Betonwände sind mit riesigen, diagonalen Stahlstreben abgesichert, die sich durch das ganze Haus ziehen und deren gelenkartige Konstruktion, so behauptet es jedenfalls Piano, auch maximale Erdbebenstärken abpuffern können: Das Gebäude bleibt selbst dann stehen, wenn seine Mauern einstürzen.
Aufschlussreicher Parcours durch die türkische Gegenwartskunst
Auch inhaltlich hat sich das Haus nicht komplett neu erfunden. Die Dauerausstellung folgt wie bisher der Chronologie von 1945 bis heute. Mit dem Unterschied, dass sie so groß ist wie nie zuvor. Insgesamt 280 Werke von 110 Künstlerinnen und Künstler zeichnen den Weg der türkischen Gegenwartskunst nach.
Der spannende, aufschlussreiche Parcours beginnt mit dem Werk "Soyut Kompozisyon – Abstract Composition" des 1923 geborenen Malers Nejad Melih Devrim – dem ersten abstrakten Werk der türkischen Nachkriegskunst aus dem Jahr 1947. Für Besucher aus dem Westen weitgehend unbekannt dürften die Werke der "Homeland Tours" der 1950er- und 1960er-Jahre sein. Oft zeigen sie Berg- und Steppenlandschaften oder Bauern bei der Arbeit. Damals motivierte die Republikanische Volkspartei viele Kulturschaffende sich mit dem anatolischen Kernland der neuen Republik auseinanderzusetzen, statt immer nur die europäischen Malschulen zu imitieren. Hier fand die türkische Malerei zeitweilig zur Figuration zurück.
Die Ausstellung zeigt mit "The Headless Woman or The Belly Dance" der 1938 geborenen Künstlerin Nil Yalter als beeindruckendes Highlight die erste türkische Videoarbeit. Auf ihren eigenen, stetig kreisenden Bauch hat die Künstlerin einen orientalismuskritischen Text aufgetragen. Der Parcours endet mit Refik Anadols Arbeit "Infinity Room Bosphorus". In seiner ortsspezifischen Installation prozessiert der 1985 geborene Medienkünstler, der mit seiner mittels Künstlicher Intelligenz erzeugten Kunst gerade in den USA große Aufmerksamkeit auf sich zog, Echtzeit-Umweltdaten des Bosporus.
Ein großbürgerliches Elitenprojekt
Es hieße die Bedeutung eines privaten Kunstmuseums zu überschätzen, erklärte man es jetzt zum politischen Bedeutungsträger. Das Istanbul Modern war und ist ein großbürgerliches Elitenprojekt. Dennoch geht von seiner Neueröffnung ein unübersehbares Signal aus. Einerseits kompensieren Häuser wie das Istanbul Modern oder auch das Kunstmuseum Arter der Industriellenfamilie Koç im Stadtteil Dolapdere die fehlende staatliche Kunstpolitik. Das türkische Kulturministerium kümmert sich seit jeher um nicht viel mehr als um den Tourismus und die Pflege der historischen Ausgrabungsstätten in Kleinasien.
Ohne die Sammelleidenschaft von Bülent und Oya Eczacıbaşı wären viele Inkunabeln der modernen Kunst des Landes womöglich längst in alle Winde zerstreut. Ihr Mäzenatentum folgt Prestige- und Distinktionsbedürfnissen, hilft aber auch das kulturelle Erbe des Landes zu sichern.
Die türkische Kunstszene steht dieser Art Mäzenatentum zwar auch kritisch gegenüber. Das Gefühl in Sachen Kunst mangels kommunaler oder staatlicher Alternativen auf das Wohlwollen von Oligarchen angewiesen zu sein, deren Wirtschaftsgebaren ihrer kulturellen Großherzigkeit oft widersprechen, ist ihr unangenehm.
Keimzelle der liberalen Öffentlichkeit
Gleichwohl nimmt die Bedeutung der liberalen Hotspots, die diese vermögenden Familien mit ihren Initiativen und Häusern schaffen, in der Erdogan-Türkei nach der verlorenen Präsidentschaftswahl eher zu. Auch wenn die von der Opposition regierte Stadt Istanbul nun beginnt, einige soziokulturelle Zentren einzurichten. Museen wie das Istanbul Modern sind die Keimzellen der liberalen Öffentlichkeit, die das autoritäre Regime in Ankara mehr und mehr zu beschneiiden sucht.
In der AKP-Türkei, die aus der Istanbul-Konvention ausgetreten ist und regelmäßig Demonstrationen zum Weltfrauentag im März mit massiver Polizeigewalt unterbindet, lässt es sich zudem kaum anders denn als kalkuliertes Zeichen lesen, dass das Istanbul Modern mit "Always here" eine seiner fünf Eröffnungsausstellungen kritischen türkischen Gegenwartskünstlerinnen gewidmet hat.
Sie eröffnet programmatisch mit der aus recyceltem, besticktem Textil geschaffenen "Against The Current" der Künstlerin Güneş Terkol aus dem Jahr 2013, dem Jahr der Gezi-Proteste. Darauf ist eine Gruppe Frauen zu sehen, die mit Plakaten in der Hand für ihre Rechte protestieren. "Eines unserer wichtigsten Ziele ist es, die Arbeit von Künstlerinnen zu unterstützen und sichtbarer zu machen", erklärte demonstrativ Oya Eczacıbaşı, seit seiner Gründung Direktorin des Istanbul Modern. Auf ihr Geheiß schuf das Museum 2016 seinen "Istanbul Modern Women Artists Fund".
Trost in "Zeiten der Not"
Selbst Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu ließ es sich an dem ausgelassenen Abend nicht nehmen, sanft gegen die abwesenden Herrschenden zu sticheln. Der Staatspräsident hatte dem Bau schon ein paar Wochen zuvor einen sorgsam abgeschirmten Antrittsbesuch abgestattet. Wer in "Zeiten der Not" Trost und Stärkung suche, sagte İmamoğlu, der beliebte Politiker der oppositionellen CH-Partei des Staatsgründers Atatürk in seiner umjubelten Ansprache beziehungsreich, solle sich auf den Weg zur Kunst machen.
"Vielleicht wird das Böse in diesem Land durch Kunst und Kultur geheilt", schrieb eine türkische Designerin ergriffen nach dem abendlichen Eröffnungsbesuch auf ihrem Facebook-Account.
Ingo Arend berichtet von seinen Eindrücken auch auf Detektor Fm. Sie können das Gespräch mit Moderation Aileen Wrozyna hier hören: